JudikaturAUSL EGMR

Bsw44009/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
27. März 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Shtukaturov gegen Russland, Urteil vom 27.3.2008, Bsw. 44009/05.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 34 EMRK - Willkürlicher Entzug der Freiheit einer geisteskranken Person.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 5, Art. 6, Art. 8, Art. 13 und Art. 14 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 und Art. 14 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 34 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Der GH erachtet die Frage einer gerechten Entschädigung für noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. lebt in St. Petersburg. 2002 wurde bei ihm eine Geisteskrankheit festgestellt, die mehrere Behandlungen in Nervenkliniken notwendig machte.

Am 3.8.2004 stellte seine Mutter einen Antrag auf Entziehung der Geschäftsfähigkeit beim Vormundschaftsgericht. Der Bf. wurde von diesem Verfahren nie in Kenntnis gesetzt.

In der Folge gab der zuständige Einzelrichter ein psychiatrisches Gutachten über den Geisteszustand des Bf. in Auftrag. Die Experten der „Heilanstalt Nr. 6", die den Bf. bereits von einer im Juli 2004 erfolgten Einweisung kannten, kamen zu dem Schluss, er leide an Schizophrenie und könne seine Handlungen weder verstehen noch kontrollieren.

Am 28.12.2004 fand vor dem Vormundschaftsgericht eine Verhandlung in Abwesenheit des Bf., dem keine Vorladung zugegangen war, und der Mutter, die auf ein Erscheinen verzichtet hatte, statt. Der Fall wurde in Gegenwart des Bezirksanwalts und eines Vertreters der „Heilanstalt Nr. 6" in zehn Minuten verhandelt. Mit Urteil vom selben Tag wurde der Bf. für geschäftsunfähig erklärt und seine Mutter zum Vormund bestellt.

Der Bf. erfuhr davon erst durch Zufall im November 2005. Ein Antrag seines Anwalts auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, gemäß nationalem Recht sei der Bf. als handlungsunfähig anzusehen.

Am 4.11.2005 wurde der Bf. über Ersuchen seiner Mutter erneut in die „Heilanstalt Nr. 6" eingewiesen. Mehrere Anträge seines Anwalts, ihn besuchen zu dürfen, wurden vom Direktor mit dem Hinweis abgelehnt, der psychische Zustand des Bf. lasse dies nicht zu, außerdem sei er geschäftsunfähig und könne nur durch seine Mutter handeln. Mitte November 2005 gelang es dem Bf. schließlich, seinem Anwalt eine schriftliche Ermächtigung zur Einbringung einer Beschwerde an den EGMR zukommen zu lassen.

Beginnend mit Dezember 2005 wurde dem Bf. jeglicher Kontakt zur Außenwelt verwehrt. Laut seinen Angaben erhielt er antipsychotische Medikamente in hohen Dosen. Mehrere bei den Behörden eingereichte Anträge auf Entlassung bzw. Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Unterbringung blieben erfolglos.

Am 10.12.2005 reichte der Anwalt des Bf. Beschwerde beim EGMR ein. Anfang März 2006 erließ der GH eine einstweilige Empfehlung gemäß Art. 39 VerfO EGMR und teilte der russischen Regierung mit, es sei im Interesse eines reibungslosen Ablaufs des Verfahrens wünschenswert, dem Bf. und seinem Anwalt angemessene Zeit zur Vorbereitung des Falles einzuräumen und für regelmäßige Treffen zwischen beiden Sorge zu tragen. Ungeachtet dessen verbot der Anstaltsleiter dem Anwalt des Bf., diesem Besuche abzustatten, da die einstweilige Maßnahme nicht als bindend anzusehen sei. Letzterer erhob dagegen Einspruch beim Bezirksgericht Smolninskiy, welches das gegenständliche Verbot mit Urteil vom 28.3.2006 für rechtswidrig erklärte.

Am 6.4.2006 gab das Vormundschaftsgericht einem Antrag des Bf. statt, seinen Anwalt treffen zu dürfen. Die Entscheidung wurde vom St. Petersburger Stadtgericht in Entsprechung eines Rechtsmittels der Mutter bzw. der Heilanstalt mit der Begründung aufgehoben, die Beschwerde des Bf. sei direkt gegen den russischen Staat gerichtet, während besagte Empfehlung des GH sich an dessen Behörden wende, die nicht berechtigt wären, an Stelle des russischen Staates einstweilige Empfehlungen des GH zu befolgen.

Am 16.5.2006 hob das Stadtgericht St. Petersburg das Urteil des Bezirksgerichts Smolninskiy vom 28.3.2006 mit der Begründung auf, nach russischem Recht sei ein Anwalt nur berechtigt, für seinen Mandanten zu handeln, wenn beide eine entsprechende Vereinbarung getroffen hätten. Zum Abschluss einer solchen zwischen dem Anwalt des Bf. und dessen Mutter – jener Person, die für ihn vertretungsbefugt sei – wäre es jedoch nie gekommen. Am selben Tag wurde der Bf. aus der Heilanstalt entlassen. Wie es scheint, wurde er 2007 neuerlich in die Anstalt eingewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. bringt vor, die Entziehung seiner Geschäftsfähigkeit sei im Rahmen eines unfairen Verfahrens erfolgt.

Im vorliegenden Fall wurde der Bf. über den Antrag seiner Mutter auf Entziehung der Geschäftsfähigkeit zu keiner Zeit informiert. Der GH schließt daraus, dass der Bf. nicht in der Lage war, an dem Verfahren vor dem Vormundschaftsgericht in irgendeiner Form teilzunehmen. Der GH hat in Fällen betreffend die zwangsweise Anhaltung von geisteskranken Personen festgestellt, dass diese entweder persönlich oder durch einen Vertreter gehört werden müssen.

Das Ergebnis des Gerichtsverfahrens war von großer Bedeutung für den Bf., war davon doch seine persönliche Eigenständigkeit in beinahe allen Lebenslagen betroffen. Darüber hinaus bekleidete er eine Doppelrolle im Verfahren: er war zum einen interessierte Partei, zum anderen Teil Gegenstand der gerichtlichen Untersuchung. Seine Beteiligung am Verfahren war daher nicht nur zur Präsentation seines Falles unerlässlich, sondern auch notwendig, um dem Richter die Möglichkeit zu geben, sich eine eigene Meinung über den geistigen Zustand des Bf. zu verschaffen.

Der Bf. weist zwar eine „psychiatrische Krankengeschichte" auf, jedoch konnte er sich ungeachtet dessen eine gewisse Eigenständigkeit bewahren. In derartigen Fällen wäre es für den Einzelrichter unerlässlich gewesen, zumindest kurzen visuellen Kontakt mit ihm zu pflegen und – vorzugsweise – ihn zu befragen. Dessen Entscheidung, den Fall lediglich auf der Basis von Urkundenbeweisen zu beurteilen ohne den Bf. zu hören oder zu befragen, stellt eine Verletzung der Waffengleichheit dar.

Daran vermag auch die Anwesenheit eines Repräsentanten der Heilanstalt und des Bezirksanwalts nichts zu ändern. Ersterer handelte im Namen der Heilanstalt, die einen Bericht über den Geisteszustand des Bf. verfasst hatte und die im Urteil als „interessierte Partei" angeführt wird, bezüglich letzteren hat die Regierung keinerlei Erklärung hinsichtlich seiner Rolle im Verfahren geliefert. Aus dem Gerichtsprotokoll geht hervor, dass beide sich während der zehnminütigen Verhandlung passiv verhielten. Das gegen das Urteil des Vormundschaftsgerichts eingebrachte Rechtsmittel des Bf. wurde ungeprüft mit der Begründung zurückgewiesen, er sei geschäftsunfähig.

Das Verfahren vor dem Vormundschaftsgericht war somit nicht fair.

Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Laut dem Bf. stellt die Entziehung der Geschäftsfähigkeit einen

unrechtmäßigen Eingriff in seine Privatsphäre dar.

Die Entziehung der Geschäftsfähigkeit des Bf. hatte zur Folge, dass er in fast allen Lebensbereichen von seinem Vormund abhängig wurde. Dieser Eingriff konnte nur über Initiative seiner Mutter beseitigt werden, die sich jedoch allen Versuchen seitens des Bf. auf Widerruf ihrer Vormundschaft widersetzte.

Der GH hat bereits die einzelnen Punkte angeführt, warum das Verfahren vor dem Bezirksgericht mangelhaft war. Die Teilnahme des Bf. am gerichtlichen Entscheidungsprozess wurde praktisch auf Null reduziert. Der GH ist besonders bestürzt, dass die meritorische Prüfung seines Falls nur zehn Minuten dauerte.

Das Vormundschaftsgericht stützte sein Urteil ausschließlich auf die Schlussfolgerungen der psychiatrischen Experten, wonach der Bf. an Schizophrenie leide und außer Stande sei, seine Handlungen zu verstehen und zu kontrollieren. Eine nähere Erörterung, welche Handlungen darunter fielen, fehlte.

Der GH zweifelt nicht an der Kompetenz der Psychiater und akzeptiert, dass der Bf. ernsthaft krank ist. Die Existenz sogar einer schweren Geistesstörung darf jedoch niemals der einzige Grund für die volle Entziehung der Geschäftsfähigkeit sein. Es müssen besondere Umstände vorliegen, um eine derartige Maßnahme rechtfertigen zu können. Die vom Einzelrichter den Sachverständigen vorgegebenen Fragen bezogen sich jedoch nicht auf Ausmaß und Charakter des mentalen Gesundheitszustands des Bf. Daraus folgt, dass der Grad der Geschäftsunfähigkeit des Bf. in besagtem Gutachten nicht ausreichend bewertet wurde.

Es scheint auch, dass das russische Recht Richtern in derartigen Fällen keine Wahl lässt, da es lediglich zwischen „voller Geschäftsfähigkeit" und „voller Geschäftsunfähigkeit" unterscheidet, für Grenzfälle jedoch keine Vorsorge trifft. In dieser Hinsicht ist an die Empfehlung Nr. R (99) 4 des Ministerkomitees des Europarates vom 23.2.1999 über Grundsätze betreffend den rechtlichen Schutz von geschäftsunfähigen Personen zu erinnern, die einen gemeinsamen europäischen Standard in diesem Bereich definiert. Im Gegensatz zu den darin festgelegten Prinzipien sieht das russische Recht jedoch keine „maßgeschneiderte" Lösung für den Einzelfall vor. Der Eingriff in das Privatleben des Bf. war somit unverhältnismäßig gegenüber dem gesetzlich verfolgten Ziel des Schutzes der Interessen und der Gesundheit anderer. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK:

Der Bf. behauptet, seine Einweisung in die Heilanstalt und nachfolgende Unterbringung seien nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgt. Die Regierung bringt vor, die Anhaltung des Bf. in der Heilanstalt sei rechtmäßig gewesen. Gemäß §§ 28 und 29 Gesetz über psychiatrischen Beistand könne eine geisteskranke Person bei Vorliegen einer gerichtlichen Anordnung oder auf Ersuchen eines Arztes in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert werden. Das Gesetz unterscheide zwischen unfreiwilliger und freiwilliger Einweisung in eine Heilanstalt. Letztere Maßnahme erfordere keine gerichtliche Anordnung und könne vom amtlich bestellten Vormund genehmigt werden. Im vorliegenden Fall sei der Bf. auf Ersuchen seiner Mutter eingewiesen worden, da sich sein mentaler Zustand verschlechtert habe. Unter diesen Umständen habe keine Notwendigkeit der vorherigen Einholung einer gerichtlichen Genehmigung bestanden. Der GH kann sich der Ansicht der Regierung nicht anschließen. Zum einen ist daran zu erinnern, dass bei der Beurteilung, ob eine Freiheitsentziehung vorliegt oder nicht, stets auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abzustellen ist. Zum anderen ist neben dem faktischen Element der Einschränkung der Bewegungsfreiheit auch die subjektive Seite miteinzubeziehen: Eine Freiheitsentziehung liegt demnach immer dann vor, wenn der oder die Betroffene nicht in rechtlich einwandfreier Form in die Unterbringung eingewilligt hat. Was den objektiven Test anlangt, ist unbestritten, dass der Bf. für mehrere Monate in einer Anstalt festgehalten wurde, die er nicht verlassen durfte, und dass seine Kontakte mit der Außenwelt erheblich eingeschränkt wurden. Was die subjektive Seite anlangt, fehlte dem Bf. zwar tatsächlich von Rechts wegen die Fähigkeit, eigenständige Entscheidungen vornehmen zu können. Dies ist aber nicht dahingehend zu verstehen, dass er unfähig war, seine Situation zu begreifen. Sein Verhalten vom Zeitpunkt seiner Einweisung an lässt vielmehr auf das Gegenteil schließen.

Unter diesen Umständen kann der GH das Vorbringen der Regierung nicht akzeptieren, der Bf. habe in seine Unterbringung eingewilligt. Es liegt somit eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK vor. Der GH wird den vorliegenden Fall anhand der im Fall Winterwerp/NL entwickelten drei Mindestanforderungen für die Rechtmäßigkeit der Anhaltung von geisteskranken Personen prüfen: Demnach muss – mit der Ausnahme von Notfällen – von der zuständigen Behörde auf der Grundlage einer objektiven medizinischen Expertise in zuverlässiger Weise dargelegt worden sein, das betroffene Individuum leide an einer Geistesstörung, ferner muss diese einen bestimmten Grad aufweisen, um eine zwangsweise Einweisung rechtfertigen zu können und drittens hängt die Gültigkeit der weiteren Anhaltung von der Fortdauer der psychischen Störung ab.

Die Regierung hat das Vorbringen des Bf., der Entzug der Freiheit sei willkürlich erfolgt, da zum Zeitpunkt seiner Einweisung das Vorliegen einer Geisteskrankheit nicht ausreichend bescheinigt worden sei, weder kommentiert noch dargelegt, aus welchen Gründen seine Mutter eine Heilbehandlung für erforderlich hielt. Sie hat auch keine Akten über den mentalen Zustand des Bf. zum Zeitpunkt seiner Einweisung präsentiert. Es scheint, als ob die Entscheidung, ihn stationär aufzunehmen, lediglich aufgrund seines vom Vormundschaftsgericht zehn Monate zuvor festgestellten rechtlichen Status und seiner Krankengeschichte erfolgt wäre.

Die Regierung konnte somit nicht in überzeugender Weise darlegen, der Geisteszustand des Bf. hätte seine Unterbringung in einer Heilanstalt erforderlich gemacht. Seine Anhaltung zwischen dem 4.11.2005 und dem 16.5.2006 war somit nicht rechtmäßig iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK:

Der Bf. behauptet, er habe keine Möglichkeit gehabt, seine Entlassung im Wege der Anrufung der Gerichte beantragen zu können. Im vorliegenden Fall war die Anhaltung des Bf. zu keiner Zeit Gegenstand gerichtlicher Erörterung. Das russische Recht sieht offenbar keine automatische gerichtliche Überprüfung von Unterbringungen in psychiatrischen Anstalten vor. Dazu kommt, dass eine derartige Maßnahme nicht von Personen beantragt werden kann, denen die Geschäftsfähigkeit entzogen wurde. Dem Bf. wurde somit die Möglichkeit verwehrt, Rechtsbehelfe gegen seine fortgesetzte Anhaltung zu ergreifen.

Die Regierung bringt vor, der Bf. hätte ein derartiges Verfahren über seine Mutter in Anspruch nehmen können. Das dafür vorgesehene Rechtsmittel war ihm jedoch nicht unmittelbar zugänglich, da er in dieser Hinsicht vollkommen von seiner Mutter, die seine Unterbringung veranlasst und sich beharrlich einer Entlassung widersetzt hatte, abhängig war.

Der GH hat bereits betont, dass der Bf. sich nicht freiwillig in die Heilanstalt begab und dass die letzte gerichtlich angeordnete Überprüfung seines Geisteszustands zehn Monate zurücklag. Die fehlende Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Anhaltung des Bf. zog somit eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK nach sich (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

Der Bf. behauptet, die zwangsweise Verabreichung von Medikamenten stelle eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung dar. Laut dem Bf. wäre er mit Antipsychotika behandelt worden, die starke und unangenehme Nebenwirkungen gehabt hätten.

Der Bf. hat jedoch keinerlei Beweise dafür geliefert, dass er tatsächlich eine solche Medikamentation erhalten hat, auch ist nicht erwiesen, dass die fraglichen Nebenwirkungen wirklich eingetreten sind. Er behauptet auch nicht, dass sich sein Gesundheitszustand als Folge der Behandlung verschlechtert hätte. Dieser Teil der Beschwerde ist offensichtlich unbegründet und gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 6 und Art. 8 EMRK, da ihm kein Rechtsmittel zur Überprüfung seines Status als geschäftsunfähige Person zur Verfügung gestanden wäre. Dieser Beschwerdepunkt ist eng mit jenem unter Art. 6 und Art. 8 EMRK vorgebrachten verbunden und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Der GH hat im Zusammenhang mit der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Entziehung der Geschäftsfähigkeit unter Art. 8 EMRK die Tatsache berücksichtigt, dass diese Maßnahme auf unbestimmte Zeit angeordnet wurde und vom Bf. nicht selbständig angefochten werden konnte. Dieser Aspekt wurde bereits im Rahmen der Beurteilung der Fairness des Entmündigungsverfahrens geprüft. Unter diesen Umständen erachtet der GH eine gesonderte Prüfung unter Art. 13 EMRK nicht für erforderlich (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK:

Mit Rücksicht auf seine unter den Art. 5, 6 und 8 EMRK getätigten

Schlussfolgerungen hält der GH eine separate Prüfung des Art. 14 EMRK

für nicht notwendig (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 34 EMRK:

Der Bf. bringt vor, Russland sei seinen Verpflichtungen gemäß Art. 34 EMRK nicht nachgekommen, indem es ihn entgegen der nach Art. 39 VerfO EGMR ergangenen Empfehlung für längere Zeit daran gehindert habe, sich mit seinem Anwalt zu treffen.

1. Befolgung von Art. 34 EMRK vor Ergehen der einstweiligen Empfehlung:

Im vorliegenden Fall dauerte das Verbot der Kontaktaufnahme mit dem Anwalt von der Einweisung des Bf. am 4.11.2005 bis zu seiner Entlassung am 16.5.2006. Diese Einschränkungen machten es dem Bf. nahezu unmöglich, seinen beim GH anhängigen Fall wirksam zu verfolgen. Den Behörden konnte die Einbringung einer Menschenrechtsbeschwerde nicht verborgen bleiben. Die Einschränkung der Kontakte des Bf. mit der Außenwelt stellt somit einen Eingriff in Art. 34 EMRK dar.

2. Befolgung von Art. 34 EMRK nach Ergehen der einstweiligen Empfehlung:

Der GH ist bestürzt über die Nichtbefolgung der im März 2006 ergangenen einstweiligen Maßnahme seitens der Behörden. Die innerstaatlichen Gerichte vertraten die Ansicht, diese wäre an den russischen Staat als Ganzes gerichtet – und nicht an seine Organe. Sie kamen zu dem Schluss, das russische Recht erkenne die bindende Wirkung von vom GH empfohlenen einstweiligen Maßnahmen nicht an. Sie vertraten ferner die Ansicht, der Bf. könne ohne Einwilligung seiner Mutter nicht handeln. Sein Anwalt wurde weder als sein rechtmäßiger Vertreter nach nationalem Recht noch im Verfahren vor dem GH anerkannt.

Eine derartige Interpretation ist mit der Konvention nicht vereinbar. Dem russischen Rechtssystem mag es zwar an einem Mechanismus zur Umsetzung von unter Art. 39 VerfO EGMR empfohlenen einstweiligen Maßnahmen mangeln, dies befreit den belangten Staat jedoch nicht von seinen Verpflichtungen unter Art. 34 EMRK.

Was den Status des Anwalts anlangt, wäre es nicht Sache der nationalen Gerichte gewesen zu entscheiden, ob er als Vertreter des Bf. in Straßburg agieren könne oder nicht, hierfür reichte es aus, dass der GH ihn als solchen anerkannte.

Der GH erinnert an seine Rechtsprechung im Fall Aoulmi/F, wonach eine einstweilige Maßnahme insofern bindend ist, als ihre Nichtbefolgung zu einer Verletzung von Art. 34 EMRK führen kann. Für den GH macht es keinen Unterschied, ob es der Staat als Ganzes ist oder eines seiner Organe, die sich weigern, einer einstweiligen Empfehlung nachzukommen. Indem die Behörden sich weigerten, dem Bf. Kontakte mit seinem Anwalt zu ermöglichen, wurde dieser de facto an der Erhebung einer Beschwerde gehindert.

3. Ergebnis:

Russland hat in Bezug auf beide Punkte seine Verpflichtungen unter Art. 34 EMRK verletzt (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Der GH erachtet die Frage einer gerechten Entschädigung für noch

nicht entscheidungsreif (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Winterwerp/NL v. 24.10.1979, A/33; EuGRZ 1979, 650.

X./GB v. 5.11.1981, A/46; EuGRZ 1982, 101.

Mamatkulov und Askarov/TR v. 4.2.2005 (GK); NL 2005, 23; EuGRZ 2005,

357.

Storck/D v. 16.6.2005; NL 2005, 134.

Aoulmi/F v. 17.1.2006; NL 2006, 15.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.3.2008, Bsw. 44009/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 79) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_2/Shtukaturov.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise