JudikaturAUSL EGMR

Bsw11036/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. März 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Ladent gegen Polen, Urteil vom 18.3.2008, Bsw. 11036/03.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK, Art. 5 Abs. 2 EMRK, Art. 5 Abs. 3 EMRK - Verletzung essentieller Verfahrensgarantien des Art. 5 EMRK. Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 5 EMRK (einstimmig). Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 2 und Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,- für immateriellen Schaden, € 346,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist französischer Staatsbürger. 2001 heiratete er eine Polin und zog zu ihr nach Krakau. Am 21.3.2001 erhob eine Privatperson Privatanklage gegen ihn wegen obszöner Beleidigung. Das Krakauer Bezirksgericht leitete daraufhin ein Strafverfahren gegen ihn ein. Anfang Juli 2001 zog der Bf. mit seiner Frau nach Frankreich. Nach seiner Abreise wurden ihm seitens des Bezirksgerichts mehrere Vorladungen zugestellt, die unbeantwortet blieben.

Am 15.7.2002 stellte Letzteres einen Haftbefehl gegen den Bf. mit der Begründung aus, dass dieser über keinen festen Aufenthalt in Polen verfüge, weshalb ein reibungsloser Ablauf des Verfahrens nicht mehr gewährleistet und zudem zu befürchten sei, er werde versuchen, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen.

Ende 2002 urlaubte der Bf. mit seiner Frau und seinen minderjährigen Kindern in Krakau. Am 3.1.2003 fuhr die Familie zurück nach Frankreich. An der deutsch-polnischen Grenze wurde der Bf. aufgrund besagten Haftbefehls festgenommen und von der Grenzpolizei verhört. Seine Bitten um Beiziehung eines Dolmetschers bzw. Rechtsbeistands blieben erfolglos. Nach etwa zwei Stunden wurde der Bf. über seine Festnahme informiert, ohne ihm jedoch die Gründe dafür zu nennen. Man überstellte ihn in ein polizeiliches Anhaltezentrum. Am 9.1.2003 brachte eine von der Gattin des Bf. eingeschaltete Anwältin einen Haftentlassungsantrag ein. Sie brachte vor, der Bf. sei weder über das gegen ihn in Gang gesetzte Strafverfahren informiert noch sei ihm eine Anklageschrift zugestellt worden. Mit Beschluss vom 10.1.2003 hob das Bezirksgericht den Haftbefehl auf und ersetzte ihn durch ein Verbot, das Land zu verlassen. Ferner ordnete es den Einzug des Reisepasses des Bf. an. Eine Kopie der Haftentlassungsentscheidung wurde dem polizeilichen Anhaltezentrum übermittelt. In der Folge weigerte sich dieses, den Bf. freizulassen, da kein Original übermittelt worden wäre. Nach erfolgter Übermittlung wurde der Bf. am 13.1.2003 aus der Haft entlassen, gleichzeitig erhielt er Kopien der Anklageschrift sowie der Haftentlassungsentscheidung in französischer Übersetzung. Am 17.1.2003 hob das Bezirksgericht das über den Bf. verhängte Ausreiseverbot auf, nachdem seine Anwältin eine Garantieerklärung für sein Erscheinen vor Gericht abgegeben hatte. Er kehrte am 27.1.2003 mit seiner Familie nach Frankreich zurück.

Im Februar 2003 wandte sich ein Mitglied des Krakauer Stadtrats an den Präsidenten des Gerichts zweiter Instanz und ersuchte um Darlegung der Gründe für die Festnahme und Anhaltung des Bf. Am 28.2.2003 wurde der Stadtrat über das Untersuchungsergebnis informiert. Demnach sei dem Bezirksgericht der Vorwurf zu machen, von der rechtsirrigen Annahme ausgegangen zu sein, der Bf. habe versucht, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen. Letzterer sei vorher weder einvernommen noch sei ihm die Anklageschrift persönlich zugestellt worden, auch eine Aufklärung über seine Verpflichtungen als auf freiem Fuß befindlicher Beschuldigter sei nicht erfolgt. In der Folge wurden der Bf. und seine Frau über die Möglichkeit belehrt, Disziplinaranzeige bzw. Strafanzeige wegen Missbrauchs der Amtsgewalt gegen den Haftrichter einzubringen. Ferner könnten sie Schadenersatzklage bei den Zivilgerichten erheben.

Am 5.10.2004 sprach das Bezirksgericht den Bf. frei. Das Urteil erwuchs in Rechtskraft.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 5 Abs. 2 EMRK (Recht auf Information über die Gründe der Festnahme), Art. 5 Abs. 3 EMRK (Recht auf unverzügliche Vorführung vor einen Richter bzw. auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist), Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich des Freiheitsentzugs von 3.1. bis 10.1.2003:

Der Bf. bringt vor, die auf der Grundlage eines ungültigen Haftbefehls erfolgte Freiheitsentziehung sei unrechtmäßig gewesen.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung wendet ein, der Bf. könne mit Rücksicht auf das Eingeständnis seitens des Präsidenten des Gerichts zweiter Instanz bzw. die Tatsache, dass man ihn über die Möglichkeit eines Haftentschädigungsantrags belehrt habe, nicht mehr als Opfer einer Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK angesehen werden. Besagtes Eingeständnis war nicht direkt an den Bf. gerichtet und hatte folglich keine unmittelbaren Konsequenzen für ihn. Auch unter der Annahme, das Schreiben stelle eine Anerkennung der Unrechtmäßigkeit der erfolgten Freiheitsentziehung dar, ist die zweite Voraussetzung – Bereitstellung einer angemessenen Entschädigung – nicht erfüllt, da der Brief des Präsidenten darüber keine Auskunft gibt.

Was die Möglichkeit einer Haftentschädigung anlangt, hat die Regierung selbst eingeräumt, der Bf. habe alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft. Der Bf. kann daher nach wie vor behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein. Der Einwand der Regierung ist zurückzuweisen.

Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, ist er für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Der GH erinnert daran, dass das Bezirksgericht die von der Anwältin des Bf. vorgebrachten Gründe für eine Entlassung als zwingend ansah und die Haft durch die Anwendung gelinderer Mittel ersetzte. Es gestand damit implizit ein, dass der am 15.7.2002 ausgestellte Haftbefehl ungültig war.

Besonderer Relevanz kommt der Stellungnahme des Präsidenten des Gerichts zweiter Instanz zu, wonach das Bezirksgericht irrtümlich von der Annahme ausgegangen sei, der Bf. werde versuchen, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen. Darüber hinaus seien grundlegende Verfahrensvorschriften verletzt worden.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass das Bezirksgericht im Zuge der Erlassung des Haftbefehls einschlägige Bestimmungen der polnischen StPO unrichtig angewendet hat und dem Bf. die Freiheit nicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen wurde. Auch wenn dieser Umstand bereits eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 EMRK nach sich zieht, hält der GH es für angebracht zu prüfen, ob die Anhaltung des Bf. frei von Willkür war.

Im vorliegenden Fall wurde der Bf. nicht ordnungsgemäß über das Privatanklageverfahren informiert, darüber hinaus findet es der GH befremdlich, dass das Bezirksgericht aus der Tatsache, dass dieser über keinen ständigen Aufenthalt in Polen verfügte, den Schluss zog, er werde versuchen, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen. Ferner erfolgte der Haftbefehl wegen eines trivialen Privatanklagedelikts, nämlich obszöner Beleidigung, die mit Geldstrafe oder Freiheitsentziehung zur Leistung von gemeinnütziger Arbeit bestraft wird.

Zwar trifft es zu, dass die Gerichte befugt sind, eine derartige Maßnahme in Fällen von Delikten, die mit weniger als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht sind, zu verhängen, dies jedoch nur unter der Voraussetzung des Vorliegens zusätzlicher Umstände – wie etwa des Versuchs, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen. Wie bereits ausgeführt, war die diesbezügliche Annahme des Bezirksgerichts unbegründet. Dazu kommt, dass es auch nicht die Anwendung gelinderer Mittel in Erwägung zog. Der Haftbefehl konnte insofern nicht als verhältnismäßiges Mittel zur Gewährleistung des Ablaufs eines ordnungsgemäßen Verfahrens angesehen werden, ganz zu schweigen von dem geringfügigen Charakter des Vergehens, dessen der Bf. beschuldigt wurde.

Die Anhaltung des Bf. war somit nicht rechtmäßig. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK durch die verzögerte Haftentlassung:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK, da er ungeachtet des Beschlusses des Bezirksgerichts, ihn aus der Haft zu entlassen, drei weitere Tage angehalten wurde.

Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, ist er für zulässig zu erklären (einstimmig).

Am 10.1.2003 ordnete das Bezirksgericht die Freilassung des Bf. an. Das polizeiliche Anhaltezentrum weigerte sich jedoch, der Anordnung Folge zu leisten, da ihm nicht das Original der Entscheidung zugekommen sei.

Im vorliegenden Fall hätten die administrativen Formalitäten rund um die Entlassung des Bf. durchaus schneller abgewickelt werden können bzw. sollen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die überragende Bedeutung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit den Behörden eine Pflicht auferlegt, organisatorische Mängel, die zu einem ungerechtfertigten Entzug der Freiheit führen können, hintanzuhalten. Im Fall des Bf. wurden die administrativen Formalitäten hinsichtlich seiner Entlassung nicht auf das vom GH in seiner ständigen Rechtsprechung geforderte Mindestmaß beschränkt. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK:

Der Bf. bringt vor, er sei zu keiner Zeit in einer ihm verständlichen Sprache über die Gründe seiner Festnahme informiert worden. Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, ist er für zulässig zu erklären (einstimmig).

Im vorliegenden Fall wurde der Bf. über die Haftgründe und das ihm vorgeworfene Delikt lediglich in polnischer Sprache informiert, der er nicht mächtig ist. Er wusste daher zu keinem Zeitpunkt, aus welchem Grund ihm die Freiheit entzogen wurde. Die Regierung hat dieses Vorbringen weder bestritten noch Gründe für dieses Vorgehen angegeben. In seiner Entscheidung vom 10.1.2003 ordnete das Bezirksgericht die Übersetzung der Anklageschrift und anderer Dokumente ins Französische an, was dafür spricht, dass den Behörden bekannt war, der Bf. verstehe kein Polnisch.

Der Genannte wurde folglich nicht in möglichst kurzer Frist und in einer ihm verständlichen Sprache über die Gründe seiner Festnahme und über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen unterrichtet. Verletzung von Art. 5 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK:

Der Bf. beanstandet die fehlende gerichtliche Überprüfung seiner

Anhaltung.

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und somit für zulässig zu erklären (einstimmig).

Im vorliegenden Fall erließ das Bezirksgericht einen Haftbefehl gegen den Bf., ohne ihn zuvor gehört zu haben. Laut dem Haftbefehl wäre der Bf. im Zuge seiner Festnahme über sein Recht, diese anzufechten, zu informieren gewesen. Der GH hält fest, dass im Anschluss an die Festnahme des Bf. keine automatische Haftkontrolle erfolgte. Das polnische Recht scheint in Fällen, in denen ein Haftbefehl in Abwesenheit des Beschuldigten ergeht, keine automatische Haftkontrolle von Beginn an vorzusehen und macht dies offenbar von einer Antragstellung seitens des Festgenommenen abhängig. Art. 5 Abs. 3 EMRK lässt jedoch keine Ausnahmen zu, was das Erfordernis anlangt, eine Person unverzüglich einem Richter oder einem anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorzuführen.

Eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Anhaltung des Bf. wurde erst auf Antrag seiner Anwältin vorgenommen. Die Ansicht der Regierung, die Interessen des Bf. wären somit wahrgenommen worden, verkennt den klaren Wortlaut der Wendung „muss unverzüglich einem Richter vorgeführt werden". Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig). Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 8

EMRK:

Der Bf. legt dar, das Strafverfahren habe keinen Nachweis seiner Schuld erbracht.

Der Bf. wurde von der Anklage freigesprochen. Er hat auch nicht dargelegt, während des Strafverfahrens seien Maßnahmen oder Äußerungen erfolgt, die die Unschuldsvermutung verletzt hätten. Dieser Punkt wirft keine Fragen nach Art. 6 Abs. 2 EMRK auf. Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK, da die Freiheitsentziehung die Trennung von seiner Familie zur Folge hatte. Dieser Beschwerdepunkt ist eng mit jenen Fragen verknüpft, die bereits unter Art. 5 EMRK abgehandelt wurden. Der Bf. hat es verabsäumt zu präzisieren, inwieweit Art. 8 EMRK darüber hinaus verletzt sein könnte. Dieser Teil der Beschwerde ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 10.000,– für immateriellen Schaden, € 346,– für Kosten und Auslagen

(einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

K.-F./D v. 27.11.1997; EuGRZ 1998, 129.

Witold Litwa/PL v. 4.4.2000; NL 2000, 59.

Conka/B v. 5.2.2002; NL 2002, 22.

Ambruszkiewicz/PL v. 4.5.2006.

Saadi/GB v. 11.7.2006; NL 2006, 193.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.3.2008, Bsw. 11036/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 70) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_2/Ladent.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise