JudikaturAUSL EGMR

Bsw37452/02 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Oktober 2007

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Ernst Walter Stummer gegen Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 11.10.2007, Bsw. 37452/02.

Spruch

Art. 4 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Ausschluss Strafgefangener von der Pensionsversicherung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der 1938 geborene Bf. ist österreichischer Staatsbürger und lebt in Wien. Er verbrachte lange Phasen seines Lebens im Gefängnis. Am 8.2.1999 stellte er einen Antrag auf Frühpension bei der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter. Am 8.3.1999 lehnte die Pensionsversicherungsanstalt diesen Antrag ab. Mit Bezug auf § 236 ASVG stellte sie fest, dass der Bf. die benötigten 240 Versicherungsmonate nicht erreicht hätte.

Daraufhin brachte der Bf. beim Arbeits- und Sozialgericht Wien eine Klage gegen die Pensionsversicherungsanstalt ein. Er brachte vor, dass er 28 Jahre lang im Gefängnis gearbeitet hatte und die Anzahl der während dieser Zeit gearbeiteten Monate als Versicherungsmonate für den Zweck der Bemessung seines Pensionsanspruchs gezählt werden sollten.

Am 4.4.2001 wies das Arbeits- und Sozialgericht seine Klage ab. Es bestätigte, dass der Bf. die erforderliche Mindestanzahl an Versicherungsmonaten nicht erreicht hatte. Bezogen auf § 4 Abs. 2 ASVG stellte das Gericht fest, dass Gefangene, die während der Verbüßung ihrer Haftstrafe eine verpflichtende Arbeit leisten, nicht in das gesetzliche Sozialversicherungssystem fallen würden. Der Rechtsprechung des OGH zufolge würde sich ihre auf einer gesetzlichen Verpflichtung beruhende Arbeit von der auf einem Arbeitsvertrag beruhenden Tätigkeit unselbstständig Beschäftigter unterscheiden. Der Unterschied in der sozialrechtlichen Behandlung zeige keine Anzeichen einer Diskriminierung.

Die dagegen vom Bf. erhobene Berufung wurde am 24.10.2001 vom OLG Wien abgewiesen. Bei der Forderung des Klägers, Haftzeiten als Pensionszeiten anzurechnen, handle es sich um ein rechtspolitisches Anliegen, dass an den Gesetzgeber, nicht an die Gerichte zu richten sei. Diese gesetzlichen Bestimmungen seien aus verfassungsrechtlicher Sicht unbedenklich.

Am 12.2.2002 wies der OGH die dagegen erhobene Revision des Bf. ab. Am 29.1.2004 beendete der Bf. seinen letzten Gefängnisaufenthalt. Zwischen 30.1.2004 und 26.8.2004 bezog er Arbeitslosenunterstützung in Höhe von € 18,02 pro Tag. Derzeit empfängt er Notstandshilfe in Höhe von € 15,77 pro Tag.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 4 EMRK (hier: Verbot der Zwangsarbeit), Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) und Art. 1

1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Der Bf. bringt vor, dass die Ausnahme der Gefängnisarbeit aus dem Alterspensionssystem diskriminierend sei und ihn vom Bezug einer Pension ausschließe.

Die Regierung argumentiert, dass es beträchtliche Unterschiede zwischen Arbeit in regulären Arbeitsverhältnissen und Arbeit von Häftlingen gäbe. Erstens würden Personen, welche in Freiheit leben, freiwillig in einen Arbeitsvertrag eintreten, während Gefangene im Gegensatz dazu Arbeit aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung verrichten würden. Weiters zielten Personen in regulären Arbeitsverhältnissen in der Regel darauf ab, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während der Lebensunterhalt von Gefangenen von der Gefängnisbehörde zur Verfügung gestellt würde und ihre Arbeit eher den Zweck erfülle, sie sinnvoll zu beschäftigen und ihre Reintegration zu erleichtern. Daraus folge, dass der finanzielle Aspekt der Entlohnung im Falle der Gefängnisarbeit eine geringere Rolle spiele.

Angesichts dieser sachlichen Unterschiede wäre die Entscheidung des Gesetzgebers, die Gefängnisarbeit nicht in das gesetzliche Sozialversicherungssystem einzuschließen, nicht diskriminierend. Folglich würden keine Sozialversicherungsbeiträge für Gefängnisarbeit geschuldet und solche Zeiten nicht als Beitragszeiten zählen. Darüber hinaus sei zu bedenken, dass Gefangene nicht unbedingt genug verdienen würden, um volle Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. Von der Gemeinschaft versicherter Personen zu erwarten, dass sie Perioden, für welche keine bedeutsamen Beiträge geleistet wurden, als Beitragszeiten akzeptiere, würde darauf hinauslaufen, Häftlingen eine ungerechte Begünstigung einzuräumen.

Auch die Entscheidung, Perioden, während denen ein Gefangener gearbeitet hat, weder als Ersatzzeiten noch als neutrale Zeiten zu zählen, basiere auf sachlichen Gründen. Im Gefängnis verbrachte Zeiten würden nur dann als Ersatzzeiten angesehen, wenn der betroffenen Person nach dem Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz eine Entschädigung bewilligt wurde. Wenn Zeiten, die nach einem gesetzlichen Urteil im Gefängnis verbracht wurden, auf eine Ebene mit der Situation einer ungesetzlichen Haft gestellt würden, so wäre dies diskriminierend in dem Sinne, dass sachlich unterschiedliche Situationen gleich behandelt würden.

Darüber hinaus hätten Gefangene die Möglichkeit, freiwillig Beiträge nach § 17 ASVG einzuzahlen, wobei die wirtschaftlichen Umstände berücksichtigt werden könnten.

Auf jeden Fall besitze der Gesetzgeber ein beachtliches Ermessen bei der Organisation des Sozialversicherungssystems. Außerdem stünden ehemaligen Strafgefangenen andere Instrumente des Sozialstaates zur Verfügung.

Schließlich zeigte die Regierung auf, dass Fälle wie der vorliegende mit einer Haftzeit von insgesamt 28 Jahren sehr selten seien. Die Mehrheit der Gefangenen wäre in der Lage, eine ausreichende Anzahl an Versicherungsmonaten zu erreichen.

Der Bf. entgegnet, dass die von den innerstaatlichen Gerichten getroffene Unterscheidung zwischen freiwilliger Arbeit im Rahmen eines regulären Arbeitsvertrags und Gefangenenarbeit kein überzeugender Grund für eine unterschiedliche Behandlung im Sozialrecht sei. Erstens würden sich beide Situationen nicht sehr fundamental unterscheiden. In Wirklichkeit wäre auch die große Mehrheit der Menschen in Freiheit verpflichtet zu arbeiten; zwar nicht gesetzlich, aber durch die Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Arbeit, egal ob im Gefängnis oder in Freiheit, verfolge über den finanziellen Aspekt hinaus immer eine Vielzahl unterschiedlicher Zwecke, wie die Entwicklung von Beziehungen mit anderen oder das Erlangen von sozialem Status und Anerkennung. Zweitens würde sich die Art der von Strafgefangenen durchgeführten Arbeit nicht grundlegend von jener anderer Personen unterscheiden. Zusammenfassend argumentiert der Bf., dass arbeitende Häftlinge in einer ähnlichen Situation seien wie Personen, die in Freiheit arbeiten. Für ihren Ausschluss aus dem Sozialversicherungssystem im Allgemeinen und der Pensionsversicherung im Besonderen bedürfe es daher einer Rechtfertigung. Dem Argument der Regierung, dass die Anrechnung von Zeiten von Gefängnisarbeit, für welche es keine bedeutsamen Versicherungsbeiträge gibt, Gefangenen ein ungerechtfertigtes Privileg im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern, welche volle Sozialversicherungsbeiträge zahlen, gewähren würde, könne nicht gefolgt werden. Da der Staat den Ertrag der Arbeit der Gefangenen bekäme, könne in vernünftiger Weise erwartet werden, dass Sozialabgaben gezahlt würden.

Hinsichtlich der Möglichkeit für Strafgefangene, freiwillig Beiträge zum Pensionssystem zu zahlen, argumentiert der Bf., dass viele Gefangene nicht die Anforderungen des § 17 ASVG erfüllen würden, da sie keine zwölf Versicherungsmonate innerhalb der letzten 24 Kalendermonate vorweisen könnten. Zudem würden die Kosten der freiwilligen Versicherung gewöhnlich die finanziellen Mittel der Gefangenen übersteigen.

Der GH gelangt zu der Ansicht, dass die Beschwerde komplexe Sach- und Rechtsfragen aufwirft, die eine meritorische Erledigung erfordern. Da die Beschwerde somit weder offensichtlich unbegründet ist, noch ein sonstiger Unzulässigkeitsgrund vorliegt, ist sie für zulässig zu erklären (einstimmig).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 11.10.2007, Bsw. 37452/02, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 295) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut

(pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_6/Stummer.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise