JudikaturAUSL EGMR

Bsw32772/02 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. Oktober 2007

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VGT) gegen die Schweiz, Urteil vom 4.10.2007, Bsw. 32772/02.

Spruch

Art. 10 EMRK - Konventionskonforme Umsetzung von Urteilen des EGMR.

Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 10 EMRK (einstimmig).

Anwendbarkeit von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).

Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung  nach Art. 41 EMRK: Die Bf. stellten keinen Antrag auf Zuerkennung einer gerechten Entschädigung.

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist eine Tierschutzorganisation, die sich unter anderem gegen Tierversuche und die Käfighaltung von Tieren engagiert.

Als Reaktion auf eine Werbekampagne der Fleischindustrie ließ sie einen Fernsehspot produzieren, der auf die tierquälerische Nutztierhaltung aufmerksam machen und für eine Reduktion des Fleischkonsums werben sollte. Ein Antrag auf Ausstrahlung des Spots an die für Werbungen im öffentlichen Rundfunk zuständige Aktiengesellschaft für das Werbefernsehen (jetzt: Publisuisse SA) wurde am 24.1.1994 mit der Begründung abgewiesen, die Sendung könne in der geplanten Form nicht ausgestrahlt werden, da sie politischen Charakter habe. Eine im Instanzenweg erhobene verwaltungsrechtliche Beschwerde der Bf. wurde vom Bundesgericht unter Berufung auf Art. 18 Abs. 5 des Radio- und Fernsehgesetzes, der politische Werbung verbietet, am 20.8.1997 abgewiesen.

Die Bf. erhob daraufhin Beschwerde an den EGMR, der mit Urteil vom 28.6.2001 zu dem Ergebnis gelangte, dass die Verweigerung der Ausstrahlung des Fernsehspots die Bf. in ihrem von Art. 10 EMRK garantierten Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit verletzt habe (siehe die ausführliche Darstellung des Sachverhalts und des Urteils in NL 2001, 121).

In der Folge wandte sich die Bf. mit einem auf Art. 139a (ehemaliges) Bundesgerichtsgesetz (Anm.: Danach ist ein Antrag auf Urteilsberichtigung für den Fall einer vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung unter der Voraussetzung zulässig, dass er den einzig möglichen Weg einer Wiedergutmachung darstellt) (BGG) gestützten Antrag an das Bundesgericht und begehrte die Berichtigung seines Urteils aus dem Jahr 1997. Mit Schreiben vom 10.1. bzw. 15.2.2002 beantragten die Bundesabteilung für Umwelt, Energie, Verkehr und Kommunikation sowie die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft die Abweisung des Antrags.

Am 29.4.2002 erklärte das Bundesgericht den Antrag der Bf. für unzulässig, da sie entgegen Art. 140 BGG keine zufriedenstellende Erklärung dahingehend abgeliefert habe, in welcher Form die Abänderung des Urteils bzw. eine Wiedergutmachung erfolgen solle. Sie habe auch nicht ausreichend dargelegt, dass sie immer noch Interesse an einer Ausstrahlung des besagten Spots habe, der nach dem Verstreichen von fast acht Jahren ohnehin als überholt angesehen werden könne.

Am 25.7.2002 erhob die Bf. neuerlich Beschwerde an den EGMR, in der sie die Abweisung ihres Antrags auf Urteilsberichtigung beanstandete.

Im März 2003 wies das Bundesamt für Kommunikation ein Rechtsmittel der Bf. gegen die inzwischen erfolgte Weigerung der Publisuisse SA, den Fernsehspot zumindest in einer abgeänderten Form zu bringen, ab.

Am 22.7.2003 verabschiedete das Ministerkomitee, das weder von der Bf. noch von der schweizerischen Regierung von der Abweisung des Antrags auf Urteilsberichtigung informiert worden war, seine Resolution DH (2003) 125, mit der das ursprüngliche Beschwerdeverfahren zu einem Abschluss gebracht wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. behauptet, sie habe nicht die Möglichkeit gehabt, sich zum Vorbringen der Bundesabteilung für Umwelt, Energie, Verkehr und Kommunikation bzw. der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft zu äußern.

Der GH erinnert an seine ständige Rechtsprechung, wonach Art. 6 EMRK auf die gerichtliche Prüfung von Anträgen auf Aufhebung eines straf- oder zivilgerichtlichen Urteils keine Anwendung findet. Er sieht keinen Anlass, diesen Ansatz nicht auch auf Anträge anzuwenden, die sich auf eine in Straßburg festgestellte Konventionsverletzung gründen.

Dieser Beschwerdepunkt ist somit gemäß Art. 35 Abs. 3 iVm. Abs. 4 EMRK wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

1. Zur Frage der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs:

Die Regierung wendet ein, die Bf. hätte es verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug zu erschöpfen, da sie gegen die Entscheidungen des Bundesamts für Kommunikation bzw. der Publisuisse SA Verwaltungsbeschwerde bzw. Zivilklage hätte erheben können.

Die Bf. hat sich lediglich über das Verbot der Ausstrahlung des Fernsehspots in seiner ursprünglichen Version beklagt. Der GH fühlt sich daher nicht zu einer Beurteilung der Weigerung von Publisuisse SA, mit der Bf. einen Vertrag über die Ausstrahlung eines abgeänderten Fernsehspots abzuschließen, berufen.

Im vorliegenden Fall vertrat das Bundesgericht die Ansicht, der Antrag der Bf. auf Urteilsberichtigung sei nicht ausreichend substantiiert gewesen. Die Bf. habe ihr Anliegen weder begründet noch dargelegt, in welcher Art und Weise eine Berichtigung bzw. eine Wiedergutmachung vorgenommen werden könne.

Der GH räumt ein, dass der gegenständliche Antrag tatsächlich sehr kurz gefasst war und daher kaum den gesetzlichen Formvorschriften genügen konnte. Allerdings hat das Bundesgericht festgehalten, die Bf. habe nicht bescheinigt, noch an einer Ausstrahlung des ursprünglichen Fernsehspots Interesse zu haben. Da es damit, wenngleich auch nur kurz, eine Entscheidung in der Sache traf, kann dieser Beschwerdepunkt nicht für unzulässig erklärt werden. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig).

Die Regierung wendet die Unzulässigkeit der Beschwerde ratione materiae ein, da das Verfahren mit Resolution des Ministerkomitees zu einem endgültigen Abschluss gekommen sei.

Die Frage, ob es sich im vorliegenden Fall um einen neuen Eingriff in Art. 10 EMRK handelt, wirft komplexe Sach- und Rechtsfragen auf, die eine meritorische Behandlung erfordern. Der GH erklärt die Beschwerde daher für zulässig (einstimmig).

2. Zur Zuständigkeit ratione materiae:

Die vorliegende Beschwerde betrifft nicht den typischen Fall der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach Feststellung einer Verletzung von Art. 6 EMRK, sondern die Weigerung der Behörden, das Verbot der Ausstrahlung eines Fernsehspots zu widerrufen. Sie ist insofern mit dem Fall Hertel/CH vergleichbar, bei dem jedoch – anders als hier – das Ministerkomitee das Verfahren beendete, nachdem das Bundesgericht dem Wiederaufnahmeantrag des Bf. stattgegeben und die Einschränkung seiner Meinungsäußerungsfreiheit weitgehend zurückgenommen hatte.

Im Folgenden ist zu prüfen, ob dem Ansatz des GH in der zweiten ZE im Fall Hertel/CH, in dem er sich mit der Begründetheit der vom Bf. vorgebrachten Beschwerdepunkte inhaltlich auseinandersetzte und sie nicht wegen Unvereinbarkeit ratione materiae als unzulässig zurückwies, gefolgt werden kann.

Was die Verpflichtungen der Regierung unter Art. 46 EMRK anlangt, ist festzuhalten, dass sie die vom GH festgelegte Entschädigungssumme in Höhe von CHF 20.000,– an den Bf. überwiesen und das Urteil in den amtlichen Entscheidungssammlungen und im Internet veröffentlicht hat.

Zwar verpflichtet die Konvention ihre Mitgliedstaaten nicht zur Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens nach Feststellung einer Konventionsverletzung. Dennoch muss die Existenz eines derartigen Verfahrens als bedeutender Aspekt des Vollzugs der Urteile des EGMR gesehen werden. Sie reicht für sich allein jedoch nicht aus. Es ist unerlässlich, dass die nationalen Gerichte, in diesem Fall das Bundesgericht, die Konvention und die darauf fußende Rechtsprechung des EGMR unmittelbar anwenden.

Dies gilt umso mehr, als das Ministerkomitee in seiner Resolution ausdrücklich auf die Möglichkeit der Stellung eines Antrags auf Urteilsberichtigung beim Bundesgericht hingewiesen hat, ohne es allerdings für notwendig zu erachten, den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten. Es versteht sich von selbst, dass der bloße Verweis auf einen Rechtsbehelf, der ungeeignet ist, einer festgestellten Konventionsverletzung in effektiver Weise Abhilfe zu verschaffen, den Geschädigten seines Rechts auf möglichst schnelle Beseitigung von deren Folgen berauben würde.

Darüber hinaus geht aus einer grammatikalischen Interpretation des Art. 139a BGG hervor, dass eine Urteilsberichtigung lediglich ein Ersatzmittel darstellt, da ein dahingehender Antrag nur zulässig ist, wenn anderweitig keine Wiedergutmachung erfolgen kann.

In seinem Urteil vom 28.6.2001 sprach der GH der Bf. keinerlei Entschädigung für immateriellen Schaden zu. In Ermangelung eines entsprechenden Antrags der Bf. vertrat er auch nicht die Ansicht, dass die Feststellung einer Verletzung von Art. 10 EMRK eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden darstelle. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Bundesgericht in Art und Weise einer restitutio in integrum, der idealen Form der Wiedergutmachung im Völkerrecht, hätte folglich die Auswirkungen der Konventionsverletzung möglichst schnell beseitigt. Der GH erinnert daran, dass das Bundesgericht im Fall Hertel/CH das gegenüber dem Bf. ausgesprochene Verbot – nämlich in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu behaupten, in Mikrowellenherden zubereitete Speisen seien gesundheitsschädlich – widerrufen hat.

Mit Rücksicht auf das zuvor Gesagte muss die vorliegende Beschwerde als neue Frage eines möglichen Eingriffs in das Recht der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit gesehen werden, der vom Urteil des GH vom 28.6.2001 nicht berührt wird. Die Beschwerde unter Art. 10 EMRK kann daher nicht für unvereinbar ratione materiae mit der Konvention erklärt werden. Art. 10 EMRK ist somit anwendbar (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richterin Jaeger, gefolgt von Richter Borrego Borrego).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die Bf. beanstandet das nach wie vor gültige Verbot der Ausstrahlung ihres Fernsehspots ungeachtet einer bereits vom GH festgestellten Verletzung ihres Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit.

Es liegt unstrittig ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit vor. Der Frage, ob dieser auf einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage (hier: Art. 18 Abs. 5 des Radio- und Fernsehgesetzes) beruhte und ein legitimes Ziel verfolgte, braucht nicht nachgegangen zu werden, da die neuerliche und vom Bundesgericht bestätigte Verweigerung der Ausstrahlung des Fernsehspots sich aus folgenden Gründen als nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft erweist:

Im vorliegenden Fall wies das Bundesgericht den Antrag der Bf. auf Urteilsberichtigung mit der Begründung zurück, sie habe keine zufriedenstellende Erklärung dahingehend abgeliefert, in welcher Form die Abänderung des Urteils bzw. eine Wiedergutmachung erfolgen solle. Dieser Ansatz erscheint übertrieben formalistisch, berücksichtigt man den Umstand, dass der Antrag der Bf. nur die Ausstrahlung des in Frage stehenden Fernsehspots betreffen konnte, der mit Urteil des Bundesgerichts vom 20.8.1997 untersagt worden war.

Das Bundesgericht meinte ferner, die Bf. habe nicht ausreichend dargelegt, dass sie noch Interesse an einer Ausstrahlung des ursprünglichen Fernsehspots habe. Mit anderen Worten setzte es sich bei der Beurteilung dieser Frage, nämlich ob eine Ausstrahlung unter den gegebenen Umständen sinnvoll sei, an die Stelle der Bf. ohne eine Erklärung dahingehend abzuliefern, in welcher Weise sich die öffentliche Meinung über die Käfighaltung von Tieren seit 1994 geändert oder an Aktualität eingebüßt habe.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die vom Bundesgericht angeführten Gründe für seine Entscheidung weder ausreichend noch relevant waren, um den gegenständlichen Eingriff zu rechtfertigen. Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richterin Jaeger, gefolgt von Richter Borrego Borrego).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Bf. stellten keinen Antrag auf Zuerkennung einer gerechten Entschädigung.

Vom GH zitierte Judikatur:

Hertel/CH v. 25.8.1998, NL 1998, 148; ÖJZ 1999, 614.

Hertel/CH v. 17.1.2002 (ZE).

Verein gegen Tierfabriken (VGT)/CH  v. 28.6.2001, NL 2001, 121; ÖJZ 2002, 855.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.10.2007, Bsw. 32772/02, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 249) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_5/VGT.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise