Bsw74613/01 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Jorgic gegen Deutschland, Urteil vom 12.7.2007, Bsw. 74613/01.
Spruch
Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 7 EMRK - Jurisdiktion für Strafverfolgung von Völkermord.
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK (einstimmig). Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK (einstimmig). Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Beim Bf. handelt es sich um einen bosnischen Serben, der von 1969 bis zu seiner 1992 erfolgten Rückkehr nach Bosnien in Deutschland lebte. Am 16.12.1995 wurde er bei seiner Einreise nach Deutschland wegen des Verdachts des Völkermords festgenommen.
Am 28.2.1997 wurde vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf das Verfahren gegen den Bf. eröffnet. Er war angeklagt, zwischen Mai und September 1992 in der Region Doboj Straftaten begangen zu haben, die als Völkermord zu qualifizieren seien. Das Oberlandesgericht ließ im Wege der Amtshilfe sechs von der Anklage namhaft gemachte Zeugen in Bosnien befragen. Ein Antrag des Bf. auf Einvernahme weiterer Zeugen im Ausland wurde vom Gericht nach § 244 Abs. 5 StPO abgelehnt, weil sie angesichts der bereits aufgenommenen Beweise nicht zur Wahrheitsfindung beitragen könne. Auch ein Beweisantrag auf Durchführung eines Augenscheins im bosnischen Dorf Grabska oder die Erstellung einer topographischen Karte des Tatorts wurde abgelehnt, weil es sich um unerreichbare Beweismittel handelte. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte den Bf. am 26.9.1997 wegen Völkermords nach § 220a StGB in elf Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Mord an insgesamt 30 Personen sowie in mehreren Fällen in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Das Gericht verhängte eine lebenslange Freiheitsstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Es sah es als erwiesen an, dass sich der Bf. an ethnischen Säuberungen in der Region Doboj beteiligt hatte. Seine Jurisdiktion stützte das Oberlandesgericht auf § 6 Abs. 1 StGB. (Anm.: Gemäß § 6 Abs. 1 StGB in der bis zum Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuches am 30.6.2002 gültigen Fassung galt für im Ausland begangenen Völkermord (§ 220a StGB) unabhängig vom Recht des Tatorts das deutsche Strafrecht.) Das Oberlandesgericht erachtete den Tatbestand des § 220a StGB als verwirklicht, weil der Bf. in der Absicht gehandelt habe, die Gruppe der Muslime in der Region Doboj zu zerstören. „Zerstörung einer Gruppe" iSv. § 220a StGB bedeute die „Zerstörung der Gruppe als sozialer Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart und ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl", eine Absicht der physisch-biologischen Vernichtung sei nicht erforderlich.
Aufgrund der vom Bf. eingelegten Revision änderte der BGH das Urteil dahin ab, dass der Bf. wegen Völkermords in Tateinheit mit Mord in dreißig Fällen verurteilt wurde. Der Strafausspruch des erstinstanzlichen Urteils blieb unberührt.
Eine vom Bf. erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG am 12.12.2000 nicht zur Entscheidung angenommen. Das BVerfG sah in der Annahme der Geltung deutschen Rechts für die Verfolgung von Völkermord keinen Verstoß gegen das Grundgesetz. Die Völkermordkonvention räume den Vertragsstaaten eine Befugnis zur Strafverfolgung ein. Nach Ansicht des BVerfG hielt sich auch die Auslegung des Absichtsbegriffs in § 220a StGB durch das Oberlandesgericht und den BGH im Rahmen der möglichen Interpretation des völkerrechtlichen Völkermordtatbestands und war somit vorhersehbar.
Das Oberlandesgericht Düsseldorf erklärte am 21.6.2004 die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den Bf. hinsichtlich der Ermordung von 22 Einwohnern des Dorfes Grabska für zulässig, nachdem gegen den einzigen Augenzeugen der Verdacht des Meineids aufgekommen war. Da die im Falle einer neuerlichen Verurteilung wegen dieses Delikts zu erwartende Strafe angesichts der bereits rechtskräftigen Verurteilung wegen Völkermords nicht beträchtlich ins Gewicht fallen würde, wurde das Verfahren hinsichtlich dieser Tat eingestellt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK (Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht), Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf ein Verfahren vor einem auf Gesetz beruhenden Gericht), Art. 6 Abs. 3 EMRK (Verteidigungsrechte) und von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. a und Art. 6 Abs. 1
EMRK:
Der Bf. bringt vor, seine Verurteilung wegen Völkermords und seine darauf beruhende Haft hätten eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. a und Art. 6 Abs. 1 EMRK begründet, weil die deutschen Gerichte in seinem Fall keine Jurisdiktion gehabt hätten. Nach der allgemeinen völkerrechtlichen Regel des Interventionsverbots sei es den deutschen Gerichten grundsätzlich untersagt, einen im Ausland lebenden Fremden wegen des Vorwurfs des im Ausland begangenen Völkermords an Opfern, die ebenfalls Fremde wären, zu verfolgen.
Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Nach Ansicht des GH ist in dem Fall in erster Linie unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu prüfen, ob das Verfahren gegen den Bf. vor einem auf Gesetz beruhenden Gericht geführt wurde. Der Ausdruck „Gesetz" iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst in erster Linie die Regelungen über die Kompetenz der Rechtsprechungsorgane. Ist ein Gericht nach den innerstaatlichen Regeln nicht zur Verurteilung eines Angeklagten zuständig, so handelt es sich nicht um ein auf Gesetz beruhendes Gericht iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK.
Da ein Verstoß gegen die innerstaatlichen Normen über die gerichtliche Zuständigkeit grundsätzlich eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK nach sich zieht, muss der GH prüfen, ob das innerstaatliche Recht in dieser Hinsicht beachtet wurde. Weil es aber in erster Linie Sache der nationalen Gerichte ist, das innerstaatliche Recht zu interpretieren, kann der GH diese Auslegung nicht in Frage stellen, solange keine offenkundige Verletzung des innerstaatlichen Rechts stattgefunden hat.
Die deutschen Gerichte stützten ihre Jurisdiktion auf § 6 Abs. 1 iVm.
§ 220a StGB. Nach diesen Bestimmungen waren die deutschen Gerichte unabhängig von der Nationalität des Angeklagten und der Opfer zur Aburteilung von Personen zuständig, die des im Ausland begangenen Völkermords angeklagt waren. Die innerstaatlichen Gerichte stützten ihre Jurisdiktion somit auf den klaren Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen des StGB.
Der GH muss weiters prüfen, ob diese Entscheidung der deutschen Gerichte über ihre Jurisdiktion mit dem Völkerrecht vereinbar war. Nach Ansicht der innerstaatlichen Gerichte beruhte ihre Jurisdiktion auf dem in § 6 StGB kodifizierten völkerrechtlichen Weltstrafrechtsprinzip. Ihrer Zuständigkeit stünde auch Art. VI der Völkermordkonvention nicht entgegen, da dieser zwar bestimmten Gerichten eine Pflicht zur Verfolgung auferlege, anderen staatlichen Gerichten aber die Strafverfolgung von des Völkermords verdächtigen Personen nicht verbiete. (Anm.: Art. VI der Völkermordkonvention lautet: „Personen, denen Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III angeführten Handlungen zur Last gelegt wird, werden vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt, das für jene vertragschließenden Parteien zuständig ist, die seine Gerichtsbarkeit anerkannt haben.")
Bei der Entscheidung, ob die Auslegung der anwendbaren Regeln des Völkerrechts durch die deutschen Gerichte angemessen war, muss der GH insbesondere ihre Interpretation von Art. VI Völkermordkonvention prüfen. Die Vertragsparteien dieser Konvention haben das Weltstrafrechtsprinzip in diesem Artikel nicht kodifiziert. Nach Art. I Völkermordkonvention besteht jedoch eine erga omnes Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Verhinderung und Verfolgung von Völkermord, dessen Verbot als jus cogens gilt. Angesichts dessen ist die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte, der Zweck der Völkermordkonvention, wie er insbesondere in Art. VI zum Ausdruck käme, schließe die Jurisdiktion für die Bestrafung von Völkermord durch Staaten nicht aus, deren Gesetze in dieser Hinsicht eine Extraterritorialität vorsehen, als angemessen – und überzeugend – anzusehen. Diese Auslegung von Art. VI Völkermordkonvention wird durch die gesetzlichen Regelungen und die Rechtsprechung zahlreicher anderer Mitgliedstaaten der EMRK sowie durch das Statut und die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) bestätigt.
Die Interpretation der anwendbaren völkerrechtlichen Regeln, in deren Licht die innerstaatlichen Bestimmungen auszulegen waren, durch die deutschen Gerichte war somit nicht willkürlich. Die Gerichte hatten sachliche Gründe für die Begründung ihrer Zuständigkeit zur Aburteilung des Bf. Da der Fall des Bf. somit vor einem auf Gesetz beruhenden Gericht verhandelt wurde, liegt keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).
Angesichts dieser Feststellung gelangt der GH zu dem Schluss, dass der Bf. nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht rechtmäßig angehalten wurde und daher keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK vorliegt (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 iVm. Abs. 3 lit. d EMRK:
Der Bf. bringt vor, die Weigerung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, Entlastungszeugen im Ausland befragen zu lassen und einen Augenschein am mutmaßlichen Tatort durchzuführen, begründe eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 iVm. Abs. 3 lit. d EMRK.
Im Allgemeinen obliegt es den innerstaatlichen Gerichten, die Beweise zu würdigen und die Relevanz von Beweisen, die der Angeklagte erbringen möchte, zu beurteilen. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK überlässt insbesondere die Entscheidung, ob die Ladung bestimmter Zeugen angemessen ist, grundsätzlich diesen Gerichten. Es ist jedoch Sache des GH sich zu vergewissern, ob die Aufnahme und Bewertung der Beweise gegen das Prinzip der Waffengleichheit verstoßen hat und damit das gesamte Verfahren unfair war.
Wie der GH festhält, ist § 244 StPO auf alle Beweisanträge anwendbar, egal ob sie vom Ankläger oder von der Verteidigung eingebracht wurden. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Straftat außerhalb Deutschlands begangen wurde und in der Regel eine Beweiserhebung im Ausland erforderlich ist, begünstigt die Anwendung dieser Bestimmung daher im Allgemeinen nicht die Beweisanträge der Anklage. Zwar kann nach § 244 Abs. 5 StPO ein Beweisantrag auf Einvernahme von Zeugen unter weniger strengen Voraussetzungen abgelehnt werden, wenn die Ladung des Zeugen im Ausland zu bewirken wäre, doch werden solche Zeugen nicht automatisch als unerreichbare Beweismittel behandelt.
Das Oberlandesgericht ließ im Ausland sechs Zeugen der Anklage vorladen, verweigerte jedoch die Ladung der vom Bf. beantragten Zeugen. Dies rechtfertigt jedoch für sich nicht die Schlussfolgerung einer Verletzung der Waffengleichheit oder des Rechts des Bf., die Ladung von Entlastungszeugen zu erwirken. Das Oberlandesgericht, das den Antrag auf Befragung weiterer Zeugen mit einer detaillierten Begründung abwies, da diese wenig zur Wahrheitsfindung beitragen würde, hatte bereits mehr als 20 Zeugen gehört. Der GH kann nicht feststellen, dass die innerstaatlichen Gerichte willkürlich gehandelt haben, als sie den Beweisantrag des Bf. ablehnten. Es liegen daher keine Anzeichen dafür vor, dass das Verfahren insgesamt betrachtet unfair gewesen wäre.
Was die Weigerung des Gerichts, einen Augenschein vorzunehmen oder eine topographische Karte des Tatorts erstellen zu lassen betrifft, stellt der GH fest, dass die Entscheidung, warum diese Beweise unerreichbar waren, angemessen begründet wurde. Der GH sieht keine Anzeichen dafür, dass diese Weigerung, weitere Beweise aufzunehmen, gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verstoßen hätte.
Soweit sich die Beschwerde auf Art. 6 Abs. 1 iVm. Abs. 3 lit. d EMRK stützt, muss sie daher als offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK für unzulässig erklärt werden (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:
Der Bf. behauptet, die weite Auslegung des Tatbestands des Völkermords entbehre einer Grundlage im Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen des deutschen Rechts und des Völkerrechts. Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Art. 7 EMRK verkörpert den Grundsatz, dass nur das Gesetz ein Verbrechen definieren und eine Strafe vorschreiben kann, sowie das Verbot einer extensiven Auslegung des Strafrechts zum Nachteil des Angeklagten. Dem Erfordernis der eindeutigen gesetzlichen Definition einer Straftat ist entsprochen, wenn der Einzelne aus dem Wortlaut der Bestimmung erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen. Wie eindeutig eine Bestimmung auch formuliert sein mag, gibt es auch im Strafrecht doch ein unvermeidbares Element gerichtlicher Interpretation. Art. 7 EMRK schließt die schrittweise Klarstellung der Regeln strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung im Einzelfall nicht aus, solange die daraus resultierende Fortentwicklung des Rechts mit dem Wesensgehalt des Straftatbestands übereinstimmt und vorhergesehen werden konnte.
Der GH muss daher entscheiden, ob die Auslegung der im Tatbestand des Völkermordes nach § 220a StGB enthaltenen „Absicht zu zerstören" durch die innerstaatlichen Gerichte mit dem Wesensgehalt dieses Tatbestands übereinstimmte und vom Bf. vorhergesehen werden konnte. Ihrer Ansicht nach erforderte § 220a keine Absicht, eine Gruppe im physisch-biologischen Sinne zu vernichten. Es wurde als ausreichend angesehen, wenn der Angreifer auf die Zerstörung der betroffenen Gruppe als sozialer Einheit abzielte. Nach Ansicht des GH war diese Auslegung vom Wortlaut des § 220a StGB gedeckt und erscheint daher nicht unangemessen.
Zur Bestimmung des Wesensgehalts des Völkermords muss auch die Kodifikation des Verbots dieses Verbrechens in Art. II der Völkermordkonvention herangezogen werden, zu deren Umsetzung § 220a StGB geschaffen wurde. Da der Wortlaut von § 220a StGB in Hinblick auf die Definition von Völkermord jenem von Art. II Völkermordkonvention entspricht, gilt die Begründung hinsichtlich des Umfangs des Verbots des Völkermords auch in dieser Hinsicht. Überdies entsprach die Auslegung durch die deutschen Gerichte auch der Ansicht der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Die Handlungen des Bf., die er im Zuge der ethnischen Säuberungen in der Region Doboj in der Absicht setzte, die Gruppe der Muslime als soziale Einheit zu zerstören, konnten daher als in den Anwendungsbereich des Tatbestands des Völkermords fallend angesehen werden.
Bezüglich der Vorhersehbarkeit dieser Auslegung des Tatbestands des Völkermords für den Bf. stellt der GH fest, dass der Bf. die erste Person ist, die seit der 1955 erfolgten Einführung des § 220a StGB in Deutschland wegen Völkermord verurteilt wurde. Anders als in Fällen einer Änderung der Rechtsprechung muss unter diesen Umständen eine Auslegung des Tatbestands, die wie im vorliegenden Fall seinem Wesensgehalt entsprach, in der Regel als vorhersehbar angesehen werden. Der GH schließt aber trotzdem nicht aus, dass sich ein Bf. ausnahmsweise unter besonderen Umständen auf eine bestimmte Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte verlassen konnte. Es ist daher im vorliegenden Fall, der die Auslegung einer aus dem Völkerrecht stammenden Norm betrifft, erforderlich zu prüfen, ob besondere Umstände vorlagen, aufgrund derer sich der Bf. auf eine engere Auslegung des Tatbestands des Völkermords verlassen konnte. Der Anwendungsbereich von Art. II Völkermordkonvention, auf dem § 220a StGB beruht, war zur Zeit des Verfahrens gegen den Bf. hinsichtlich der Definition der „Absicht zu zerstören" in der Wissenschaft umstritten. Dieses Tatbestandselement wurde auch durch verschiedene internationale Organe unterschiedlich ausgelegt. So widersprach das ICTY in dieser Hinsicht der Ansicht der Generalversammlung der Vereinten Nationen und der deutschen Gerichte. Da diese Urteile des ICTY jedoch erst nach Begehung der Straftaten des Bf. ergingen, konnte er nicht von einer solchen Auslegung durch die deutschen Gerichte ausgehen.
Somit hatten zur Zeit der Tatbegehung bereits mehrere Organe den Tatbestand des Völkermords in der gleichen, weiten Weise ausgelegt wie die deutschen Gerichte. Der Bf. hätte daher, gegebenenfalls mit anwaltlicher Unterstützung, vorhersehen können, dass ihm wegen seiner 1992 begangenen Taten eine Anklage und Verurteilung wegen Völkermord drohte. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass der Bf. wegen besonders schwerwiegender Taten verurteilt wurde, nämlich der Tötung mehrerer Personen sowie der mehrere Monate dauernden Freiheitsberaubung und Misshandlung weiterer Personen. Die Auslegung des Tatbestands des Völkermords durch die innerstaatlichen Gerichte stimmte somit mit dem Wesensgehalt dieses Delikts überein und konnte vom Bf. vorhergesehen werden. Seine Verurteilung wegen Völkermord begründete daher keine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Vidal/B v. 22.4.1992, A/235-B, NL 1992/3, 15; EuGRZ 1992, 440; ÖJZ
1992, 801.
S. W./GB v. 22.11.1995, A/335-B, NL 1995, 223; ÖJZ 1995, 356. Coeme u.a./B v. 22.6.2000.
Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ
2001, 210; ÖJZ 2002, 274.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.7.2007, Bsw. 74613/01, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 184) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/07_4/Jorgic.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.