JudikaturAUSL EGMR

Bsw37464/02 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
22. Februar 2007

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Standard Verlagsgesellschaft mbH (Nr. 2) gegen Österreich, Urteil vom 22.2.2007, Bsw. 37464/02.

Spruch

Art. 10 EMRK, § 33 MedienG - Verzerrte Wiedergabe eines Gutachtens. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das Land Kärnten ist Mehrheitseigentümer der Kärntner Elektrizitäts-Aktiengesellschaft (KELAG). In der für 9.7.1999 anberaumten Hauptversammlung sollte der Aufsichtsrat abberufen und neu gewählt werden. Zunächst wurde ein Amtsvortrag für die Kärntner Landesregierung vorbereitet, wonach diese vier Personen für die Wahl in den Aufsichtsrat nominieren sollte. Diese Vorgangsweise wurde jedoch nicht eingehalten, nachdem der Landesfinanzreferent ein Gutachten erhalten hatte, dem zufolge das Land Kärnten kein Recht habe, Mitglieder des Aufsichtsrats zu nominieren. Der Vertreter des Landes könne lediglich Wahlvorschläge erstatten und in der Hauptversammlung das Wahlrecht ausüben, wofür es keines vorherigen Kollegialbeschlusses der Landesregierung bedürfe.

Daraufhin fertigte der Landesfinanzreferent eine schriftliche Vollmacht für Landeshauptmann Haider aus, die diesen ermächtigte, das Land Kärnten in der Hauptversammlung zu vertreten. Mit diesem Mandat ausgestattet, übte Haider das Wahlrecht aus, ohne zuvor einen Kollegialbeschluss der Landesregierung eingeholt zu haben. Am 14.7.1999 erstattete ein von der SPÖ beauftragter Professor der Universität Graz ein weiteres Gutachten über die Bestellung des Aufsichtsrats der KELAG. Dieses kam zu dem Ergebnis, dass die Wahl durch den Landeshauptmann ohne vorhergehendem Kollegialbeschluss der Landesregierung gegen Bundes- und Landesverfassungsrecht und gegen die Geschäftsordnung der Landesregierung verstoße. Der Gutachter wies außerdem auf die Möglichkeit einer Ministeranklage gegen Mitglieder der Landesregierung hin.

Am 16.7.1999 berichtete die Zeitung „Der Standard", deren Medieninhaberin die Bf. ist, über die Angelegenheit. Unter der Überschrift „Haider hat Verfassung gebrochen" wurde dem Landeshauptmann unter Berufung auf das Gutachten vorgeworfen, bei der Bestellung der KELAG-Aufsichtsräte einen „Rechtsbruch" begangen zu haben und behauptet, „sein Umgang mit der Geschäftsordnung der Landesregierung sei rechts-, gesetzes- und verfassungswidrig." Als Erschwerungsgrund führe das Gutachten an, „dass Haider das Kollegium der Landesregierung bewusst irregeführt sowie die Landesverfassung und die daraus abgeleitete Geschäftsordnung der Landesregierung ignoriert hat."

Jörg Haider beantragte die Einziehung der Zeitung nach § 33 MedienG. Das LG St. Pölten erachtete den Tatbestand der üblen Nachrede als verwirklicht und ordnete am 12.12.2000 die Schwärzung der inkriminierten Textpassagen in den noch zur Verbreitung bestimmten Exemplaren sowie die Urteilsveröffentlichung an. Das LG qualifizierte den Vorwurf, Haider habe die Verfassung gebrochen, als Tatsachenbehauptung, für die ein Wahrheitsbeweis durch die Bf. nicht erbracht worden sei.

Die dagegen erhobene Berufung wurde vom OLG Wien am 3.12.2001 abgewiesen. Das OLG stellte fest, dass es sich bei dem zitierten Gutachten um eine zulässige juristische Bewertung eines unbestrittenen Sachverhalts handle. Der Artikel habe sich jedoch nicht auf eine neutrale Zitierung des Gutachtens beschränkt, sondern dieses für einen eigenständigen Angriff gegen Jörg Haider benützt. Außerdem sei die Behauptung, Haider habe die Landesregierung „bewusst irregeführt", von dem Gutachten nicht gedeckt.

Aufgrund einer Klage nach § 1330 ABGB verurteilte das Handelsgericht Wien die Bf. am 19.6.2002 dazu, die Behauptung zu widerrufen, Haider habe die Landesregierung „bewusst irregeführt" sowie die Landesverfassung und die Geschäftsordnung der Landesregierung ignoriert.

Die dagegen erhobene Berufung wurde am 20.11.2002 vom OLG Wien abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die Entscheidungen der österreichischen Gerichte stellen einen Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung dar. Der Eingriff war in § 33 und § 34 MedienG iVm. § 111 StGB bzw. § 1330 ABGB gesetzlich vorgesehen und verfolgte das legitime Ziel des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer.

Seiner ständigen Rechtsprechung folgend wird der GH prüfen, ob die von den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Gründe für den Eingriff maßgeblich und ausreichend waren und ob dieser verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war.

Art. 10 EMRK garantiert selbst in Hinblick auf die Berichterstattung über Angelegenheiten von ernsthaftem öffentlichen Interesse keine völlig unbeschränkte Freiheit der Meinungsäußerung. Aufgrund der Pflichten und Verantwortung, die mit der Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit einhergehen, ist der Schutz, den Art. 10 EMRK Journalisten gewährt, von der Bedingung abhängig, dass sie in gutem Glauben handeln, um in Befolgung der Regeln journalistischer Ethik richtige und verlässliche Informationen zu bieten. Im vorliegenden Fall behandelte der umstrittene Artikel das Verhalten eines führenden Politikers im Zusammenhang mit der Bestellung des Aufsichtsrats der im öffentlichen Eigentum stehenden KELAG. Angesichts dieses Themas von bedeutendem öffentlichen und politischen Interesse ist eine sehr sorgfältige Prüfung durch den GH geboten, wenn die Maßnahmen der innerstaatlichen Gerichte wie im vorliegenden Fall geeignet sind, eine Zeitung von ihrer Beteiligung an einer solchen Debatte abzuhalten. Die Pressefreiheit bietet der Öffentlichkeit eine Möglichkeit, sich eine Meinung über das Verhalten ihrer Politiker zu bilden und erlaubt auch einen gewissen Grad der Übertreibung und Provokation. Das Argument, der Artikel der Bf. sei einseitig und parteiisch gewesen, ist daher für sich alleine nicht ausreichend, um eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. zu rechtfertigen.

Die Gerichte wiesen aber auch darauf hin, dass das Gutachten unrichtig wiedergegeben worden sei. Tatsächlich zitierte der Artikel das Gutachten wiederholt dahingehend, dass Herr Haider die Landesregierung bewusst irregeführt habe. Der GH stellt fest, dass das Gutachten keine solchen Vorwürfe enthielt und stimmt daher der Ansicht der innerstaatlichen Gerichte zu, die Zitate würden den Tatbestand der üblen Nachrede verwirklichen, da es sich um falsche Tatsachenbehauptungen handle.

Die Bf. behauptete, sie könne nicht für diese Mängel des Artikels verantwortlich gemacht werden, weil sie sich auf eine Presseaussendung der SPÖ verlassen habe, die das Gutachten unrichtig zusammengefasst hätte. Sie bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Urteil des GH im Fall Bladet Tromso und Stensaas/N, wonach sich die Presse in der Regel auf den Inhalt offizieller Berichte verlassen dürfe, ohne eigene Recherchen unternehmen zu müssen. Der GH ist von diesem Argument nicht überzeugt. Er bezweifelt, dass die Stellungnahme politischer Gegner des Herrn Haider mit dem offiziellen Bericht eines von der Regierung bestellten Experten im Fall Bladet Tromso und Stensaas/N verglichen werden kann. Außerdem bezog sich die Bf. in dem Artikel nicht auf die angeblich unrichtige Presseaussendung, sondern zitierte ausdrücklich das Gutachten. Diese etwa sieben Seiten umfassende Expertise war der Bf. zugänglich und angesichts der Schwere der gegen Herrn Haider erhobenen Vorwürfe hätte sie das Gutachten selbst heranziehen müssen, um der journalistischen Sorgfaltspflicht gerecht zu werden. Angesichts dieser Umstände erachtet der GH die von den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Gründe als maßgeblich und ausreichend. Da keine Strafen über die Bf. verhängt wurden, sondern lediglich die Einziehung der noch vorhandenen Exemplare der Zeitung bzw. der Widerruf der unwahren Tatsachenbehauptungen angeordnet wurde, erachtet der GH den Eingriff auch als verhältnismäßig. Nachdem der Eingriff somit zum Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, liegt keine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Rozakis, Richterin Vajic und Richter Spielmann).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bladet Tromso und Stensaas/N v. 20.5.1999, NL 1999, 96; EuGRZ 1999,

453; ÖJZ 2000, 232.

Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814. Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307; ÖJZ 2004, 512.

Pedersen und Baadsgaard/DK v. 17.12.2004, NL 2005, 10.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.2.2007, Bsw. 37464/02, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 32) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_1/StandardNr2.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise