JudikaturAUSL EGMR

Bsw1398/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. Dezember 2006

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Markovic u.a. gegen Italien, Urteil vom 14.12.2006, Bsw. 1398/03.

Spruch

Art. 1 EMRK, Art. 6 EMRK - Gerichtliche Überprüfbarkeit von Kriegshandlungen.

Keine Verletzung von Art. 6 EMRK (10:7 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. sind Staatsangehörige von Serbien und Montenegro, deren Angehörige bei einem am 23.4.1999 im Zuge des Kosovo-Konflikts erfolgten Luftangriff der NATO auf die Belgrader Rundfunkstation RTS ums Leben kamen. Im Mai bzw. im November 2000 brachten sie beim Bezirksgericht in Rom eine auf Art. 2043 des Zivilgesetzbuches gestützte Schadenersatzklage gegen die Kanzlei des italienischen Premierministers, das Verteidigungsministerium und das Kommando der Vereinigten Streitkräfte der NATO (Anm: Die Klage betreffend die NATO wurde später von den Bf. zurückgezogen.) für Südeuropa ein. Die Bf. stützten ihren Antrag auf Art. 6 des italienischen Strafgesetzbuches (Anm: Danach werden Straftaten als innerhalb des italienischen Territoriums begangen angesehen, wenn die Gesamtheit oder ein Teil der strafrechtlichen Handlung bzw. Unterlassung dort ihren Anfang genommen oder Auswirkungen gezeitigt hat.), Art. 174 des Militärstrafgesetzes in Kriegszeiten (Anm: Danach ist ein militärischer Befehlshaber mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren zu bestrafen, wenn er durch nationales Recht bzw. internationale Instrumente verbotene Mittel oder Methoden der Kriegsführung angeordnet bzw. genehmigt hat.) sowie auf das Londoner Abkommen (Anm.: Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikpakts über die Rechtsstellung ihrer Truppen vom 19.6.1951) bzw. das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte. Sie legten dar, Italiens Beteiligung an besagter militärischer Operation sei umfassender als jene der anderen NATO-Staaten gewesen, da es nicht nur bedeutende politische und logistische Unterstützung geleistet, sondern auch Luftstützpunkte zur Verfügung gestellt habe, von denen aus die Angriffe auf die Rundfunkstation RTS unternommen worden seien.

In der Folge stellten die Kanzlei des Premierministers und das Verteidigungsministerium einen Antrag beim Höchstgericht auf Vorabentscheidung über die Frage der Zuständigkeit der italienischen Gerichte. Sie brachten vor, Italien könne in seiner Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt nicht für die Ausübung von Staatsgewalt verantwortlich gemacht werden. Darüber hinaus stelle Art. VIII Abs. 5 des Londoner Abkommens keine Grundlage für Schadenersatzansprüche der vorliegenden Art dar, da diese Bestimmung nur auf Schäden Anwendung finde, die sich auf dem Territorium des Aufnahmestaats (Anm.: Nach Art. I Abs. 1 lit. e des Londoner Abkommens ist darunter jene Vertragspartei zu verstehen, in deren Hoheitsgebiet sich die Truppe oder das zivile Gefolge befinden, sei es, dass sie dort stationiert oder auf der Durchreise sind.) ereignet hätten.

Mit Beschluss vom 8.2.2002 entschied das Höchstgericht, die italienischen Gerichte seien für den vorliegenden Fall nicht zuständig, da die Entscheidung Italiens, an Kriegshandlungen teilzunehmen, politischer Natur gewesen sei und als solche gerichtlich nicht überprüft werden könne. Im Fall von bewaffneten Konflikten sei es internationalen Übereinkommen vorbehalten, den Schutz von Zivilisten zu gewährleisten. Sie würden auch das Verfahren vor internationalen Tribunalen und die zu verhängenden Sanktionen für den Fall des Eintritts staatlicher Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen regeln. Hingegen sähen die in Umsetzung dieser Übereinkommen erlassenen nationalen Gesetze kein ausdrückliches Recht von durch Kriegshandlungen verletzten Parteien vor, vom Staat Entschädigung für durch den Bruch von Völkerrecht entstandene Schäden zu erlangen. Die Tatsache, dass die Flugzeuge von italienischem Territorium aus gestartet waren, stelle lediglich ein Element einer hochkomplexen Operation dar, deren Rechtmäßigkeit die Bf. zu überprüfen suchten, und sei daher für die Anwendung von Art. VIII Abs. 5 des Londoner Abkommens nicht relevant.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, die Unzuständigkeitsentscheidung des Höchstgerichts stelle eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) iVm. Art. 1 EMRK (Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Wahrung der Menschenrechte in Bezug auf in ihrem Hoheitsgebiet befindliche Personen) dar.

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

1. Zur Frage der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs:

Die Regierung wendet ein, die Bf. hätten es verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK auszuschöpfen, da sie nach Ergang der ausschließlich Italien betreffenden höchstgerichtlichen Entscheidung das Verfahren gegen die NATO nicht wieder aufgenommen hätten.

Der GH merkt an, dass im Fall Bankovic u.a./B und 16 andere NATO-Staaten, dem derselbe Sachverhalt mit der Ausnahme zugrunde lag, dass die Bf. keine Klage bei den italienischen Gerichten eingebracht hatten, von der italienischen Regierung die Nichterschöpfung zivilrechtlicher Rechtsmittel mit dem Hinweis auf den vorliegenden Beschwerdefall geltend gemacht wurde.

Die Bf. haben sich einer solchen Zivilklage bedient und damit jenen Rechtsweg beschritten, der ihnen am Erfolg versprechendsten erschien, nachdem die NATO vor den nationalen Gerichten Immunität beansprucht hatte.

Angesichts dessen ist der GH nicht überzeugt, dass eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die NATO bessere Aussichten auf Erfolg gehabt hätte als eine Klage gegen den italienischen Staat. Der Einwand der Regierung ist zurückzuweisen (einstimmig).

2. Zur Frage, ob die Bf. unter die Hoheitsgewalt der belangten Regierung fallen:

Die Regierung wendet ein, die vorliegende Beschwerde sei unzulässig ratione loci.

Der GH erinnert daran, dass Italien im Fall Bankovic u.a./B und 16 andere NATO-Staaten ausdrücklich die Möglichkeit der Einbringung einer Klage bei den nationalen Gerichten anerkannt hat. Tatsächlich hatten die Bf. zu diesem Zeitpunkt bereits Schadenersatzklage beim Bezirksgericht in Rom erhoben.

Zwar mag der extraterritoriale Charakter von Ereignissen Auswirkungen auf die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK und den Ausgang eines Zivilverfahrens haben, jedoch müssen dabei nicht notwendigerweise Fragen nach der Zuständigkeit des Staates ratione loci und ratione personae auftreten. Ab der Einleitung eines Zivilverfahrens durch die nationalen Gerichte ist der Staat jedenfalls gemäß Art. 1 EMRK gehalten, die von Art. 6 EMRK vorgegebenen Garantien einzuhalten. Von diesem Zeitpunkt an besteht unbeschadet des Ausgangs des Verfahrens ein Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Konventionsstaaten nach Art. 1 EMRK. Da die Bf. Zivilklage bei den italienischen Gerichten erhoben haben, existiert zwischen ihnen und dem italienischen Staat ein solcher Zusammenhang. Der Einwand der Regierung ist zurückzuweisen (einstimmig).

Der GH hält fest, dass die Einwendungen der italienischen Regierung zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK ratione materiae eng mit dem diesbezüglichen Vorbringen der Bf. verknüpft sind. Er hält es daher für angebracht, sie gemeinsam mit der meritorischen Überprüfung der Beschwerde zu behandeln. Da letztere nicht offensichtlich unbegründet erscheint, ist sie für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK:

Die Regierung verweist auf ein Urteil des Höchstgerichts vom 10.7.1992, wonach die Gerichte für die Überprüfung von politischen Entscheidungen nicht zuständig seien. (Anm.: In diesem Fall ging es um die Einbringung einer Klage gegen mehrere Regierungsmitglieder durch eine Gewerkschaft wegen Bruchs von Vereinbarungen auf staatlicher Seite.) Zwar mag diese Entscheidung eine gewisse Bedeutung für die gegenständliche Beschwerdesache gehabt haben, sie ist aber nicht annähernd mit einem Präzedenzfall vergleichbar. Die Gerichte hatten somit zum ersten Mal zu entscheiden, ob eine Situation wie die vorliegende in den Anwendungsbereich von Art. 2043 des Zivilgesetzbuches fiel. Der GH schließt daraus, dass vor den italienischen Gerichten von Beginn an ein aufrechter und ernsthafter Streit über das Bestehen eines zivilrechtlichen Anspruchs bestand. Dem Argument der Regierung, es sei dabei um kein vertretbares (ziviles) Recht iSv. Art. 6 EMRK gegangen, da das Höchstgericht die Ansicht vertreten habe, der von den Bf. relevierte Vorfall sei als Kriegshandlung einer gerichtlichen Überprüfung nicht zugänglich, kommt nur in Bezug auf hinkünftige Klagen durch andere Bf. Relevanz zu. Unter diesen Umständen stellt der GH fest, dass die Bf. zumindest einen vertretbaren Rechtsanspruch nach innerstaatlichem Recht hatten. Art. 6 EMRK ist somit auf den vorliegenden Fall anwendbar, der diesbezügliche Einwand der Regierung ist zurückzuweisen (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Der GH hält fest, dass die Bf. an der gerichtlichen Einbringung ihres Schadenersatzantrags nicht gehindert wurden. Das Höchstgericht hatte offenbar keinen Zweifel an der Unzuständigkeit der Gerichte. Es legte dar, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Kriegshandlung gehandelt habe, die als Ausdruck politischer Entscheidungen einer gerichtlichen Überprüfung nicht zugänglich sei. Darüber hinaus würden die in Umsetzung von internationalen Übereinkommen erlassenen nationalen Gesetze durch Kriegshandlungen verletzten Personen kein explizites Recht garantieren, eine staatliche Entschädigung für Völkerrechtsverletzungen zu erlangen.

Auch wenn es nicht Aufgabe des GH ist, sich über die Anwendbarkeit des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen bzw. des Londoner Abkommens zu äußern, kann doch gesagt werden, dass deren Interpretation durch das Höchstgericht frei von Rechtsirrtümern sein dürfte. Zwei Gründe sprechen dafür: Zum einen trifft die Einschätzung zu, das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen regle nur Beziehungen zwischen Staaten, zum anderen bezogen sich die Bf. auf Art. VIII Abs. 5 des Londoner Abkommens, der Schäden durch Kriegshandlungen betrifft, die Drittparteien auf dem Territorium des Aufnahmestaats zugefügt werden. Der Schadenseintritt erfolgte jedoch in Serbien, nicht in Italien.

Die Auslegung nationalen Rechts bzw. einschlägiger internationaler Übereinkommen durch die Gerichte lässt daher nicht den Schluss zu, dass unter solchen Umständen ein "Anspruch" auf Entschädigung im italienischen Schadenersatzrecht existierte.

Entgegen der Ansicht der Bf. ist der GH auch nicht der Auffassung, die angefochtene Entscheidung laufe auf eine Immunität staatlicher Stellen von der Gerichtsbarkeit hinaus. Wie die Regierung zutreffend darlegt, betraf die genannte Entscheidung lediglich einen Aspekt des Rechts auf Klagsführung gegen den Staat und kann daher nicht als willkürlicher Ausschluss des Zugangs zu den Gerichten gedeutet werden. Die Entscheidung des Höchstgerichts gab vielmehr Aufschluss über das Ausmaß der Befugnis der Gerichte, Handlungen der Außenpolitik wie hier die Kriegsführung einer Überprüfung zuführen zu können. Von einer Beschränkung des Zugangs zu einem Gericht ähnlich wie im Fall Ashingdane/GB kann daher nicht die Rede sein. Dies gilt auch für die von den Bf. behauptete Verweigerung ihres Rechts auf eine Sachentscheidung. Das Höchstgericht prüfte ihre Klage nicht nur sorgfältig und im Einklang mit den einschlägigen Prinzipien des innerstaatlichen Schadenersatzrechts, sondern ging auch auf rechtliche Argumente betreffend die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK ein. Die Bf. können sich daher nicht länger unter dieser Bestimmung darauf berufen, sie hätten Anspruch auf eine rechtliche Würdigung des Sachverhalts gehabt. Eine solche Vorgangsweise hätte nur zu einer unnötigen Verlängerung des Verfahrens geführt, da – unter der Annahme, dass die Entscheidung des Höchstgerichts nicht automatisch das Verfahren vor dem Bezirksgericht beendet hätte – letzterem lediglich die Befugnis zugekommen wäre, den Charakter der umstrittenen Ereignisse zu prüfen, um schließlich zu keiner anderen Alternative als zur Abweisung der Klage zu kommen.

Der vorliegende Fall weist auch durchaus Ähnlichkeiten mit dem Fall Z. u.a./GB auf, wo den Bf. zwar Zugang zu einem Gericht gewährt wurde, dieser jedoch insofern eingeschränkt war, als keine meritorische Überprüfung erfolgte. Keine Verletzung von Art. 6 EMRK (10:7 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Costa bzw. Richter Bratza, gefolgt von Richter Rozakis; Sondervotum von Richter Zagrebelsky, gefolgt von Richterin Tsatsa-Nikolovska und den Richtern Zupancic, Jungwiert, Ugrekhelidze, Kovler und David Thor Björgvinsson).

Vom GH zitierte Judikatur:

Ashingdane/GB v. 28.5.1985, A/93, EuGRZ 1986, 8.

Z. u.a./GB v. 10.5.2001.

Bankovic u.a./B und 16 andere NATO-Staaten v. 12.12.2001 (ZE), NL

2002, 48; EuGRZ 2002, 133.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.12.2006, Bsw. 1398/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 5) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_1/Markovic.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise