Bsw12555/03 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Müller gegen Österreich, Urteil vom 5.10.2006, Bsw. 12555/03.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK - Überlange Dauer eines Verwaltungsstrafverfahrens.
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 2.001,96 für Kosten und Auflagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist Geschäftsführer der Firma M. Am 10.8.1994 wurde ihm vom Magistrat der Stadt Wien wegen Verstoßes gegen § 28 und § 3 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) eine Geldstrafe von € 700,– auferlegt, nachdem auf einer Baustelle der Firma M. ein illegal beschäftigter polnischer Staatsangehöriger angetroffen worden war. Am 28.5.1996 bestätigte der UVS nach zwei öffentlichen Verhandlungen diese Entscheidung.
Am 22.7.1996 erhob der Bf. beim VfGH eine Beschwerde gegen diesen Bescheid sowie gegen eine weitere Entscheidung des UVS, die ebenfalls eine Geldstrafe wegen illegaler Beschäftigung von Ausländern betraf. Der VfGH verband die beiden Beschwerden zur gemeinsamen Behandlung. Zur selben Zeit waren noch zwei weitere Verfahren über Beschwerden eines weiteren Geschäftsführers der Firma M. bzw. der Firma selbst beim VfGH anhängig, welche die Verfassungskonformität einer Bestimmung des AuslBG betrafen.
Am 15.10.1998 lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerden des Bf. aufgrund mangelnder Aussicht auf Erfolg ab. Der VfGH hielt fest, dass im vorliegenden Fall keine konkreten Anzeichen vorlagen, die auf eine mangelnde Unabhängigkeit des entscheidenden Mitglieds des Wiener UVS hindeuten würden. Auf Antrag des Bf. wurde der Fall an den VwGH zur Entscheidung abgetreten.
Am 26.3.1999 brachte der Bf. vor, die Entscheidung des UVS wäre rechtwidrig, weil wesentliche Verfahrensgrundsätze nicht eingehalten worden wären. Der VwGH wies die Beschwerde des Bf. am 3.9.2002 ab. Am gleichen Tag bestätigte er auch die Verurteilung des Bf. wegen illegaler Beschäftigung dreier weiterer polnischer Staatsangehöriger. Diese Entscheidungen wurden dem Vertreter des Bf. am 3.10.2002 zugestellt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 2 7. Prot. EMRK (Recht auf ein Rechtsmittel in Strafsachen) und Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Dauer des Verfahrens:
Der Bf. behauptet, die Verfahrensdauer sei angesichts der Einfachheit des Falles unverhältnismäßig gewesen.
Der GH stellt fest, dass dieser Beschwerdepunkt nicht offensichtlich unbegründet ist und erklärt ihn daher für zulässig (einstimmig). Das Verfahren begann am 11.8.1994 und endete am 3.10.2002. Es dauerte somit acht Jahre und beinahe zwei Monate. Der Bf. trug nicht zur Verzögerung des Verfahrens bei. Der GH ist auch nicht der Ansicht, dass das vorliegende Verfahren besonders komplex war. Zum Argument der Regierung, der vorliegende Fall habe vor dem VfGH komplexe Rechtsfragen aufgeworfen, hält der GH fest, dass dieser Gerichtshof die Behandlung der Beschwerde wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg abgelehnt hat. Auf jeden Fall stellt der GH eine Untätigkeit des VwGH von drei Jahren, drei Monaten und circa zwei Wochen fest, nämlich vom 17.5.1999 bis 3.9.2002. Aufgrund des Fehlens jeglicher Erklärungen für diese Zeitspanne stellt der GH fest, dass der Fall des Bf. nicht innerhalb einer angemessenen Frist entschieden wurde. Daher liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).
Zu den sonstigen Beschwerdepunkten:
Der Bf. bringt vor, dass über seinen Fall nicht von einem unabhängigen Tribunal iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK entschieden worden sei. In diesem Zusammenhang rügt er die mangelnde Unabhängigkeit des UVS, weil dessen Richter nach Beendigung ihrer Amtszeit wieder an ihre alten Dienstposten als Beamte zurückkehren würden. Außerdem rügt der Bf. die Möglichkeit der Abberufung von Richtern vor Ablauf ihrer Amtszeit. Außerdem behauptet der Bf. eine Verletzung von Art. 2 7. Prot. EMRK wegen des Fehlens einer Überprüfung der Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht.
Dazu stellt der GH fest, dass der vorliegende Fall zuerst vom Wiener Magistrat behandelt worden ist, einer Behörde, die nicht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht.
Die Berufung des Bf. gegen das Straferkenntnis des Magistrats wurde in weiterer Folge vom UVS behandelt. Der GH hat wiederholt festgestellt, dass der UVS als Tribunal iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK anzusehen ist. Der Bf. bringt keine schlüssigen Argumente vor, um diese Ansicht in Zweifel zu ziehen.
Zur Beschwerde nach Art. 2 7. Prot. EMRK stellt der GH fest, dass im vorliegenden Fall keine Anzeichen dafür vorliegen, der Umfang der Überprüfung durch den VwGH wäre für die Zwecke des Art. 2 7. Prot. EMRK unzureichend gewesen.
Der Bf. beschwert sich auch über die Höhe der über ihn verhängten Strafe. Der GH erinnert daran, dass es nicht seine Aufgabe ist zu entscheiden, welche Strafe für ein bestimmtes Delikt angemessen ist. Die über den Bf. verhängte Strafe erscheint weder willkürlich noch unverhältnismäßig.
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK, weil er nach dem vorliegenden Verfahren wegen der illegalen Beschäftigung weiterer Ausländer bestraft wurde und weil auch ein weiterer Geschäftsführer der Firma M. deswegen verurteilt wurde. Art. 4 7. Prot. EMRK bezieht sich auf ein neuerliches Verfahren gegen dieselbe Person wegen derselben Straftat. Daher verstößt weder die Verurteilung des Bf. wegen der illegalen Beschäftigung weiterer Ausländer noch die Verurteilung einer anderen Person wegen dieses Vergehens gegen Art. 4 7. Prot. EMRK.
Schließlich behauptet der Bf. auch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK, da er nach § 5 Abs. 1 VStG seine Unschuld beweisen hätte müssen.
Gemäß § 5 Abs. 1 VStG ist bei Zuwiderhandeln gegen ein Verbot Fahrlässigkeit anzunehmen, solange der Täter nicht glaubhaft macht, dass ihn kein Verschulden trifft. Der GH wiederholt, dass Art. 6 Abs. 2 EMRK die Anwendung gesetzlicher Tatsachen- und Rechtsvermutungen nicht verbietet, solange sie in angemessenen Grenzen bleiben, welche die Verteidigungsrechte wahren. Im vorliegenden Fall war der Bf. durchaus in der Lage, seine Rechte zu verteidigen. Der Bf. hat im innerstaatlichen Verfahren vorgebracht, nichts von der illegalen Beschäftigung gewusst und einen Mitarbeiter beauftragt zu haben, die Rechtmäßigkeit der Beschäftigungspolitik des Unternehmens zu überwachen. Die österreichischen Behörden wiesen dieses Argument zurück, da der Bf. ihrer Ansicht nach kein wirksames System eingerichtet hatte, um die Befolgung seiner Anordnungen zu kontrollieren. Nach Ansicht des GH überschritten die österreichischen Behörden damit nicht die durch Art. 6 Abs. 2 EMRK gezogenen Grenzen. Alle diese Beschwerdepunkte sind daher offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und müssen gemäß Art. 35 Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 4.000,– für immateriellen Schaden, € 2.001,96 für Kosten und Auflagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Pesti und Frodl/A v. 18.1.2000 (ZE).
Baischer/A v. 20.12.2001, NL 2002, 9; ÖJZ 2002, 394.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.10.2006, Bsw. 12555/03, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 239) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/06_5/Mueller.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.