JudikaturAUSL EGMR

Bsw543/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. Oktober 2006

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache McKay gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 3.10.2006, Bsw. 543/03.

Spruch

Art. 5 Abs. 3 EMRK - Kompetenz zur Haftentlassung gegen Kaution. Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (16:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am Samstag, dem 6.1.2001, wurde der 1983 geborene Bf. um 22:00 Uhr wegen des Verdachts, eine Tankstelle überfallen zu haben, verhaftet. Am folgenden Tag gestand er, für den Raub verantwortlich zu sein. Um 12:37 Uhr wurde Anklage gegen ihn erhoben.

Am 8.1. um 10:00 Uhr wurde der Bf. erstmals dem Amtsgericht (magistrates' court) vorgeführt, wo er seine Anwälte beauftragte, die Entlassung aus der Haft gegen Kaution zu beantragen. Entgegen der Aussage eines Polizisten, der Raub habe nichts mit Terrorismus zu tun, wurde der Antrag mit der Begründung abgewiesen, das Gericht könne eine Enthaftung nicht aussprechen, da es sich um eine der in § 67 Abs. 2 des Terrorism Act 2000 und in § 3 Abs. 2 des Northern Ireland (Emergency Provisions) Act 1996 genannten Straftaten handle. (Anm.: § 67 Abs. 2 des am 19.2.2001 in Kraft getretenen Terrorism Act 2000 entspricht im Wesentlichen dem zum Zeitpunkt der Verhaftung des Bf. geltenden § 3 Abs. 2 des Northern Ireland (Emergency Provisions) Act 1996. Demnach hat über einen Antrag auf Haftentlassung gegen Kaution anstelle des magistrates' court ein Richter des High Court, des Court of Appeal oder des für das Strafverfahren zuständigen Gerichts zu entscheiden, wenn dem Betroffenen eine der im Anhang zu diesem Gesetz genannten Straftaten vorgeworfen wird. Auch Raub zählt zu diesen Straftaten, wenn er unter Verwendung von Sprengmitteln oder Feuerwaffen verübt wurde. Hintergrund für diese Bestimmung war die Erfahrung, dass bei Mitgliedern des magistrates' court eine besondere Gefahr der Einschüchterung bestand, wenn sie über Kautionsanträge zu entscheiden hatten.)

Noch am selben Tag beantragte der Bf. beim High Court die Haftentlassung gegen Kaution, die am 9.1.2001 gewährt wurde. Am 12.4.2001 bekannte sich der Bf. vor dem Crown Court schuldig und wurde zu einer in einer Jugendstrafanstalt zu verbüßenden Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

In der Zwischenzeit hatte der Bf. eine gerichtliche Überprüfung von § 67 Abs. 2 des Terrorism Act 2000 und § 3 Abs. 2 des Northern Ireland (Emergency Provisions) Act 1996 beantragt und die Feststellung der Unvereinbarkeit dieser Bestimmungen mit Art. 5 und Art. 14 EMRK begehrt. Der High Court wies diesen Antrag am 3.5.2002 mit der Begründung ab, Art. 5 EMRK verlange nicht, dass jenes Gericht, dem eine inhaftierte Person vorzuführen ist, auch für die Entscheidung über eine Enthaftung gegen Kaution zuständig sei. Der Bf. sei rechtzeitig einem Richter vorgeführt worden, der die Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung geprüft habe. Zudem sei unverzüglich durch einen anderen Richter über seinen Antrag auf Enthaftung gegen Kaution entschieden worden.

Die dagegen vom Bf. erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (Recht auf unverzügliche Vorführung vor einen Richter).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK:

Der Bf. bringt vor, die fehlende Kompetenz des magistrates' court, ihn gegen Kaution aus der Haft zu entlassen, verstoße gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK. Es gebe keine Rechtfertigung für die Trennung der Zuständigkeit zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft und jener zur Entlassung gegen Kaution.

1. Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung:

Art. 5 Abs. 3 EMRK betrifft zwei verschiedene Angelegenheiten: zum einen das frühe Stadium nach der Festnahme und zum anderen gegebenenfalls die Phase des Strafverfahrens, während dem der Beschuldigte entweder angehalten oder freigelassen werden kann.

a) Die Phase unmittelbar nach der Festnahme:

Die im ersten Halbsatz des Art. 5 Abs. 3 EMRK vorgesehene richterliche Haftkontrolle muss unverzüglich erfolgen, um jede Misshandlung aufdecken zu können und um jeden ungerechtfertigten Eingriff in die persönliche Freiheit möglichst gering zu halten. Die Haftkontrolle muss von Amts wegen erfolgen und darf nicht von einem Antrag abhängig gemacht werden.

Der zuständige Richter oder richterliche Beamte muss unabhängig von der Exekutive sein und über die Kompetenz verfügen, nach Anhörung der betroffenen Person und Überprüfung von Rechtmäßigkeit und Rechtfertigung der Festnahme und Anhaltung die Freilassung verbindlich anzuordnen. Die Frage, ob eine Zeitspanne verhältnismäßig ist oder nicht, kann dabei nicht abstrakt beurteilt werden, sondern nur anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls. Aus der bisherigen Rechtsprechung des GH lässt sich jedoch nicht ableiten, dass sich die Haftkontrolle auf die Freilassung des Betroffenen während des Verfahrens aus anderen Gründen als solchen der Rechtmäßigkeit der Haft und des Bestehens eines hinreichenden Tatverdachts erstrecken muss. Auch bieten frühere Urteile keine überzeugenden Argumente für die Feststellung, dass die erste zwingende Vorführung vor einen Richter dessen Befugnis zur Freilassung gegen Kaution umfassen muss.

b) Die Phase der Untersuchungshaft:

Die innerstaatlichen Gerichte sind verpflichtet, die Aufrechterhaltung der Haft während eines Strafverfahrens zu überprüfen und gegebenenfalls die Enthaftung anzuordnen, wenn die Umstände die Freiheitsentziehung nicht länger rechtfertigen. Das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts kann die Haft zumindest anfangs rechtfertigen, genügt jedoch nach einiger Zeit für sich alleine nicht mehr zur Begründung ihrer Fortsetzung. Der GH hatte bislang keine Gelegenheit, sich in diesem Zusammenhang zum sehr frühen Stadium der Untersuchungshaft zu äußern. Dies liegt vermutlich daran, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle das Bestehen eines Tatverdachts einen ausreichenden Grund für die Anhaltung darstellt und die fehlende Möglichkeit einer Freilassung gegen Kaution nicht ernstlich anfechtbar war.

Es besteht jedoch kein Zweifel, dass insofern eine Möglichkeit zur richterlichen Erwägung der Freilassung während des Verfahrens bestehen muss, als es auch in diesem Stadium Fälle geben wird, in denen die Art der Straftat oder die persönlichen Umstände des Verdächtigen dazu führen können, dass die Haft unbillig oder nicht ausreichend begründet ist. Im Gegensatz zum ersten Halbsatz des Art. 5 Abs. 3 EMRK wird dabei die Unverzüglichkeit nicht ausdrücklich gefordert. Dennoch muss eine solche Prüfung, egal ob auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen, mit der gebührenden Eile erfolgen, um jede ungerechtfertigte Freiheitsentziehung auf ein akzeptables Minimum zu beschränken.

Es ist nicht nur gute Praxis, sondern zur Verhinderung von Verzögerungen auch höchst wünschenswert, dass der Richter oder richterliche Beamte, der die erste amtswegige Prüfung der Rechtmäßigkeit der Haft und des Bestehens eines Haftgrundes durchführt, auch zur Entscheidung über eine Haftentlassung gegen Kaution befugt ist. Dies ist jedoch keine Bedingung der Konvention und es gibt grundsätzlich keinen Grund, warum die Angelegenheiten nicht von zwei richterlichen Beamten behandelt werden können, solange dies im geforderten zeitlichen Rahmen erfolgt. Auf jeden Fall kann nicht verlangt werden, dass die Prüfung eines Kautionsantrags rascher erfolgt, als dies für die erste amtswegige Haftkontrolle verlangt wird, die nach der Rechtsprechung des GH spätestens nach vier Tagen stattfinden muss.

2. Anwendung im vorliegenden Fall:

Der Bf. wurde am 6.1.2001 um 22:00 Uhr festgenommen. Um 12:37 Uhr des folgenden Tages wurde die Anklage erhoben und am 8.1. um 10:00 Uhr wurde er erstmals dem magistrates' court vorgeführt, der die Untersuchungshaft verhängte. Es steht außer Streit, dass der magistrates' court die Befugnis zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Festnahme und Anhaltung und des Bestehens eines hinreichenden Tatverdachts hatte und die Freilassung anordnen konnte, wenn diese Erfordernisse nicht erfüllt waren. Dies alleine gewährte ausreichende Garantien gegen einen Missbrauch der Befugnisse der Behörden und stellte eine Befolgung des ersten Halbsatzes von Art. 5 Abs. 3 EMRK sicher, da die Prüfung unverzüglich, von Amts wegen und durch einen mit den entsprechenden Befugnissen ausgestatteten richterlichen Beamten stattfand.

Die Frage der Freilassung während des Strafverfahrens war eine davon zu unterscheidende Angelegenheit, die logischerweise erst nach der Feststellung des Bestehens einer gesetzlichen Grundlage und eines der in der Konvention genannten Gründe für die Haft relevant wurde. Sie wurde im Fall des Bf. etwa 24 Stunden später, am 9.1., vom High Court behandelt, der die Enthaftung des Bf. anordnete. Weder aus der Tatsache, dass dies durch ein anderes Gericht oder einen anderen Richter geschah, noch aus der Tatsache, dass diese Prüfung nur auf Antrag erfolgte, erwächst ein Element des möglichen Missbrauchs oder der Willkür.

Es stimmt zwar, dass die Polizei nichts gegen eine Entlassung gegen Kaution einzuwenden hatte und der Bf. einen Tag früher entlassen worden wäre, wenn der magistrates' court die Befugnis zur Entlassung gegen Kaution gehabt hätte. Der GH ist aber dennoch der Ansicht, dass das Verfahren im vorliegenden Fall mit der gebotenen Raschheit durchgeführt wurde, was zur Entlassung des Bf. drei Tage nach seiner Festnahme führte.

Es liegt daher keine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK vor (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Jebens; im Ergebnis übereinstimmendes gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Rozakis, Tulkens, Botoucharova, Myjer und Ziemele; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Borrego Borrego).

Vom GH zitierte Judikatur:

Neumeister/A v. 27.6.1968, A/8, EuGRZ 1975, 393.

Schiesser/CH v. 4.12.1979, A/34, EuGRZ 1980, 202.

Assenov u.a./BG v. 28.10.1998, NL 1998, 217.

Aquilina/M v. 29.4.1999, NL 1999, 93.

Kudla/PL v. 26.10.2000, NL 2000, 219; EuGRZ 2004, 484; ÖJZ 2001, 908.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.10.2006, Bsw. 543/03, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 234) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_5/McKay.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise