JudikaturAUSL EGMR

Bsw62539/00 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
27. Juli 2006

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Jurisic und Collegium Mehrerau gegen Österreich sowie Coorplan-Jenni GmbH und Hascic gegen Österreich, Urteile vom 27.7.2006, Bsw. 62539/00 und Bsw. 10523/02.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren über Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung.

Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die bf. Arbeitgeber (einstimmig).

Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die bf. Arbeitnehmer (5:2 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die bf. Arbeitgeber (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die bf. Arbeitnehmer (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 9.441,24 im Fall Jurisic und Collegium Mehrerau, € 9.175,36 im Fall Coorplan Jenni GmbH und Hascic für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Den beiden vorliegenden Beschwerden liegen ähnliche Sachverhalte zugrunde. Bei den Bf. handelt es sich um ein Kloster bzw. ein Unternehmen in Vorarlberg und jeweils um einen in Österreich lebenden Staatsangehörigen Bosnien und Herzegowinas, den diese als Arbeitnehmer beschäftigen wollten.

Die Bf. beantragten eine Beschäftigungsbewilligung für die potentiellen Arbeitnehmer. Das Arbeitsmarktservice (AMS) lehnte die Anträge gemäß § 4 Abs. 6 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) mit Bescheid vom 19.3.1998 bzw. 4.6.1998 ab, da die für Vorarlberg festgelegte Landeshöchstzahl bereits überschritten war. Die Landesgeschäftstelle Vorarlberg des AMS wies am 25.5.1998 bzw. 22.7.1998 die Berufung des Klosters bzw. des Unternehmens ab und jene der potentiellen Arbeitnehmer als unzulässig zurück. Sie stellte fest, nur der künftige Arbeitgeber, nicht aber der Arbeitnehmer hätte das Recht, eine Beschäftigungsbewilligung zu beantragen. Gemäß § 21 AuslBG habe ein Ausländer nur dann Parteistellung, wenn seine persönlichen Umstände maßgeblich für die Entscheidung seien. Die Abweisung der Anträge sei aber nur wegen der Überschreitung der Landeshöchstzahl erfolgt.

Die Bf. erhoben daraufhin Beschwerden an den VwGH und beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Der VwGH wies am 15.12.1999 bzw. am 19.12.2000 die Beschwerde des Klosters bzw. des Unternehmens als unbegründet ab und jene der Arbeitnehmer als unzulässig zurück. In Hinblick auf die Arbeitnehmer führte der VwGH aus, dass sie nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt worden seien, da das Recht, einen Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung zu stellen, grundsätzlich dem Arbeitgeber vorbehalten sei. Weiters verwies er auf die Rechtsprechung des VfGH, wonach die Entscheidung über die Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung keine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen iSv. Art. 6 Abs. 1 EMRK betreffe.

Zu den Beschwerden der Arbeitgeber stellte der VwGH fest, die belangte Behörde sei zu Recht von einer Überschreitung der Landeshöchstzahl ausgegangen. Zu dem von den Bf. unter Berufung auf die Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 6 IPBPR und Beschluss Nr. 80 des Assoziationsrates geltend gemachten Recht auf Beschäftigung stellte der VwGH fest, dass diese internationalen Abkommen in den vorliegenden Fällen nicht anwendbar seien, da die Bf. nie behauptet hätten, Flüchtlinge zu sein und auch keine Staatsbürger der Türkei wären. Auch aus dem IPBPR könne ein Recht auf Beschäftigung nicht abgeleitet werden.

Die Anträge auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurden abgewiesen, da von der mündlichen Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten wäre. Dem stand nach Ansicht des VwGH auch Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht entgegen, weil das Verfahren keine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen betreffe. Da inzwischen die Frauen der Bf. die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt haben, ist das AuslBG nicht länger auf sie anwendbar.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Der GH muss sich zunächst vergewissern, ob eine ernsthafte Streitigkeit (dispute) über ein Recht stattgefunden hat, dessen Anerkennung durch das innerstaatliche Recht zumindest mit vertretbaren Gründen behauptet werden kann. Der Ausgang des Verfahrens muss entscheidend für das umstrittene Recht sein, das zivilrechtlicher Natur sein muss. In den vorliegenden Fällen ist der GH der Ansicht, dass jeweils die Situation der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer gesondert geprüft werden muss.

a) Die bf. Arbeitgeber:

Die Regierung hat nicht bestritten, dass eine Streitigkeit zwischen den Bf. und dem AMS entstand, nachdem dieses die Erteilung von Beschäftigungsbewilligungen ablehnte. Es bleibt zu prüfen, ob die Streitigkeit ein Recht der Bf. betraf, das zivilrechtlicher Natur war.

Eine Beschäftigungsbewilligung wird nach dem AuslBG auf Antrag für einen bestimmten Ausländer erteilt, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind, wichtige öffentliche oder gesamtwirtschaftliche Interessen nicht entgegenstehen und die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes die Beschäftigung zulässt. Als potentielle Arbeitgeber konnten die Bf. daher zumindest mit vertretbaren Gründen ein Recht auf eine Beschäftigungsbewilligung behaupten.

Schließlich stellt der GH fest, dass die Gültigkeit eines Arbeitsvertrags zwischen einem Arbeitgeber und einem ausländischen Arbeitnehmer grundsätzlich von der Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung abhängt. Der Ausgang des Verfahrens war daher unmittelbar entscheidend für die zivilrechtlichen Verhältnisse des bf. Klosters bzw. Unternehmens und betraf somit ihre zivilrechtlichen Ansprüche.

Daraus folgt, dass Art. 6 EMRK auf die Verfahren über die Anträge des Klosters bzw. Unternehmens auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung anwendbar ist (einstimmig).

b) Die bf. Arbeitnehmer:

Als vorgeschlagene Arbeitnehmer hatten die Bf. keine Parteistellung in dem Verfahren über die Beschäftigungsbewilligung. Der GH wird prüfen, ob dies den materiellen Gehalt des Rechts der Bf. einschränkte (sodass die Garantien des Art. 6 EMRK nicht anwendbar sind) oder ob es sich um ein verfahrensrechtliches Hindernis handelt, das einer Geltendmachung eines Anspruchs vor Gericht entgegen steht und auf das Art. 6 Abs. 1 EMRK bis zu einem gewissen Grad anwendbar sein könnte.

Wie der GH bemerkt, waren sich die potentiellen Arbeitnehmer mit ihren künftigen Arbeitgebern über die Beschäftigung einig und beantragten gemeinsam eine Beschäftigungsbewilligung. Die vorliegenden Fälle betreffen daher nicht das Recht der Bf. auf Beschäftigung als solches, sondern eher ihr Recht auf die notwendige öffentliche Genehmigung ihrer konkret geplanten Tätigkeit. Angesichts der Tatsache, dass das bf. Kloster bzw. das Unternehmen einen Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung geltend gemacht haben, muss angenommen werden, dass auch die bf. Arbeitnehmer ein vom Recht der bf. Arbeitgeber abgeleitetes Recht auf Entscheidung über ihre Anträge auf eine Beschäftigungsbewilligung hatten. Dass das innerstaatliche Recht sie davon ausschloss, den Antrag persönlich zu stellen, ändert nichts am Bestehen dieses Rechts, sondern ist lediglich ein prozessuales Hindernis. Der GH wird in dieser Ansicht dadurch bekräftigt, dass das innerstaatliche Recht einen ausländischen Arbeitnehmer nicht ausnahmslos von der Antragstellung ausschließt, sondern bestimmte außergewöhnliche Umstände vorsieht, unter denen der Arbeitnehmer selbst ein solches Verfahren einleiten kann.

Unter Verweis auf seine Feststellungen zu den bf. Arbeitgebern stellt der GH fest, dass das Recht der bf. Arbeitnehmer, einen gültigen Arbeitsvertrag abzuschließen, vertretbar und die Streitigkeit unmittelbar entscheidend für ihre zivilrechtlichen Ansprüche war. Art. 6 EMRK ist daher auch in Bezug auf die bf. Arbeitnehmer anwendbar (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richterin Steiner, gefolgt von Richterin Vajic).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. rügen in beiden Fällen das Fehlen einer mündlichen Verhandlung vor dem VwGH. Die bf. Arbeitnehmer bringen außerdem vor, ihnen wäre der Zugang zu einem Gericht verwehrt worden, da sie in dem Verfahren keine Parteistellung gehabt hätten.

a) Die bf. Arbeitgeber:

Die Rechtssachen wurden vom AMS Bregenz und von der Landesgeschäftsstelle Vorarlberg des AMS – beides reine Verwaltungsbehörden – und danach vom VwGH geprüft. Der VwGH war somit das erste und einzige Tribunal, das die Fälle der Bf. geprüft hat. Die bf. Arbeitgeber hatten daher grundsätzlich ein Recht auf eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem ersten und einzigen in dieser Rechtssache entscheidenden Tribunal, es sei denn, es wären außerordentliche Umstände vorgelegen, die ein Absehen von einer Verhandlung gerechtfertigt hätten. Der GH hat solche außerordentlichen Umstände in Fällen anerkannt, in denen das Verfahren ausschließlich rechtliche oder höchst technische Fragen betraf.

Der Gegenstand des Verfahrens vor dem VwGH war in den vorliegenden Fällen jedoch nicht von einer so hochtechnischen oder rein rechtlichen Art, dass ein Absehen von der Durchführung einer Verhandlung gerechtfertigt gewesen wäre. Daher liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richterin Vajic).

b) Die bf. Arbeitnehmer:

In den vorliegenden Fällen hinderte das AuslBG die bf. Arbeitnehmer daran, ihren Anspruch auf eine Beschäftigungsbewilligung bei den innerstaatlichen Behörden geltend zu machen.

Die Regierung anerkennt für den Fall, dass der GH Art. 6 EMRK auf die Verfahren für anwendbar erklärt, eine Verletzung des Rechts der bf. Arbeitnehmer auf Zugang zu einem Gericht.

Der GH stellt daher eine Verletzung des durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts der bf. Arbeitnehmer auf Zugang zu einem Gericht fest (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richterin Steiner, gefolgt von Richterin Vajic).

Eine gesonderte Prüfung der Beschwerde der bf. Arbeitnehmer über das Fehlen einer mündlichen Verhandlung ist angesichts dieser Feststellungen nicht notwendig (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 9.441,24 im Fall Jurisic und Collegium Mehrerau, € 9.175,36 im Fall

Coorplan Jenni GmbH und Hascic für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen;

Sondervotum von Richterin Vajic).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schuler-Zraggen/CH v. 24.6.1993, A/263, NL 1993/4, 30; EuGRZ 1996,

604; ÖJZ 1994, 138.

Roche/GB v. 19.10.2005, NL 2005, 242.

Schelling/A v. 10.11.2005, NL 2005, 277; ÖJZ 2006, 472.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 27.7.2006, Bsw. 62539/00 und Bsw. 10523/02, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 201) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_4/Jurisic.pdf www.menschenrechte.ac.at/orig/06_4/Coorplan_Jeni.pdf

Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise