JudikaturAUSL EGMR

Bsw67335/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
29. März 2006

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Achour gegen Frankreich, Urteil vom 29.3.2006, Bsw. 67335/01.

Spruch

Art. 7 EMRK - Verurteilung als Rückfallstäter aufgrund eines neuen Gesetzes.

Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (16:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde im Oktober 1984 wegen Drogenhandels zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Am 12.7.1986 wurde er aus der Haft entlassen. Am 1.3.1994 trat Art. 132-9 des neuen Strafgesetzbuchs in Kraft, mit dem die Bestrafung von Rückfallstätern neu geregelt wurde. (Anm.: Durch Art. 132-9 Strafgesetz wurde die Zeitspanne, in der ein Vorverurteilter aufgrund seines Rückfalls wegen der zweiten Straftat strenger bestraft werden kann, von fünf auf zehn Jahre verlängert. Demnach gilt ein Straftäter dann als Rückfallstäter, wenn er bereits einmal wegen einer mit zehn Jahren Haft bedrohten Straftat rechtskräftig verurteilt wurde und binnen zehn Jahren nach Verbüßung der Strafe bzw. nach Eintritt der Verfolgungs- oder Vollstreckungsverjährung neuerlich eine mit einer ähnlichen Strafe bedrohte Straftat begeht. In diesen Fällen gilt die doppelte Strafdrohung.)

Im Dezember 1995 wurde der Bf. neuerlich verhaftet. Eine Durchsuchung seiner Wohnung führte zur Entdeckung von mehr als 50 kg Cannabis. Mit Urteil vom 14.4.1997 verurteilte das Strafgericht Lyon den Bf. wegen eines Drogendelikts zu acht Jahren Haft.

Das Berufungsgericht Lyon bestätigte das Urteil hinsichtlich des Schuldspruchs, erhöhte aber die Freiheitsstrafe auf zwölf Jahre, weil es den Bf. gemäß Art. 132-9 Strafgesetzbuch als Rückfallstäter qualifizierte.

In seinem Rechtsmittel an den Cour de Cassation brachte der Bf. vor, seine Qualifikation als Rückfallstäter widerspreche den Regeln über die Anwendung nachfolgender Strafgesetze, da das Berufungsgericht die strengeren Bestimmungen der neueren Gesetzgebung rückwirkend angewendet habe.

Der Cour de Cassation wies mit Urteil vom 29.2.2000 das vom Bf. erhobene Rechtsmittel ab. Nach Ansicht des Cour de Cassation wäre es für die sofortige Anwendbarkeit eines Gesetzes, mit dem neue Vorschriften für Rückfälligkeit eingeführt werden, ausreichend, wenn die zweite Straftat nach Inkrafttreten dieses Gesetzes begangen wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege) durch die Anwendung von Art. 132-9 Strafgesetzbuch.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:

Der Bf. bringt vor, der Cour de Cassation habe strengere gesetzliche Bestimmungen angewendet, die ihm zum Zeitpunkt seiner ersten Verurteilung nicht bekannt sein hätten können. Die rückwirkende Anwendung des Strafgesetzbuchs habe die Möglichkeit der Verurteilung als Rückfallstäter wieder aufleben lassen, die am 13.7.1991 bereits erloschen wäre.

Art. 7 EMRK enthält den Grundsatz, dass nur das Gesetz eine Straftat definieren und Strafsanktionen vorschreiben kann und verbietet insbesondere die rückwirkende Anwendung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Angeklagten. Der GH muss sich daher davon überzeugen, dass im Zeitpunkt der Begehung einer Handlung, die zur strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung eines Angeklagten führte, eine Bestimmung in Kraft war, die diese Handlung unter Strafe stellte, und dass die verhängte Strafe nicht die durch diese Bestimmung vorgesehenen Grenzen überschritten hat.

Der Bf. beschwert sich darüber, dass er wegen der 1995 begangenen Straftat als Rückfallstäter verurteilt wurde. Der GH muss daher die Bestimmungen über rückfällige Straftäter und deren Anwendung im vorliegenden Fall beurteilen.

Die französischen Bestimmungen über Rückfallstäter verlangen zwei Komponenten: erstens eine rechtskräftige Verurteilung und zweitens die Begehung einer weiteren Straftat. Rückfälligkeit, die gesetzlich definiert ist, stellt in Bezug auf die zweite Straftat einen erschwerenden Umstand – in personam und nicht in rem, da sie im Zusammenhang mit dem Verhalten des Straftäters steht – dar, der wenn es angemessen ist eine strengere Strafe für den Rückfallstäter rechtfertigt. Rückfälligkeit kann nur aus der Begehung einer zweiten Straftat resultieren. Damit der Straftäter rechtlich als Rückfallstäter qualifiziert werden kann – mit den Konsequenzen, die dies hinsichtlich der zu verhängenden Strafen nach sich zieht – muss die zweite Straftat zusätzlich innerhalb des Zeitraums begangen worden sein, der von den im Zeitpunkt der Begehung dieser Straftat geltenden Bestimmungen vorgesehen ist.

Die Frage ist daher, ob der Grundsatz, dass nur das Gesetz eine Straftat definieren und Strafsanktionen vorschreiben kann, beachtet worden ist. Der GH muss insbesondere untersuchen, ob der Wortlaut der gesetzlichen Vorschrift im Lichte der sie begleitenden Rechtsprechung zum gegenständlichen Zeitpunkt die Erfordernisse der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllt hat.

Der Bf. wurde am 16.10.1984 wegen Drogenhandels verurteilt und verbüßte seine Freiheitsstrafe bis 12.7.1986. Am 14.4. bzw. 25.11.1997 wurde er vom Strafgericht bzw. vom Berufungsgericht Lyon wegen Delikten, die er 1995 begangen hatte, als Wiederholungstäter gemäß Art. 132-9 Strafgesetzbuch verurteilt.

Diese Bestimmung sieht vor, dass die Höchststrafe im Falle einer Rückfälligkeit zu verdoppeln ist und dass die anzuwendende Zeitspanne nicht länger fünf Jahre beträgt, wie dies von der früheren Gesetzgebung vorgesehen war, sondern zehn Jahre ab Verbüßung der vorangegangenen Freiheitsstrafe oder ab Eintritt der Vollstreckungsverjährung. Da die neuen gesetzlichen Regelungen am 1.3.1994 in Kraft traten, waren sie anwendbar, als der Bf. 1995 neuerlich Straftaten beging, so dass er hinsichtlich dieser Delikte ein Rückfallstäter im Sinne des Gesetzes war.

Bezüglich des Vorbringens des Bf., er hätte zwischen 13.7.1991 und 1.3.1994 nicht als Rückfallstäter bestraft werden können, stellt der GH fest, dass die Verurteilung vom 16.10.1984 nicht im Strafregister getilgt wurde. Die Gerichte waren daher berechtigt, sie als die erste Komponente der Rückfälligkeit zu berücksichtigen. Diese Verurteilung wurde durch die Verabschiedung neuer gesetzlicher Regelungen in keiner Weise berührt.

Wie der GH feststellt, gibt es zur Frage, ob ein neues Gesetz, mit dem die Zeitspanne zwischen den beiden Komponenten einer Rückfälligkeit verlängert wird, angewendet werden kann, wenn die zweite Straftat nach ihrem Inkrafttreten begangen wurde, eine langjährige ständige Rechtsprechung des Cour de Cassation. Demnach reicht es zur sofortigen Anwendbarkeit einer neuen Bestimmung über Rückfälligkeit aus, wenn die zweite Straftat nach deren Inkrafttreten begangen wurde. Diese Rechtsprechung ermöglichte es dem Bf. offensichtlich, sein Verhalten anzupassen.

Der Bf. konnte daher ohne Zweifel vorhersehen, dass er durch die Begehung einer weiteren Straftat vor dem 13.7.1996 – dem Tag an dem die zehnjährige Frist endete – Gefahr lief, als Rückfallstäter zu einer Freiheits- und Geldstrafe verurteilt zu werden, die das doppelte der normalen Strafdrohung betrug. Er war daher in der Lage, die rechtlichen Konsequenzen seiner Handlungen vorherzusehen und sein Verhalten entsprechend anzupassen.

Der GH erachtet daher sowohl die einschlägige Rechtsprechung als auch die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen als vorhersehbar im Sinne des Art. 7 EMRK.

Auch hinsichtlich der rückwirkenden Anwendung des Gesetzes kann sich kein Problem ergeben, da der vorliegende Fall nur nachfolgende Regelungen betrifft, die dazu bestimmt sind, erst ab ihrem Inkrafttreten angewendet zu werden. Zwar haben die Gerichte die 1984 erfolgte Verurteilung des Bf. als erste Komponente der Rückfälligkeit herangezogen, doch widerspricht dies nicht Art. 7 EMRK, da die Straftat, wegen der er verurteilt wurde, erst nach Inkrafttreten von Art. 132-9 Strafgesetzbuch stattgefunden hat. Die Praxis der Berücksichtigung vergangener Ereignisse ist von der rückwirkenden Anwendung des Rechts im engeren Sinn zu unterscheiden. Zusammenfassend stellt der GH fest, dass der Bf. genau wissen hätte müssen, welche Konsequenzen seine strafbaren Handlungen nach sich ziehen würden. Es liegt daher keine Verletzung von Art. 7 EMRK vor (16:1 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Zupancic; Sondervotum von Richter Popovic).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kokkinakis/GR v. 25.5.1993, A/260-A, NL 1993/4, 19; ÖJZ 1994, 59. Cantoni/F v. 15.11.1996, EuGRZ 1999, 193; ÖJZ 1997, 579. Streletz, Kessler und Krentz/D v. 22.3.2001, NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 210; ÖJZ 2002, 274.

Maaouia/F v. 5.10.2000, NL 2000, 190; ÖJZ 2002, 109.

Anmerkung: Die I. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 10.11.2004 (NL 2004, 276) eine Verletzung von Art. 7 EMRK festgestellt.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.3.2006, Bsw. 67335/01, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 81) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_2/Achour.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise