Bsw23276/04 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Saddam Hussein gegen das Vereinigte Königreich und 20 weitere Staaten, Zulässigkeitsentscheidung vom 14.3.2006, Bsw. 23276/04.
Spruch
Art. 1 EMRK - Jurisdiktion der Besatungsmächte im Irak. Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die vorliegende Beschwerde wurde von Saddam Hussein, dem früheren Präsidenten des Irak erhoben, der gegenwärtig im Irak inhaftiert ist. Am 20.3.2003 marschierten Koalitionstruppen unter dem Kommando eines Generals der US-Armee im Irak ein. Der größte Teil der Truppen wurde von den USA und dem Vereinigten Königreich gestellt. Für den Zweck der Prüfung der vorliegenden Beschwerde wird davon ausgegangen, dass jeder einzelne der belangten Staaten einen Beitrag zur Unterstützung der Koalitionstruppen leistete. Die Truppen bestanden aus Divisionen, die jeweils für eine bestimmte Zone des Irak militärisch verantwortlich waren. Die nördliche und die zentrale Zone (die Bagdad und Tikrit umfasst) wurden von der US-Armee kontrolliert. Im April 2003 eroberten US-Truppen Bagdad, woraufhin eine zivile Übergangsverwaltung (Coalition Provisional Authority – CPA) gebildet wurde, die vorläufig die Regierungsgewalt im Irak innehatte. Am 13.7.2003 wurde der Irakische Regierungsrat gebildet, gegen dessen Entscheidungen dem Leiter der CPA ein Vetorecht zustand. Am 13.12.2003 wurde der Bf. in der Nähe von Tikrit von Soldaten der US-Armee gefangen genommen.
Am 8.6.2004 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Resolution 1546 (2004), mit der die Bildung einer souveränen Interimsregierung des Irak unterstützt wurde, die spätestens am 30.6.2004 die volle Verantwortung und Autorität für die Regierung übernehmen sollte. Der Sicherheitsrat begrüßte es, dass ebenfalls spätestens am 30.6.2004 die Besetzung enden und die CPA zu bestehen aufhören und der Irak wieder seine uneingeschränkte Souveränität geltend machen werde und stellte fest, dass sich die multinationale Truppe bis zur Übernahme der vollen Verantwortung für die Sicherheit durch irakische Sicherheitskräfte auf Ersuchen der designierten Interimsregierung im Irak befinde.
Am 28.6.2004 ging die gesamte Regierungsgewalt der CPA auf die neue irakische Interimsregierung über. Die US-Truppen übergaben am 30.6.2004 den Bf. zur Strafverfolgung an die irakische Regierung.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. beschwert sich nach Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe), Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) in Verbindung mit Art. 1 6. Prot. EMRK und Art. 1 13. Prot. EMRK (Abschaffung der Todesstrafe) über seine Festnahme, Anhaltung, Übergabe an die irakische Regierung und das gegen ihn anhängige Strafverfahren. Er behauptet, ihm drohe die Todesstrafe nach Durchführung eines „Schauprozesses", in dem ihm nicht einmal die grundlegendsten Mittel zur Verteidigung zur Verfügung stünden.
Er bringt vor, er würde unter die Hoheitsgewalt (jurisdiction) der belangten Staaten fallen, weil diese die Besatzungsmächte im Irak wären und er unter ihrer direkten Kontrolle stünde bzw. sie für die Handlungen ihrer Armeeangehörigen im Ausland verantwortlich wären. Er behauptet, er stünde auch nach der Machtübernahme durch die irakische Interimsregierung und seiner Übergabe an diese unter der Hoheitsgewalt der belangten Staaten, weil diese de facto weiterhin die Macht im Irak ausüben würden.
Zur Zulässigkeit der Beschwerde:
Diese Argumente über die Hoheitsgewalt der belangten Staaten beruhen nach Ansicht des GH auf unbegründeten Behauptungen. Der Bf. hat nicht dargelegt, welche Rolle und Aufgaben jeder einzelne der belangten Staaten hatte oder wie die Arbeits- und Machtaufteilung zwischen ihnen und den Vereinigten Staaten gestaltet war. Er hat sich nicht auf die militärische Verantwortlichkeit der einzelnen Divisionen für die ihnen zugewiesenen Zonen bezogen und die relevanten Befehlsstrukturen zwischen den US-Truppen und den Truppen ihrer Verbündeten nicht dargelegt. Der Bf. hat insbesondere nicht angedeutet, welcher belangte Staat (abgesehen von den Vereinigten Staaten) irgendeinen (und wenn ja, welchen) Einfluss auf seine Festnahme, Anhaltung und Übergabe an die irakische Interimsregierung hatte oder daran beteiligt war. Trotz der formellen Machtübergabe an die irakischen Behörden im Juni 2004 und der Wahlen im Jänner 2005 behauptet der Bf. ohne weitere Begründung, dass die belangten Staaten weiterhin de facto die Macht im Irak ausüben würden. Der Bf. hat somit nach Ansicht des GH nicht nachgewiesen, dass er auf irgendeiner der vorgebrachten Grundlagen unter die Hoheitsgewalt der belangten Staaten fällt. Nach Ansicht des GH hat er nicht gezeigt, dass diese Staaten aufgrund ihrer Kontrolle über das Territorium, auf dem die behaupteten Verletzungen stattgefunden haben, Hoheitsgewalt ausübten. Selbst wenn er aufgrund der Anhaltung durch einen Staat unter dessen Hoheitsgewalt fallen hätte können, hat er nicht aufgezeigt, dass irgendeiner der belangten Staaten für seine Festnahme und Anhaltung verantwortlich oder sonst daran beteiligt gewesen wäre. Dieses Versäumnis, eine solche Beteiligung zu beweisen, ist auch hinsichtlich seines Vorbringens relevant, die belangten Staaten wären für die Handlungen ihrer Armeeangehörigen im Ausland verantwortlich. Schließlich gibt es weder in der Rechtsprechung zur Konvention noch im Völkerrecht einen anerkannten Grundsatz, wonach der Bf. bloß aufgrund der Tatsache, dass die belangten Staaten Teil einer Koalition mit den USA waren, unter die Hoheitsgewalt dieser Staaten fiel, wenn die angefochtenen Handlungen von den USA vorgenommen wurden, die USA für die Sicherheit in der Zone zuständig waren, in der sich diese Handlungen ereignet haben und wenn das Oberkommando für die Koalitionstruppen den USA übertragen war. Der GH sieht es daher nicht als erwiesen an, dass ein rechtliches Band zwischen dem Bf. und den belangten Staaten bestanden hätte oder noch bestünde und der Bf. daher im Sinne von Art. 1 EMRK in die Hoheitsgewalt dieser Staaten fallen hätte können. Aus diesem Grund wird die Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Loizidou/TR v. 18.12.1996, EuGRZ 1997, 555; ÖJZ 1997, 793. Bankovic u.a./B u.a. v. 12.12.2001, NL 2002, 48; EuGRZ 2002, 133. Issa/TR v. 16.11.2004, NL 2004, 286.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 14.3.2006, Bsw. 23276/04, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 67) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut
(pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/06_2/Hussein.pdf
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.