JudikaturAUSL EGMR

Bsw73316/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Juli 2005

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Siliadin gegen Frankreich, Urteil vom 26.7.2005, Bsw. 73316/01.

Spruch

Art. 4 EMRK - Ausbeutung einer Minderjährigen als "Haussklavin". Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 26.209,69 für Kosten und Auslagen, kein Zuspruch einer Entschädigung in Ermangelung eines entsprechenden Antrags der Bf. (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf., eine Staatsangehörige Togos, kam im Jänner 1994 im Alter von fünfzehneinhalb Jahren gemeinsam mit Frau D., einer Vertrauten ihres Vaters, nach Frankreich. Es war vereinbart, dass Letztere den rechtlichen Aufenthalt der Bf. regeln und sich ihrer Ausbildung annehmen werde, während diese als Gegenleistung solange den Haushalt besorgen solle, bis das von Frau D. bezahlte Flugticket abbezahlt sei. Tatsächlich verhielt es sich jedoch so, dass die Bf. unbezahlte Hausdienerin des Ehepaars D. wurde. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Reisepass bereits von den Behörden eingezogen worden. Etwa im Oktober 1994 wurde die Bf. von Frau D. an Herrn und Frau B., ein befreundetes Ehepaar, verliehen . Frau B. war zu diesem Zeitpunkt schwanger und es wurde vereinbart, dass sich die Bf. um die zwei Kinder und die Hausarbeit kümmern solle, während nunmehr das Ehepaar B. den rechtlichen Aufenthalt für sie regeln würde, was jedoch nicht geschah. Nach der Geburt ihres Kindes beschloss Frau B., die Bf. ganz zu übernehmen . Sie wurde Mädchen für alles und musste dem Ehepaar B. jeden Tag von 7.30 bis 22.30 Uhr zur Verfügung stehen. Ruhetag war keiner vorgesehen, hin und wieder bekam sie die Genehmigung zum Besuch der sonntäglichen Messe. Die Bf. hatte kein eigenes Zimmer, trug gebrauchte Kleider und schlief im Kinderzimmer auf einer Matratze am Boden. Sie wurde für ihre Dienste nie entlohnt, ein oder zwei Mal erhielt sie jedoch von der Mutter von Frau B. einen Geldschein im Wert von FF 500, (€ 76,22).

Ungefähr im Juli 1998 vertraute sich die Bf. einer Nachbarin an. Diese informierte unverzüglich das Komitee gegen moderne Sklaverei , welches den Fall an die Staatsanwaltschaft weiterleitete. In der Folge wurde gegen das Ehepaar B. Anklage wegen Ausbeutung einer abhängigen und verwundbaren Person (Art. 225-13 des Code pénal) unter die Menschenwürde verletzenden Arbeits- und Wohnbedingungen (Art. 225-14 des Code pénal) erhoben.

Am 10.6.1999 sprach das Pariser Tribunal de grande instance das Ehepaar B. wegen Verwirklichung des erstgenannten Delikts für schuldig und verhängte über beide eine Freiheits- sowie eine Geldstrafe. Dass die Arbeits- und Wohnbedingungen menschenunwürdig gewesen seien, sah das Gericht nicht als erwiesen an. In der Folge legte das Ehepaar B. ein Rechtsmittel gegen das Strafurteil ein. Am 19.10.2000 wurde es vom Gericht zweiter Instanz in beiden Anklagepunkten freigesprochen. Die Bf. erhob darauf ein Rechtsmittel an den Cour de cassation. Am 27.10.2000 informierte der Generalprokurator das Komitee gegen moderne Sklaverei darüber, dass er keine höchstgerichtliche Beschwerde erhoben habe, da das Gericht zweiter Instanz zu seinem Freispruch im Wege einer Analyse bloßer Tatsachenbehauptungen gelangt sei, die der souveränen Interpretation der Unterinstanzen unterlägen.

Mit Urteil vom 11.12.2001 hob der Cour de cassation die Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz wegen unrichtiger Auslegung der Art. 225-13 und 225-14 des Code pénal hinsichtlich ihrer schadenersatzrechtlichen Konsequenzen auf und wies die Sache dem Versailler Berufungsgericht zur Entscheidung zu. Am 15.5.2003 schloss sich dieses der Rechtsmeinung des Erstgerichts an und verurteilte das Ehepaar B. zur Leistung von Schadenersatz in Höhe von € 15.245, . Noch im selben Jahr sprach das Pariser Arbeitsgericht der Bf. die Summe von € 31.238, für Verdienstentgang zu.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei bzw. der Zwangs- oder Pflichtarbeit), weil ihr vom französischen Recht kein ausreichender und angemessener Schutz vor Leibeigenschaft bzw. Zwangs- oder Pflichtarbeit gewährt worden sei.

Zur Einrede der Regierung:

Die Regierung wendet ein, der Bf. komme keine Opfereigenschaft zu, da sie gegen das Urteil des Erstgerichts kein Rechtsmittel erhoben habe. Der Einwand der Regierung betrifft die einschlägigen Bestimmungen des französischen Rechts zu Sklaverei und Zwangs- und Pflichtarbeit. Da diese Fragen eng mit dem Beschwerdegegenstand verknüpft sind, wird der GH sie in seine meritorische Prüfung nach Art. 4 EMRK miteinbeziehen. Die Einrede der Regierung wird zurückgewiesen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK:

Der GH hält eingangs fest, dass Art. 4 EMRK neben den Art. 2 und 3 EMRK die Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft widerspiegelt. Neben der Konvention schützen zahlreiche andere internationale Instrumente vor Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangs- bzw. Pflichtarbeit. Ungeachtet dessen hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates in ihrer Empfehlung Nr. 1663 (2004) vom 22.6.2004

festgestellt, dass es in Europa noch immer tausende Personen in der

überwiegenden Zahl Frauen gibt, die als Haussklaven Arbeiten ohne

Lohn und unter Zwang verrichten müssen. Unter diesen Umständen sind die Staaten zur Ergreifung positiver Maßnahmen zur Gewährleistung der in Art. 4 EMRK enthaltenen Garantien im Wege einer effektiven Strafgesetzgebung verpflichtet und gehalten, jegliche Handlung, die eine Person in eine derartige Situation bringen könnte, unter Strafe zu stellen und zu ahnden.

Im Folgenden ist zu prüfen, in welcher nach Art. 4 EMRK relevanten Situation (Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangs- oder Pflichtarbeit) sich die Bf. befand. Zu diesem Zweck hat der GH bereits in seinem Urteil im Fall Van der Mussele/B die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation, darunter insbesondere die Konvention Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit aus dem Jahr 1930, in seine Überlegungen miteinbezogen. Art. 2 Abs. 1 der genannten Konvention präzisiert, dass die Bezeichnung Zwangs- oder Pflichtarbeit jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat , meint.

1. Zur Zwangs- oder Pflichtarbeit:

Im vorliegenden Fall arbeitete die Bf. ohne Unterlass über mehrere Jahre hindurch gegen ihren Willen beim Ehepaar B., ohne dafür eine Bezahlung zu erhalten. Sie befand sich in einem Land, das ihr fremd war und in dem sie sich überdies unrechtmäßig aufhielt, sodass sie in steter Furcht lebte, von der Fremdenpolizei verhaftet zu werden. Das Ehepaar B. nährte diese Furcht noch und ließ die Bf. glauben, es würde ihren Aufenthalt bald einer Regelung zuführen. Somit ist die erste Voraussetzung (Androhung irgendeiner Strafe) erfüllt, dies umso mehr als die Bf. zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährig war. Was die zweite Voraussetzung (Fehlen der Freiwilligkeit) anlangt, wird niemand ernstlich in Frage stellen, dass der Bf. offenbar keine andere Wahl blieb, als beim Ehepaar B. zu bleiben. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Bf. zumindest einer Zwangsarbeit iSd. Art. 4 EMRK unterworfen wurde.

2. Zur Sklaverei:

In dieser Hinsicht erinnert der GH an die Konvention zur Abschaffung der Sklaverei aus dem Jahr 1926, derzufolge die Sklaverei einen Zustand oder die Stellung eines Individuums kennzeichnet, gegenüber dem (gewisse) Eigentumsrechte geltend gemacht werden . Obwohl die Bf. im vorliegenden Fall eindeutig ihres freien Willens beraubt wurde, kann in ihrem Fall jedoch nicht von Sklaverei im eigentlichen Sinne die Rede sein.

3. Zur Leibeigenschaft:

Was das Halten in Leibeigenschaft anlangt, hat die EKMR in ihrem Bericht zum Fall Van Droogenbroeck/B darunter eine besonders schwerwiegende Form der Verweigerung der Freiheit verstanden. Sie umfasse die Verpflichtung, als Leibeigener jemandem gewisse Dienste auf dessen Grund und Boden zu leisten, verbunden mit der Unmöglichkeit, etwas an diesem Zustand zu ändern . In dieser Hinsicht nahm die EKMR auch Bezug zum 1956 unterzeichneten Zusatzübereinkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken. Eine Leibeigenschaft , wie sie von der Konvention verstanden wird, stellt sich somit als eine Verpflichtung dar, jemandem seine Dienste unter Zwang anzubieten und ist in direktem Zusammenhang mit dem Konzept der Sklaverei in Art. 4 Abs. 1 EMRK zu sehen.

Im vorliegenden Fall betrug die der Bf. zwangsweise auferlegte Arbeitszeit beinahe 15 Stunden pro Tag an sieben Tagen der Woche. Als Minderjährige hatte sie keine Geldmittel, war verwundbar und isoliert, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als beim Ehepaar B. zu bleiben. Sie war diesem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, da ihr Reisepass von der Polizei eingezogen worden war und das Ehepaar B. versprochen hatte, ihren Aufenthalt zu regeln, was jedoch niemals geschah. Die Bf. verfügte weder über Bewegungsfreiheit noch über Freizeit und hatte auch keinen Zugang zu einer Schulausbildung. Kurz gesagt war sie vom Ehepaar B. total abhängig, ohne Hoffnung auf eine Besserung dieser Situation.

Der GH schließt aus all dem, dass die damals minderjährige Bf. auch in Leibeigenschaft gehalten wurde.

4. Zu den positiven Verpflichtungen Frankreichs:

Es ist zu prüfen, ob die französische Gesetzgebung und ihre praktische Umsetzung durch die Gerichte der Bf. ausreichend Schutz im Lichte der positiven Verpflichtungen Frankreichs nach Art. 4 EMRK gewährten.

Die Regierung verweist auf die Art. 225-13 und 225-14 des Code pénal. Diese Bestimmungen nehmen jedoch nicht ausdrücklich auf die in Art. 4 EMRK garantierten Rechte Bezug, sondern ahnden lediglich die Ausbeutung von Personen unter menschenunwürdigen Arbeits- bzw. Wohnbedingungen. Zu prüfen ist dennoch, ob sie eine wirksame Bestrafung der Urheber der Machenschaften, denen die Bf. ausgeliefert war, garantieren konnten.

Im vorliegenden Fall wurde das Ehepaar B. keiner strafrechtlichen Verurteilung zugeführt, da der Generalprokurator gegen das Urteil des Gerichts zweiter Instanz keine Beschwerde an das Höchstgericht erhoben hatte und sich dieses folglich nur mit dem schadenersatzrechtlichen Aspekt des Falles befassen konnte, worauf der Freispruch des Ehepaars B. rechtskräftig wurde. Im Übrigen geht auch aus einem im Jahr 2001 abgelieferten Bericht des Gemischten Ausschusses über die verschiedenen Formen der modernen Sklaverei der französischen Nationalversammlung hervor, dass die Art. 225-13 und 225-14 des Code pénal zum Zeitpunkt der beschwerdegegenständlichen Ereignisse extrem unterschiedliche Interpretationen seitens der französischen Gerichte erfuhren und ihre Anwendung sogar, wie im vorliegenden Fall, verneint wurde.

Unter diesen Umständen gewährleisteten die zum damaligen Zeitpunkt geltenden strafgesetzlichen Bestimmungen der minderjährigen Bf. keinen konkreten und wirksamen Schutz gegen die Handlungen, denen sie zum Opfer fiel. Der GH nimmt zwar zur Kenntnis, dass die einschlägigen Gesetzesbestimmungen mittlerweile revidiert wurden, jedoch hat das auf den vorliegenden Fall keinen Einfluss. Frankreich ist somit seinen aus Art. 4 EMRK erfließenden positiven Verpflichtungen nicht nachgekommen. Verletzung von Art. 4 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 26.209,69 für Kosten und Auslagen, kein Zuspruch einer Entschädigung in Ermangelung eines entsprechenden Antrags der Bf.

(einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Van Droogenbroeck/B v. 9.7.1980 (EKMR)

Van der Mussele/B v. 23.11.1983, A/70, EuGRZ 1985, 477. X. und Y./NL v. 26.3.1985, A/91, EuGRZ 1985, 297.

Seguin/F v. 7.3.2000 (ZE).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.7.2005, Bsw. 73316/01, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 200) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_4/Siliadin.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise