JudikaturAUSL EGMR

Bsw45036/98 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. Juni 2005

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Bosphorus Airways gegen Irland, Urteil vom 30.06.2005, Bsw. 45036/98.

Spruch

Art. 1 EMRK, Art. 1 1. ZP EMRK - Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften.

Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im April 1992 verpflichtete sich die staatliche Fluggesellschaft Jugoslawiens Yugoslav Airlines JAT in einem Leasingvertrag, der Bf., einer Fluggesellschaft mit Sitz in der Türkei, zwei Passagierflugzeuge für die Dauer von 48 Monaten zu überlassen. Im Mai 1992 wurden die Flugzeuge übergeben.

Ab 1991 verhängten die Vereinten Nationen wegen des bewaffneten Konflikts und schwerer Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien eine Reihe von Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Am 17.4.1993 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Verstärkung des Embargos die Resolution 820 (1993). Diese sah unter anderem vor, dass die Mitgliedstaaten alle auf ihrem Territorium befindlichen Flugzeuge beschlagnahmen sollten, die mehrheitlich im Eigentum einer Person oder eines Unternehmens mit Sitz oder Tätigkeitsort in der Bundesrepublik Jugoslawien standen oder von solchen Personen oder Unternehmen kontrolliert wurden. Zur Umsetzung dieser Resolution erließ der Rat der Europäischen Gemeinschaften die VO 990/93 vom 26.4.1993.

Am 17.5.1993 landete eines der von der Bf. geleasten Flugzeuge in Dublin, wo es von TEAM Air Lingus (im Folgenden: TEAM), einem Tochter­unternehmen zweier staatlicher irischer Fluggesellschaften, gewartet werden sollte. Bereits vor Vertragsabschluss erkundigte sich TEAM beim irischen Verkehrsministerium über die Vereinbarkeit dieser Wartungsarbeiten mit dem Embargo. Das Ministerium leitete die Anfrage an den Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen weiter. Nach Abschluss der Wartungsarbeiten am 28.5.1993 wurde das Flugzeug auf Anweisung des irischen Verkehrsministeriums von TEAM nicht freigegeben, da die Freigabe eine Verletzung der Resolution 820 (1993) darstellen würde. Am folgenden Tag teilte das Unternehmen der Bf. mit, dass die Angelegenheit beim Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen anhängig sei und ihm die Freigabe des Flugzeugs vor dessen Entscheidung behördlich untersagt worden sei.

Nach Umsetzung der das Embargo betreffenden Verordnungen der EG durch Irland am 4.6.1993 (S.I. 144 aus 1993) teilte der Verkehrsminister der Flughafenverwaltung mit, dass er die Beschlagnahme des Luftfahrzeugs der Bf. auf dieser gesetzlichen Grundlage angeordnet habe. Am 4.8.1993 entschied der Sanktionsausschuss, dass das Flugzeug in Irland bleiben müsse.

Die Bf. wandte sich daraufhin an den High Court, der am 21.6.1994 entschied, der Verkehrsminister sei nicht zur Beschlagnahme des Flugzeugs verpflichtet gewesen, da dieses nicht unter die Definition des Art. 8 der VO 990/93 falle.(Anm.: Art. 8 der VO (EWG) Nr. 990/93 des Rates vom 26.4.1993 über den Handel zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) lautet: „Alle [...] Luftfahrzeuge, die sich mehrheitlich im Eigentum einer Person oder eines Unternehmens mit Sitz oder Tätigkeitsort in der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) befinden oder von solchen Personen oder Unternehmen kontrolliert werden, werden von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten beschlagnahmt. [...]") Daraufhin ordnete der Verkehrsminister am 5.8.1994 die Beschlagnahme des Flugzeugs nach Art. 9 der VO 990/93 an, da der Verdacht einer Verletzung der VO 990/93 und der VO 1432/92 bestehe. Außerdem focht er das Urteil beim Supreme Court an, der dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorlegte, ob Art. 8 der VO 990/93 dahingehend auszulegen sei, dass er auch Flugzeuge erfasse, die von einem Unternehmen geleast wurden, das seinen Sitz nicht in der Bundesrepublik Jugoslawien hat. Während das Verfahren beim EuGH anhängig war, hob der High Court die Entscheidung des Verkehrsministers vom 5.8.1994 mit Urteil vom 22.1.1996 auf. Nach der Abweisung eines dagegen von der irischen Regierung erhobenen Rechtsmittels durch den Supreme Court wurde das Flugzeug im März 1996 freigegeben.

Der EuGH beantwortete in seinem Urteil vom 30.7.1996 (Rs. C-84/95) die Vorlagefrage dahingehend, dass auch die vom Supreme Court bezeichneten Flugzeuge in den Anwendungsbereich der VO 990/93 fielen. Am 6.8.1996 setzte der Verkehrsminister die auf Art. 8 der genannten Verordnung gestützte Beschlagnahme wieder in Kraft. Nachdem der Leasingvertrag im Mai 1996 abgelaufen und die VO 990/93 am 4.12.1995 aufgehoben worden war, wurde das Flugzeug im Juli 1997 an die Yugoslav Airlines JAT übergeben.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).

Zur Verfahrenseinrede der Regierung:

Die Regierung behauptet, die Bf. habe es verabsäumt, alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen, da sie weder eine Schadenersatzklage gegen TEAM noch eine Verfassungsbeschwerde erhoben habe. Außerdem hätte die Beschwerde binnen sechs Monaten ab dem Urteil des EuGH eingebracht werden müssen. Die Europäische Kommission fügt hinzu, dass der Supreme Court dem EuGH keine Frage hinsichtlich der VO 2472/94 vorgelegt hat, da sich die Bf. im innerstaatlichen Verfahren nicht auf diese VO bezogen habe.

Die IV. Kammer hat es in ihrer Zulässigkeitsentscheidung vom 13.9.2001 abgelehnt, von der Bf. die Beschreitung des Zivilrechtswegs bzw. die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu verlangen. Als endgültige Entscheidung, mit der die Frist von sechs Monaten zu laufen begann, wurde die Entscheidung des Supreme Court vom November 1996 angesehen, mit der das Urteil des EuGH umgesetzt wurde. Die vorliegenden Einreden der Regierung sind genau dieselben, die bereits in der Zulässigkeitsentscheidung zurückgewiesen wurden. Es gibt keinen Grund, diesbezüglich von der Ansicht der Kammer abzuweichen. Ohne die Frage endgültig zu entscheiden, ob es einer dritten Partei, die sich dem Verfahren nach der Zulässigkeitserklärung angeschlossen hat, freisteht, Einreden zu erheben, erlaubt nach Ansicht der Großen Kammer das Vorbringen der Kommission nicht den Schluss, die Bf. habe es verabsäumt, den innerstaatlichen Instanzenzug auszuschöpfen. Die VO 2472/94 umfasste ausdrücklich nur Flugzeuge, die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens nicht bereits nach der VO 990/93 beschlagnahmt waren. Die Rechtmäßigkeit der auf dieser Verordnung beruhenden Beschlagnahme wurde von der Bf. aber in dem innerstaatlichen Verfahren sehr wohl angefochten. Der GH weist daher alle Einreden zurück (einstimmig).

Das Vorbringen der Parteien:

Nach Ansicht der Regierung ist der entscheidende Punkt, ob die angefochtene Handlung im Ermessen des Staates gelegen oder zur Erfüllung einer aus seiner Mitgliedschaft zu einer internationalen Organisation erwachsenden Verpflichtung erfolgt ist. Der EGMR wäre nur dann zur Überprüfung dieses Akts zuständig, wenn er im Ermessen des Staates gelegen wäre. Nach Ansicht der Regierung habe Irland jedoch bloß seine aus der Resolution 820 (1993) bzw. der VO 990/93 erwachsenden zwingenden Verpflichtungen erfüllt. Der EGMR habe daher nur zu prüfen, ob der durch die EG gewährte Grundrechtsschutz dem Niveau der EMRK entspreche.

Die Bf. entgegnet, die Art und Weise, wie Irland in Umsetzung des Sanktionsregimes ihr Flugzeug beschlagnahmte, stelle sehr wohl eine überprüfbare Ausübung von Ermessen im Sinne des Art. 1 EMRK und eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK dar.

Zu Art. 1 EMRK:

Es ist unbestritten, dass die angefochtene Beschlagnahme des von der Bf. geleasten Flugzeugs von den Behörden des belangten Staates auf dessen Territorium in Durchführung einer Entscheidung des irischen Verkehrsministers erfolgte. Unter solchen Umständen fiel die bf. Gesellschaft als Adressatin dieser Maßnahme unter die Hoheitsgewalt des irischen Staates. Ihre gegen diesen Akt gerichtete Beschwerde ist daher ratione loci, personae und materiae mit der Konvention vereinbar.

Soweit sich das Vorbringen der Parteien auf den Umfang der Verantwortlichkeit des belangten Staates bezieht, betreffen sie die Begründetheit der Beschwerde nach Art. 1 1. Prot. EMRK. Der GH wird sie daher unter dieser Bestimmung prüfen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK:

1. Die anwendbare Regelung:

Es ist unbestritten, dass die Beschlagnahme des Flugzeugs einen Eingriff in das Eigentum der Bf. darstellt. Nach Ansicht des GH handelt es sich bei den verhängten Sanktionen um einen Fall der Regelung der Nutzung von Eigentum, aus dem die frühere Republik Jugoslawien Nutzen zog, und bei der angefochtenen Beschlagnahme des Flugzeugs um eine Maßnahme zur Umsetzung dieses Sanktionssystems. Der von der Bf. erlittene Verlust des Nutzens aus dem Leasingvertrag stellt ein bestimmendes Element dieser Regelung der Nutzung von Eigentum dar, weshalb der zweite Absatz des Art. 1 1. Prot. EMRK anwendbar ist. Die allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts, auf die Art. 1 Abs. 1 1. Prot. EMRK ausdrücklich Bezug nimmt, bedürfen daher keiner gesonderten Erörterung.

2. Die rechtliche Grundlage des Eingriffs:

Die Parteien sind sich vor allem darüber uneins, ob die Beschlagnahme stets auf einer sich aus Art. 8 der VO 990/93 ergebenden rechtlichen Verpflichtung Irlands beruhte.

Der Standpunkt der Bf. ist im Wesentlichen der, dass sie nicht die Bestimmungen der Verordnung anfocht, sondern vielmehr deren Umsetzung.

Einmal in Kraft getreten, galt die VO 990/93 gemäß Art. 249 EGV unmittelbar und war „in allen ihren Teilen verbindlich". Ihre unmittelbare Anwendbarkeit wurde nicht bestritten und kann nach Ansicht des GH auch nicht in Frage gestellt werden. Durch die Kundmachung im Amtsblatt am 28.4.1993 wurde die Verordnung Bestandteil des innerstaatlichen Rechts. Die später erfolgte Erlassung des Ausführungsgesetzes (S.I. 144 aus 1993) hatte keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme, sondern regelte nur bestimmte Einzelheiten ihrer Umsetzung. Die irischen Behörden erachteten sich zu Recht dazu verpflichtet, jedes Luftfahrzeug zu beschlagnahmen, von dem sie annahmen, es falle in den Anwendungsbereich des Art. 8 der VO 990/93. Ihre Entscheidung, dass diese Bestimmung auf das von der Bf. geleaste Flugzeug zutreffe, wurde später vom EuGH bestätigt.

Aus den im Folgenden näher darzulegenden Gründen hatte der Supreme Court weder vor der Anrufung des EuGH noch danach wirkliche Entscheidungsfreiheit.

Erstens war der Supreme Court gemäß Art. 234 EGV zur Anrufung des EuGH verpflichtet, da seine Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden konnte. Die Antwort auf die Vorlagefrage war nicht eindeutig (die Ansicht des Sanktionsausschusses und des Verkehrsministers widersprachen der des High Court), die Vorlagefrage war von zentraler Bedeutung für die Entscheidung und es gab noch kein Urteil des EuGH zu diesem Punkt. Zweitens war der Supreme Court an das Urteil des EuGH gebunden. Drittens war die Entscheidung des EuGH entscheidend für den Ausgang des innerstaatlichen Verfahrens. Angesichts der Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage musste der Supreme Court von der Anwendbarkeit der VO 990/93 auf das von der Bf. geleaste Flugzeug ausgehen. Aus diesen Gründen war der angefochtene Eingriff nach Ansicht des GH nicht das Ergebnis einer Ermessensübung durch die irischen Behörden. Er erfolgte vielmehr zur Erfüllung der aus dem Gemeinschaftsrecht – insbesondere Art. 8 der VO 990/93 – erfließenden Verpflichtungen des irischen Staates.

3. Zur Rechtfertigung der Beschlagnahme:

a) Der anzuwendende allgemeine Ansatz:

Die angefochtene Handlung diente dem allgemeinen Interesse der Befolgung der aus der Mitgliedschaft in der EG erfließenden rechtlichen Verpflichtungen Irlands. Dies ist ein legitimes Interesse von beträchtlichem Gewicht. Die Konvention ist im Lichte der auf die Beziehungen der Vertragsstaaten anwendbaren völkerrechtlichen Grundsätze und Regeln auszulegen. Zu diesen Grundsätzen gehört auch der des pacta sunt servanda. Die Befolgung des Gemeinschaftsrechts durch die Vertragsstaaten stellt daher ein legitimes öffentliches Interesse iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK dar. Die Frage ist daher, ob dieses wichtige Interesse den angefochtenen Eingriff in die Eigentumsrechte der Bf. rechtfertigen konnte.

Einerseits schließt die Konvention die Übertragung von Hoheitsgewalt auf eine internationale oder supranationale Organisation nicht aus. Als Träger solcher übertragener Hoheitsgewalt ist diese Organisation nicht nach der Konvention verantwortlich für die Entscheidungen ihrer Organe, solange sie nicht selbst Vertragspartei ist. Andererseits ist eine Vertragspartei nach Art. 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen ihrer Organe verantwortlich, unabhängig davon, ob diese sich aus innerstaatlichem Recht oder aus der Notwendigkeit ergab, völkerrechtlichen Verpflichtungen zu entsprechen. In Abwägung dieser beiden Positionen hat der GH ausgesprochen, dass es mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar wäre, die Vertragsstaaten in jenen Bereichen, in denen sie ihre Hoheitsgewalt an eine internationale Organisation übertragen haben, gänzlich aus der Verantwortlichkeit zu entlassen. Nach Ansicht des GH ist staatliches Handeln, das solchen rechtlichen Verpflichtungen entspricht, solange gerechtfertigt, als die jeweilige Organisation die Grundrechte in einer Weise schützt, die hinsichtlich der materiellen Garantien und des Mechanismus zur Überprüfung ihrer Einhaltung als zumindest gleichwertig mit dem durch die EMRK gewährten Schutz angesehen werden kann.

Wenn ein solcher gleichwertiger Schutz anzunehmen ist, gilt die Vermutung, dass ein Staat den Anforderungen der Konvention nicht widersprochen hat, wenn er bloß seine sich aus der Mitgliedschaft in dieser Organisation ergebenden rechtlichen Verpflichtungen erfüllt hat. Eine solche Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn unter den Umständen des Einzelfalls die Konventionsrechte offensichtlich unzureichend geschützt wurden. Für alle Akte, die nicht in den Bereich seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen fallen, bleibt ein Staat weiterhin voll verantwortlich nach der Konvention. Da der angefochtene Akt nur in Befolgung der sich aus der Mitgliedschaft zur EG ergebenden rechtlichen Verpflichtungen Irlands erfolgte, wird der GH nun prüfen, ob vermutet werden kann, dass Irland der EMRK entsprach, als es diesen Verpflichtungen nachkam, und ob diese Vermutung unter den Umständen des vorliegenden Falles widerlegt wurde.

b) Galt eine Vermutung der Befolgung der Konvention? Während der Vertrag zur Gründung der EG ursprünglich keine ausdrücklichen Bestimmungen über den Schutz der Grundrechte enthielt, stellte der EuGH später fest, dass diese Rechte zu den von ihm zu wahrenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehörten und der EMRK besondere Bedeutung als Quelle solcher Rechte zukomme. Die Beachtung der Grundrechte ist inzwischen zu einer Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines Akts der Gemeinschaft geworden, wobei der EuGH sich insbesondere auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR bezieht.

Im Zeitpunkt der angefochtenen Beschlagnahme des Flugzeugs hatte diese Entwicklung der Rechtsprechung bereits Eingang in verschiedene Vertragsänderungen gefunden – vor allem in die Einheitliche Europäische Akte und den Vertrag über die Europäische Union. Diese Entwicklung hat noch weiter angehalten. Die Bestimmungen der Europäischen Grundrechtecharta sind wesentlich von der EMRK beeinflusst und die Charta anerkennt die EMRK als menschenrechtlichen Mindeststandard. Art. I-9 des noch nicht in Kraft getretenen Vertrags über eine Verfassung der Europäischen Union sieht den Beitritt der EU zur EMRK und die Verbindlichkeit der Charta als Primärrecht vor. Die Wirksamkeit solcher materieller Garantien hängt von den Kontrollmechanismen zur Sicherstellung der Beachtung dieser Rechte ab. Es ist richtig, dass natürliche Personen keinen unbeschränkten Zugang zum EuGH genießen. Sie können keine Vertragsverletzungsklage einbringen und sind nur eingeschränkt zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage befugt, weshalb auch ihre Möglichkeit einer Inzidentrüge eingeschränkt ist. Außerdem können sie keine Klage gegen eine andere natürliche Person erheben. Dennoch stellen von Gemeinschaftsorganen oder einem Mitgliedstaat erhobene Klagen an den EuGH ein wichtiges Instrument zur Kontrolle der Einhaltung der EMRK dar, das indirekt den Individuen zu Gute kommt. Auch können natürliche Personen Amtshaftungsklagen vor dem EuGH erheben. Daneben bietet das Gemeinschaftssystem Individuen vor allem durch die innerstaatlichen Gerichte im Falle einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts ein Rechtsmittel gegen einen Mitgliedstaat oder eine andere Person. Die Rolle der innerstaatlichen Gerichte bei der Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht und dessen Grundrechtsgarantien wurde vor allem durch die Rechtsprechung des EuGH gestärkt. Der EuGH hält seine Kontrolle über die Anwendung des Gemeinschaftsrechts – einschließlich dessen Grundrechtsgarantien – durch die innerstaatlichen Gerichte im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV aufrecht. Auch wenn seine Rolle auf die Beantwortung der vorgelegten Frage über die Auslegung oder Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht beschränkt ist, wird seine Antwort oft entscheidend für den Ausgang des innerstaatlichen Verfahrens sein, wie es auch im vorliegenden Rechtsstreit der Fall war.

Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass der Grundrechtsschutz des Gemeinschaftsrechts als gleichwertig mit dem durch die EMRK gebotenen angesehen werden kann und auch im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung angesehen werden konnte. Daraus ergibt sich die Vermutung, dass Irland nicht gegen die Konvention verstieß, als es seine sich aus der Mitgliedschaft zur EG erwachsenden Verpflichtungen umsetzte.

c) Wurde diese Vermutung im vorliegenden Fall widerlegt? Der GH hat die Art des Eingriffs, das mit der Beschlagnahme und dem Sanktionsmechanismus verfolgte öffentliche Interesse und die Entscheidung des EuGH, an die der Supreme Court gebunden war, in Betracht gezogen. Er erachtet es als eindeutig, dass keine Fehlfunktion im Mechanismus zur Kontrolle der Beachtung der Konventionsrechte vorliegt. Da somit nicht gesagt werden kann, der Schutz der Konventionsrechte der Bf. wäre offensichtlich unzulänglich gewesen, wurde die Vermutung der Beachtung der Konvention durch den belangten Staat nicht widerlegt.

4. Schlussfolgerung unter Art. 1 1. Prot. EMRK:

Aus diesen Feststellungen folgt, dass die Beschlagnahme des Flugzeugs keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK begründete (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richterinnen und Richter Rozakis, Tulkens, Traja, Botoucharova, Zagrebelsky und Garlicki; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Ress).

Vom GH zitierte Judikatur:

CFDT/EG (EKMR) v. 10.7.1978, EuGRZ 1979, 431.

M. Co./D (EKMR) v. 9.2.1990.

Cantoni/F v. 15.11.1996, EuGRZ 1999, 193; ÖJZ 1997, 579. Matthews/GB v. 18.2.1999, NL 1999, 58; EuGRZ 1999, 200; ÖJZ 2000, 34. Waite und Kennedy/D v. 18.2.1999, NL 1999, 17; EuGRZ 1999, 207; ÖJZ 1999, 776.

Moosbrugger/A (ZE) v. 25.1.2000.

Al-Adsani/GB v. 21.11.2001, NL 2001, 247; EuGRZ 2002, 403.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.6.2005, Bsw. 45036/98, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 172) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_4/Bosphorus_Airways.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise