Bsw42758/98 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache K.A. und A.D. gegen Belgien, Urteil vom 17.2.2005, Bsw. 42758/98 und Bsw. 45558/99.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EMRK, Art. 8 EMRK - Verurteilung wegen Ausübung sadomasochistischer Praktiken.
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der ErstBf. ist von Beruf Richter, während die ZweitBf. als Ärztin tätig ist. Zwischen 1990 und 1996 nahmen beide an sadomasochistischen Praktiken in einem einschlägigen Club und in privat gemieteten Räumlichkeiten teil. Die Bf. fertigten darüber ein Video an, das unter anderem zeigte, wie sie ihr Opfer mit brennendem Wachs und Elektroschocks quälten und ihm massive Gegenstände in Anus bzw. Scheide einführten. In einigen Szenen sah man, wie das Opfer vor Schmerzen brüllte, kollabierte oder das Bewusstsein verlor. In der Folge wurden gerichtliche Ermittlungen gegen die Bf. eingeleitet. Mit Urteil vom 30.9.1997 sprach sie das Gericht zweiter Instanz der vorsätzlichen Körperverletzung unter Einwilligung des Verletzten gemäß §§ 392 und 398 des belgischen Strafgesetzes schuldig, während es beim ErstBf. auch eine Anstiftung zu unzüchtigen Handlungen bzw. zur Prostitution nach § 380 Abs. 1 leg. cit. als erwiesen ansah. Er wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr sowie einer Geldstrafe von BEF 100.000, (ca. EUR 2.478, ) verurteilt, ferner verbot ihm das Gericht die Ausübung seines Berufes und sonstiger öffentlicher Funktionen für die Dauer von fünf Jahren. Die ZweitBf. wurde zu einer jeweils bedingten Haftstrafe und Geldbuße in Höhe von BEF 7.500, (ca. EUR 185, ) verurteilt. In seiner Begründung stützte sich das Gericht auf das von den Behörden beschlagnahmte Video, das zeigte, wie die Bf. mehrere Male das Flehen ihres Opfers um Gnade ein vorher vereinbartes Codewort, bei dem die Zufügung von Schmerzen sofort einzustellen war
ignoriert hatten und stattdessen mit ihrer Prozedur fortgefahren waren. Bei diesen Vorgängen wurden auch große Mengen von Alkohol konsumiert, was in diesem Bereich durchaus nicht der Norm entsprach. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Bf. die in Frage stehenden Handlungen in vollem Bewusstsein, damit gegen strafrechtliche Bestimmungen zu verstoßen, getätigt hätten. Die von ihnen ausgeübten Praktiken hätten zwar zu keinen dauerhaften Gesundheitsschäden geführt, jedoch beim Opfer Gefühle des Schmerzes, der Angst und der Erniedrigung hervorgerufen. Sie wären als grausam, gewalttätig und schockierend einzustufen, und somit geeignet, die Menschenwürde zu verletzen. Was schließlich die Verurteilung des ErstBf. nach § 380 Abs. 1 des belgischen Strafgesetzes anlange, habe dieser dem Club mehrere Monate hindurch seine Frau als Sexsklavin gegen Entgelt zur Verfügung gestellt.
Die Bf. riefen darauf den Cour de cassation an. Bei der am 6.1.1998 in ihrer Abwesenheit stattfindenden öffentlichen Verhandlung wurde sowohl die Stellungnahme des Berichterstatters als auch jene des Generalanwalts mündlich vorgetragen. Am selben Tag bestätigte der Cour de cassation das Urteil des Gerichts zweiter Instanz und sprach zusätzlich die Entlassung des ErstBf. aus, da dieser dem Ansehen des Richterstandes großen Schaden zugefügt und somit das Recht auf Ausübung seines Berufes verloren hätte. Als Folge seiner Absetzung verlor der ErstBf. sein Anrecht auf Bezug einer Beamtenpension.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), weil sie vor der Verhandlung beim Cour de cassation weder in die Stellungnahme des Berichterstatters noch in jene des Generalanwalts Einsicht hätten nehmen können. Sie rügen ferner eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens), da ihre Verurteilung in ihre Privatsphäre eingegriffen habe und überdies nicht gesetzlich vorgesehen gewesen sei.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
Der GH weist darauf hin, dass die mündlich vorgetragenen Stellungnahmen des Berichterstatters bzw. Generalanwalts erst anlässlich der öffentlichen Verhandlung vor dem Cour de cassation erfolgten. Den Verfahrensparteien, den Richtern und der Öffentlichkeit wurde somit gleichermaßen Gelegenheit gegeben, den Inhalt der unterbreiteten Schlussfolgerungen und Empfehlungen in Erfahrung zu bringen. Eine Verletzung des Gebots der Waffengleichheit liegt somit nicht vor.
Was die fehlende Gelegenheit der Bf. angeht, der Stellungnahme des Generalanwalts in kontradiktorischer Form entgegenzutreten, hätten sie eine solche Vorgangsweise für den Fall ihres Erscheinens vor Gericht ebenso beantragen können wie eine Vertagung der Verhandlung. Darüber hinaus wäre es ihnen möglich gewesen, beim Gericht um Erlaubnis zur Abgabe eines Memorandums zwecks Erörterung in der Verhandlung anzufragen. Das Nichterscheinen der Bf. und ihrer Anwälte bei der öffentlichen Verhandlung vor dem Cour de cassation kann den Behörden somit nicht zugerechnet werden. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zum Vorliegen einer Verletzung von Art. 7 EMRK:
Der GH hat bereits anlässlich der Zulässigkeitsprüfung entschieden, die Beschwerde auch unter dem Blickwinkel des Art. 7 EMRK (nullum crimen, nulla poena sine lege) zu prüfen.
Im vorliegenden Fall hat sich eine Prüfung darauf zu beschränken, ob die Verurteilung der Bf. zum Zeitpunkt der Deliktsbegehung auf einer ausreichend erkennbaren, zugänglichen und vorhersehbaren Gesetzesgrundlage beruhte.
Die Bf. haben die Bestimmungen des belgischen Strafgesetzes, auf denen ihre Verurteilung basierte, nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr vorgebracht, in einer progressiven, toleranten und liberalen Gesellschaft zu leben, in der jegliche Form gemeinsam erlebter sexueller Erfahrung geduldet sei. Ihre Sexualpraktiken könnten daher einen Durchschnittsbürger nicht mehr schockieren und sollten daher von jeglicher Strafbarkeit ausgenommen sein. Darüber hinaus habe es in der belgischen Rechtsprechung bisher noch keinen vergleichbaren Präzedenzfall gegeben.
Der GH stellt fest, dass die gegenständlichen Sexualpraktiken extrem gewalttätig und insofern auch höchst ungewöhnlich waren. Es darf insofern nicht verwundern, wenn zu dieser Frage noch keine gefestigte Judikatur vorliegt. Das Fehlen eines Präzedenzfalles ist jedenfalls kein relevanter Faktor, der die Behörden von Strafverfolgungsmaßnahmen befreit hätte. Dies gilt auch für den Einwand, das Opfer hätte den Verletzungshandlungen zugestimmt. Wie bereits die belgischen Gerichte festgestellt haben, hätte der ErstBf. in seiner Eigenschaft als Richter wissen müssen, dass in einem solchen Fall die Einwilligung des Opfers weder einen Rechtfertigungsgrund noch einen Schuldausschließungsgrund begründen konnte.
In diesem Zusammenhang sind zwei Faktoren zu berücksichtigen: Zum einen haben die Bf. die für masochistische Praktiken üblicherweise geltenden Regeln nicht beachtet, indem sie bei ihren Treffen große Mengen Alkohol zu sich nahmen und dadurch die Kontrolle über die Situation verloren, zum anderen wurde von ihnen das Schreien des Opfers um Gnade oder Stopp zwei Codewörter, ab denen vereinbarungsgemäß die Zufügung von Schmerzen einzustellen war völlig außer Acht gelassen. Darüber hinaus haben die Bf. extra zu diesem Zweck private Räumlichkeiten angemietet, weil die von ihnen ausgeübten Sexualpraktiken dem Reglement des von ihnen besuchten Clubs nicht entsprachen.
Unter diesen Umständen hätte den Bf. das Risiko einer Strafverfolgung wegen Körperverletzung durchaus bewusst sein müssen. Mit Rücksicht darauf, dass die belgischen Gerichte den Bf. ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und ihre Entscheidungen auch sorgfältig begründet haben, ist eine Überschreitung der Grenzen einer vertretbaren Gesetzesauslegung nicht festzustellen. Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Der GH erinnert daran, dass das von Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Eingehen sexueller Beziehungen auf dem Recht auf Verfügung über den eigenen Körper, das einen integralen Bestandteil der einer Person zukommenden Privatautonomie bildet, basiert. Bei Eingriffen in die Sexualität muss es sich daher um besonders schwerwiegende Umstände handeln, um den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK gerecht zu werden.
Im vorliegenden Fall ist die Verurteilung der Bf. angesichts der
Eigenart der ihnen zum Vorwurf gemachten Sexualhandlungen nicht als
unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Privatleben zu werten. Auch für
den Fall, dass ein Individuum eine schrankenlose Ausübung sexueller
Praktiken für sich in Anspruch nehmen sollte, steht dem der Wunsch
des Opfers derartiger Praktiken entgegen, sein Recht auf freie Wahl
von sexuellen Ausdrucksformen in gleichem Maße zu berücksichtigen.
Dies war hier nicht der Fall: Wie bereits das Gericht zweiter Instanz
festgestellt hat, waren die Bemühungen der Bf., der Bitte des Opfers
um Gnade nachzukommen und die Zufügung von Schmerzen einzustellen,
offenbar erfolglos geblieben. Es stellte fest, dass die Gewalt eskaliert war, und auch die Bf. selbst nicht mehr wussten, wohin dies führen würde.
Was schließlich die verhängten Strafen und ihre Folgewirkungen angeht, sind diese keineswegs als unverhältnismäßig anzusehen. Dies gilt insbesondere für den ErstBf., der bezüglich der von ihm geleisteten Dienstjahre zum Bezug einer Privatpension berechtigt und folglich nicht jeglicher Existenzmittel beraubt ist. Die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung der Bf. war somit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Dudgeon/GB v. 22.10.1981, A/45, EuGRZ 1983, 488.
Smith Grady/GB v. 27.9.1999, NL 1999, 156; ÖJZ 2000, 614.
Kress/F v. 7.6.2001, NL 2001, 115.
Streletz ua./D v. 22.3.2001, NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 210; ÖJZ 2002,
274.
Christine Goodwin/GB v. 1.7.2002, NL 2002, 145; ÖJZ 2003, 766.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.2.2005, Bsw. 42758/98 und Bsw. 45558/99, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 30) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/05_1/K.A..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.