JudikaturAUSL EGMR

Bsw31821/96 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. November 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Issa u.a. gegen die Türkei, Urteil vom 16.11.2004, Bsw. 31821/96.

Spruch

Art. 1 EMRK - Anwendbarkeit der EMRK auf Militäraktion im Nordirak. Keine materielle Prüfung der Beschwerdepunkte.

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bsw. wurde von sechs Frauen irakischer Staatsangehörigkeit erhoben, deren Söhne bzw. Ehemänner im April 1995 ums Leben kamen. Sie leben in Azadi, einem Dorf in der Provinz Sarsang im nördlichen Irak nahe der türkischen Grenze und verdienen wie ihre verstorbenen Angehörigen ihren Lebensunterhalt mit der Schafzucht. Am Morgen des 2.4.1995 verließen die Männer bzw. Söhne der Bf. gemeinsam mit vier der Bf. ihr Dorf, um ihre Schafe auf die Weide zu führen. Nach ca. 15 Minuten trafen sie auf eine Gruppe uniformierter und bewaffneter Männer. Diese beschimpften die Schafhirten, schlugen sie mit ihren Gewehrkolben und versetzten ihnen Fußtritte und Ohrfeigen. Dann schickten sie die vier Frauen zurück in ihr Dorf und führten die Männer ab. Nach Darstellung der Bf. handelte es sich bei den Männern um Soldaten der türkischen Armee. Diese führte im April 1995 eine groß angelegte Aktion im Nordirak durch, an der ca. 35.000 Soldaten beteiligt waren, die 40 bis 50 km Richtung Süden in den Irak vordrangen.

In der Zwischenzeit waren die beiden übrigen Bf. mit einigen weiteren Frauen aus dem Dorf aufgebrochen, um ihre Männer zu suchen. Sie machten sich Sorgen um ihre Angehörigen, da sie Gewehrschüsse gehört hatten. Als sie ihre Männer in Begleitung der Soldaten sahen, feuerten diese in ihre Richtung, woraufhin die Frauen in ihr Dorf zurückkehrten. Nachdem sie dort von den Vorfällen berichtet hatten, machten sich einige Männer gemeinsam mit Vertretern der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) auf den Weg zu der für die Koordination der gesamten türkischen Offensive zuständigen Garnison in der in der Nähe gelegenen Stadt Anshki. Sie ersuchten den zuständigen Offizier um die Freilassung der Schafhirten. Nachdem der Offizier zuerst leugnete, etwas über den Vorfall zu wissen, versprach er schließlich den Vertretern der KDP, für die Freilassung der Schafhirten zu sorgen. Da die Männer nicht freigelassen wurden, unternahmen die Vertreter der KDP am selben Tag noch mehrere weitere erfolglose Versuche, Informationen über ihren Verbleib zu erhalten. Nachdem sich die türkische Armee zurückgezogen hatte, machten sich einige Männer aus dem Dorf auf die Suche nach den Vermissten. Sie fanden ihre Körper nahe der Stelle, wo sie zuletzt in Begleitung der Soldaten gesehen worden waren. Die Leichen waren grausam verstümmelt und wiesen mehrere Schussverletzungen auf.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung der EMRK durch die unrechtmäßige Festnahme, Misshandlung und Tötung ihrer Verwandten durch Angehörige der türkischen Armee während der Offensive im Nordirak im April 1995. Die Reg. wendet ein, die verstorbenen Angehörigen der Bf. wären nicht der Hoheitsgewalt (jurisdiction) der Türkei unterstanden. Die ZE Bankovic ua. zeige, dass der GH nur ausnahmsweise die extraterritoriale Ausübung von Herrschaftsgewalt iSv. Art. 1 EMRK anerkenne, da solche Handlungen der Souveränität eines anderen Staates unterlägen. Der Irak sei ein unabhängiger und souveräner Staat, der die effektive Hoheitsgewalt über sein Territorium ausübe. Zwar hätten türkische Truppen zwischen 19.3. und 16.4.1995 im Nordirak operiert, die bloße Anwesenheit türkischer Streitkräfte für einen beschränkten Zeitraum könne jedoch nicht mit der Ausübung von Hoheitsgewalt gleichgesetzt werden. Da sie nicht die effektive Kontrolle über irgendeinen Teil des Irak ausgeübt habe, könne die Türkei für die ihr von den Bf. vorgeworfenen Handlungen auch nicht verantwortlich gemacht werden. Überdies hätten sich in dem Gebiet, in dem die Angehörigen der Bf. zu Tode kamen, gar keine Soldaten aufgehalten.

Zur Verfahrenseinrede der Reg.:

Die Ausübung von Hoheitsgewalt ist eine notwendige Voraussetzung für die Verantwortlichkeit eines Konventionsstaates für ihm zurechenbare Handlungen oder Unterlassungen. Nach der st. Rspr. des GH ist der Begriff „Hoheitsgewalt" (jurisdiction) im Sinne des Völkerrechts zu verstehen. Aus der Sicht des Völkerrechts ist die Hoheitsgewalt eines Staates iSv. Art. 1 EMRK grundsätzlich territorialer Natur. Es gilt die Vermutung, dass sie sich gewöhnlich auf sein gesamtes Territorium erstreckt.

Die Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK ist aber nicht zwingend auf das Staatsgebiet der Vertragsstaaten beschränkt. In Ausnahmefällen können auch Handlungen eines Konventionsstaats, die außerhalb seines Territoriums vorgenommen werden oder dort Auswirkungen haben (extraterritoriale Akte), als Ausübung von Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK gewertet werden.

Die Verantwortung eines Vertragsstaats kann demnach etwa dann gegeben sein, wenn er infolge einer – rechtmäßigen oder rechtswidrigen – militärischen Operation die tatsächliche Kontrolle über ein außerhalb seines Territoriums gelegenes Gebiet ausübt. Die Verpflichtung, in einem solchen Gebiet die in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten sicherzustellen, resultiert aus eben dieser Kontrolle, ob diese nun direkt ausgeübt wird, durch die Streitkräfte oder durch eine untergeordnete lokale Verwaltung. Es ist dabei nicht notwendig festzustellen, ob der Vertragsstaat tatsächlich eine detaillierte Kontrolle über die Politik und die Handlungen der Behörden in dem von ihm kontrollierten, außerhalb seines Territoriums gelegenen Gebiet ausübt. Auch eine Gesamtkontrolle über ein Gebiet kann die Verantwortlichkeit eines Konventionsstaates begründen. Überdies kann ein Staat auch für eine Verletzung der durch die Konvention gewährleisteten Rechte und Freiheiten von Personen verantwortlich sein, die sich auf dem Territorium eines anderen Staates befinden, aber durch seine – rechtmäßig oder rechtswidrig – in diesem Staat operierenden Organe unter seiner Autorität und Kontrolle stehen. In solchen Situationen ergibt sich die Zurechenbarkeit aus Art. 1 EMRK, der nicht dahingehend ausgelegt werden kann, dass er einem Vertragsstaat die Begehung von Konventionsverletzungen auf dem Territorium eines anderen Staates erlaube, deren Begehung ihm auf seinem eigenen Territorium untersagt ist.

Der GH muss im Lichte dieser in seiner bisherigen Rspr. herausgebildeten Grundsätze prüfen, ob sich die Verwandten der Bf. aufgrund der extraterritorialen Akte der Türkei unter deren Herrschaftsgewalt bzw. effektiven Kontrolle befanden und damit ihrer Hoheitsgewalt unterstanden.

Es ist unbestritten, dass die türkische Armee zwischen 19.3. und 16.4.1995 massive militärische Operationen im Nordirak durchführte. Der GH schließt die Möglichkeit nicht aus, dass die Türkei aufgrund dieser Militäraktion vorübergehend die umfassende effektive Kontrolle über einen bestimmten Teil des nördlichen Irak ausübte. Wenn ausreichende Beweise für die Annahme vorliegen, dass sich die Verstorbenen in diesem Gebiet aufhielten, wären sie demnach logischerweise der Hoheitsgewalt der Türkei (und nicht der des Irak, der kein Konventionsstaat ist) unterstanden.

Trotz der großen Zahl der an der Militäraktion beteiligten Soldaten scheint die Türkei nicht die effektive Gesamtkontrolle über das gesamte Gebiet des nördlichen Irak ausgeübt zu haben. Die Situation entspricht insofern nicht der in Nordzypern, die im Fall Loizidou/TR zu beurteilen war.

Die zentrale Frage im vorliegenden Fall ist, ob zur fraglichen Zeit türkische Truppen in dem Gebiet operierten, in dem sich die Tötungen ereigneten. Das weitere Schicksal der Bsw. bezüglich der Tötung der Verwandten der Bf. hängt von der Klärung dieser Voraussetzung ab. Die Reg. hat vehement bestritten, dass ihre Truppen in der Gegend rund um das Dorf Azadi aktiv gewesen seien.

Die Bf. haben vorgebracht, ihre Verwandten seien von türkischen Soldaten getötet worden. Sie konnten jedoch keine Details über die Identität des Kommandanten oder das beteiligte Regiment angeben. Auch muss festgehalten werden, dass keine unabhängigen Augenzeugen die Anwesenheit türkischer Soldaten in dem Gebiet oder die Festnahme der Schafhirten bestätigen können.

Der GH kann anhand der ihm vorliegenden Dokumente nicht feststellen, ob die Verwandten der Bf. durch Schüsse türkischer Soldaten zu Tode kamen. Auch kann die Tatsache nicht außer Acht gelassen werden, dass das Gebiet, in dem sich der Zwischenfall ereignete, zum fraglichen Zeitpunkt Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen Kämpfern der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und der KDP war. Überdies steht trotz der Nachrichtenberichte und offiziellen Aufzeichnungen, die die Durchführung grenzüberschreitender Militäraktionen der türkischen Armee im Nordirak im fraglichen Zeitraum bestätigen, nicht mit Sicherheit fest, dass türkische Soldaten bis in das Gebiet rund um das Dorf Azadi vordrangen.

Die Behauptungen der Bf., sie hätten sich an einen Offizier der türkischen Streitkräfte gewandt, um die Freilassung ihrer Verwandten und – nach der Entdeckung ihrer Leichen – eine Untersuchung des Vorfalls durch die türkischen Behörden zu erwirken, wurden von der Reg. bestritten. Da die Bf. keine überzeugenden Beweise zur Untermauerung ihrer Behauptung vorlegen konnten, muss der GH diese als unbegründet erachten.

Auf der Grundlage des vorliegenden Materials erachtet es der GH als nicht im erforderlichen Grad bewiesen, dass die türkische Armee Operationen im fraglichen Gebiet – genauer in den Hügeln rund um Azadi, wo sich die Opfer zum fraglichen Zeitpunkt aufhielten – durchführte.

Die Verwandten der Bf. unterstanden daher nicht der Hoheitsgewalt des belangten Staates iSv. Art. 1 EMRK. Es ist daher nicht notwendig, die Beschwerdepunkte materiell zu prüfen.

Vom GH zitierte Judikatur:

Loizidou/TR (vorläufige Einreden) v. 23.3.1995, A/310 (= NL 1995, 83

= ÖJZ 1995, 629).

Loizidou/TR v. 18.12.1996 (= EuGRZ 1997, 555 = ÖJZ 1997, 793).

Vladimir Borka Bankovic ua./B 16 andere NATO-Staaten v. 12.12.2001 (= NL 2002, 48 = EuGRZ 2002, 133).

Ilascu ua./MD RUS v. 8.7.2004 (= NL 2004, 174).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.11.2004, Bsw. 31821/96, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 286) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_6/Issa.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise