JudikaturAUSL EGMR

Bsw67335/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. November 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Achour gegen Frankreich, Urteil vom 10.11.2004, Bsw. 67335/01.

Spruch

Art. 7 EMRK - Rückwirkende Verurteilung als Rückfallstäter. Verletzung von Art. 7 EMRK (4:3 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Was den Zuspruch von immateriellem Schaden anlangt, stellt das Urteil selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung dar. EUR 5.917,- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. war im Oktober 1984 wegen Drogenhandels zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Am 14.4.1997 sprach ihn das Lyoner Strafgericht wegen Besitzes einer beträchtlichen Menge Cannabis für schuldig und verhängte eine Freiheitsstrafe in Höhe von acht Jahren über ihn. In der Folge wurde das Strafmaß vom Gericht zweiter Instanz auf 12 Jahre Freiheitsstrafe erhöht: Gemäß dem Wortlaut von Art. 132-9 des neuen Code pénal sei ein Rückfall dann gegeben, wenn eine Person, die bereits wegen eines mit einer zehnjährigen Freiheitsstrafe zu ahndenden Delikts rechtskräftig verurteilt worden sei, innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren nach Verjährung oder Verbüßung der Strafe ein weiteres Delikt mit derselben Strafdrohung begehe.

Der Bf. wandte sich darauf an das Höchstgericht und behauptete, der Ausspruch über seinen Rückfall hätte dem geltenden Strafrecht zum Zeitpunkt seiner ersten Verurteilung widersprochen, da das Gericht zweiter Instanz eine rückwirkende Anwendung der nunmehr strengeren Strafbestimmung im Vergleich zu der früheren vorgenommen habe. (Anm.:

Vor dem Inkrafttreten des neuen Code pénal am 1.3.1994 betrug die Frist für eine Strafverschärfung lediglich fünf Jahre ab Verjährung oder Verbüßung der Strafe.) Das Höchstgericht wies sein Rechtsmittel mit der Begründung ab, die Anwendung einer neuen gesetzlichen Frist für Rückfälle sei dann zulässig, wenn eine neuerliche Deliktsbegehung sich zum Zeitpunkt nach deren Inkrafttreten ereignet habe.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, die Einstufung als Rückfallstäter nach Inkrafttreten des neuen Strafgesetzes und seine darauf basierende Verurteilung habe das in Art. 7 EMRK verankerte Rückwirkungsverbot verletzt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:

Nach französischem Recht ist von einem Rückfall dann auszugehen, wenn zwei untrennbar miteinander verbundene Kriterien gegeben sind: Zum einen das Vorliegen einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung, zum anderen die neuerliche Begehung eines Delikts innerhalb eines gesetzlich festgelegten Zeitraums, das mit derselben Strafe bedroht ist.

Im vorliegenden Fall beruhte die Anwendung dieser Kriterien auf zwei verschiedenen Gesetzen: Der Bf. beging seine erste Straftat zu einem Zeitpunkt, zu dem die Frist für eine Strafverschärfung bei einem Rückfall fünf Jahre betrug, während das neue Strafgesetz für die zweite Straftat eine solche von zehn Jahren vorsah. Der GH stellt fest, dass innerhalb dieser zwei Zeiträume keinerlei gemeinsame Regelung existierte. Während die eine Frist nach damals geltendem Recht mit 12.7.1991 (Anm.: Der Bf. war am 12.7.1986 aus der Haft entlassen worden.) endete, wurde die andere erst beinahe drei Jahre später nach Inkrafttreten des neuen Strafgesetzes Bestandteil des französischen Rechts, nämlich am 1.3.1994. Die Anwendung des neuen Strafgesetzes brachte somit zwangsläufig das Wiederaufleben einer rechtlichen Situation mit sich, die von 1991 an nicht mehr Gültigkeit hatte.

Die Vorstrafe des Bf., die ab dem 12.7.1991 nicht mehr als Grundlage für einen Rückfall herangezogen werden konnte, hatte somit nicht nur Auswirkungen innerhalb des gesetzlichen Rahmens des alten Strafgesetzes, sondern auch hinsichtlich des neuen. Mit anderen Worten mussten die Gerichte, indem sie Art. 132-9 des neuen Code pénal auf das erstbegangene Delikt wegen Drogenhandels, für das der Bf. im Oktober 1984 verurteilt worden war, auch in der Zeit nach Inkrafttreten des neuen Strafgesetzes anwendeten, zwangsläufig von der Eigenschaft des Bf. als Rückfallstäter ausgehen, obwohl gemäß der Regelung des alten Strafgesetzes die Frist für einen Rückfall am 12.7.1991 geendet hatte.

Die genannten Umstände führten zu der rückwirkenden Anwendung von Bestimmungen des neuen Strafgesetzes. Einerseits wurde die Frist für eine Verschärfung des Strafmaßes bei einem Rückfall von fünf auf zehn Jahre angehoben, andererseits brachte die Anwendung der neuen Frist für einen Rückfall die Heranziehung anderer Bestimmungen des neuen Strafgesetzes – insbesondere hinsichtlich des Ausmaßes der Strafe – mit sich. Dies hatte zur Folge, dass auch eine höhere Strafe zur Anwendung gelangte. (Anm.: Art. 132-9 des neuen Code pénal sieht vor, dass das Höchstmaß der angedrohten Freiheitsstrafe bei einem Rückfall das Zweifache betragen kann.) Infolgedessen wurde der Bf. zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt, obwohl das gesetzliche Höchstmaß ohne Vorliegen eines Rückfalls zehn Jahre betragen hätte. Art. 132-9 des neuen Code pénal besitzt als solcher keinerlei rückwirkende Eigenschaft. Der Bf. hätte somit anlässlich des zweiten Strafverfahrens als Erst- und nicht als Rückfallstäter eingestuft werden müssen. Schließlich verlangt das Prinzip der Rechtssicherheit in Fällen wie dem vorliegenden, in denen eine Person als Rückfallstäter in Anwendung eines neuen Strafgesetzes verurteilt wird, dass die gesetzlich vorgesehene Frist für einen Rückfall nicht bereits nach dem früheren Strafgesetz abgelaufen ist. Verletzung von Art. 7 EMRK (4:3 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Costa, gefolgt von den Richtern Rozakis und Bonello).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Was den Zuspruch von immateriellem Schaden anlangt, stellt das Urteil selbst eine ausreichend gerechte Entschädigung dar. EUR 5.917,-- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Costa, gefolgt von den Richtern Rozakis und Bonello).

Vom GH zitierte Judikatur:

Welch/GB v. 9.2.1995, A/307-A (= NL 1995, 82 = ÖJZ 1995, 511).

Cantoni/F v. 15.11.1996 (= EuGRZ 1999, 193 = ÖJZ 1997, 579).

Coëme ua./B v. 22.6.2000.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.11.2004, Bsw. 67335/01, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 276) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_6/Achour.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise