Bsw48787/99 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Ilascu u.a. gegen Moldawien und Russland, Urteil vom 8.7.2004, Bsw. 48787/99.
Spruch
Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK, Art. 6 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 34 EMRK, Art. 1 1. ZP EMRK - Frage der Staatenverantwortung für Folter und Mißhandlung.
Unzulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 EMRK (einstimmig). Keine Verletzung von Art. 1 1. ZP EMRK (15:2 Stimmen). Keine gesonderte Prüfung hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich Ilie Ilascu durch Russland (11:6 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich Ilie Ilascu durch Moldawien (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich Andrei Ivantoc, Alexandru Lesco und Tudor Petrov-Popa durch Russland (16:1 Stimmen). Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich Andrei Ivantoc, Alexandru Lesco und Tudor Petrov-Popa durch Moldawien (11:6 Stimmen). Verletzung von Art. 5 EMRK durch Russland in Bezug auf Ilie Ilascu (16:1 Stimmen). Keine Verletzung von Art. 5 durch Moldawien in Bezug auf Ilie Ilascu (11:6 Stimmen).
Verletzung von Art. 5 EMRK hinsichtlich der übrigen Bf. durch Russland (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 5 EMRK durch Moldawien bezüglich der übrigen Bf. (11:6 Stimmen).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 34 EMRK (bzg. Russland und Moldawien je 16:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Jeweils EUR 63.000,- durch Moldawien für materiellen und immateriellen Schaden hinsichtlich des Zweit-, Dritt- und ViertBf., insgesamt EUR 7.000,- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (10:7 Stimmen). EUR 187.000,- bzw. EUR 127.000,- durch Russland für materiellen und immateriellen Schaden hinsichtlich des ErstBf. und der übrigen Bf., insgesamt EUR 14.000,- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (16:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. – Ilie Ilascu, Alexandru Lesco, Andrei Ivantoc und Tudor Petrov-Popa – waren zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung moldawische Staatangehörige. Sie wurden Anfang Juni 1992 von Angehörigen eines mobilen Einsatzkommandos festgenommen, von denen einige Uniformen der
14. Armee der ehemaligen Sowjetunion trugen. In der Folge wurde gegen die Bf. wegen antisowjetischer Aktivitäten und illegalen Kampfes gegen den rechtmäßigen Staat Transdniestrien (Anm.: Der Name Transdniestrien bezeichnet sowohl einen in Moldawien gelegenen Landstreifen am linken Ufer des Dniester als auch die am 2.9.1990 ausgerufene „Moldawische Republik Transdniestrien", die am 25.8.1991 ihre Unabhängigkeit erklärte. Sie wurde von der internationalen Staatengemeinschaft bis dato nicht als Staat erkannt) unter der Leitung der „Volksfront" (Anm.: Der ErstBf. hatte sich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der „Volksfront" (einer im moldawischen Parlament vertretenen Partei) beharrlich für eine Vereinigung Moldawiens mit Rumänien ausgesprochen.) Moldawiens und Rumäniens sowie wegen Mordes an zwei transdniestrischen Beamten Anklage erhoben. (Anm.: Obwohl Moldawien die ehemalige Sowjetunion aufgefordert hatte, die Präsenz von Sowjettruppen auf moldawischem Territorium zu beenden, verblieb die 14. Armee, die über ein großes Waffenarsenal auf transdniestrischem Gebiet verfügte, im Land. Von Ende 1991 bis Mitte 1992 an kam es zwischen den von russischen Einheiten unterstützten transdniestrischen Separatisten und moldawischen Sicherheitskräften zu heftigen Kampfhandlungen, die mehrere hundert Menschenleben forderten. Am 21.7.1992 erfolgte zwischen Moldawien und Russland eine Vereinbarung über die friedliche Beilegung des Konflikts.) Am 9.12.1993 verurteilte der Oberste Gerichtshof von Transdniestrien den ErstBf. ua. wegen Mordes an einem Staatsorgan und Gründung einer staatsfeindlichen Verbindung zum Tode und ordnete die Einziehung seines Vermögens an. Die übrigen Bf. wurden zu zwölf bis fünfzehn Jahren Haft verurteilt, das Vermögen wurde ebenfalls eingezogen.
Am 3.2.1994 hob das moldawische Höchstgericht das Urteil des Obersten Gerichtshofs von Transdniestrien mit der Begründung auf, dass es verfassungswidrig sei. Es ordnete seinerseits eine strafrechtliche Untersuchung hinsichtlich der den Bf. zur Last gelegten Delikte sowie ihre sofortige Freilassung an, ferner wurde die Staatsanwaltschaft aufgefordert, die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung der am Urteil vom 9.12.1993 beteiligten Richter zu prüfen. Diese Verfahren kamen jedoch nie zu einem Abschluss.
Die Haftbedingungen in den Gefängnissen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Bf. wurden durchwegs in Einzelhaft gehalten, auf den ZweitBf. trifft dies nur bezüglich der ersten Jahre seines Gefängnisaufenthalts zu. Der ErstBf. befand sich im Todestrakt des Gefängnisses in verschärfter Einzelhaft und unter strikter Absonderung von den übrigen Häftlingen. Die Zellen der Bf. verfügten über kein natürliches Licht, die Zellenbeleuchtung erfolgte lediglich über eine im Korridor angebrachte Glühbirne. Den Bf. war es über mehrere Monate hindurch nicht möglich, eine Dusche zu nehmen, in ihren Zellen befand sich kein Warmwasser und die in den Zellen angebrachten Toiletten verfügten über keinen Sichtschutz. Die Zelle des ErstBf. wurde nicht geheizt, auch nicht im Winter. Die Bf. konnten zwar Besuche und Essenspakete empfangen, von Zeit zu Zeit wurde jedoch eine Besuchsgenehmigung nicht erteilt bzw. die Essenspakete zurückbehalten, so dass die darin enthaltenen Lebensmittel ungenießbar wurden. Nachdem der ErstBf. sich bereit erklärt hatte, den Vorsitzenden der Verhandlungsdelegation für die friedliche Beilegung des Konflikts mit Transdniestrien, Ion Sturza, als Kandidaten für den Posten des Premierministers von Moldawien zu unterstützen, verschlechterten sich die Haftbedingungen für alle Bf. zusehends. Mit Ausnahme des ErstBf. wurde den Bf. ein – zensurierter – Briefverkehr gestattet.
Bei allen Bf. verschlechterte sich der Gesundheitszustand während der Haft. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurden ihre Krankheiten nicht medizinisch behandelt. Medikamente erhielten sie nur über ihre Familien. Einen Diätplan gab es nicht. Während ihrer Haft wurden insbesondere der Erst- und der DrittBf. wiederholt misshandelt, geschlagen und in Isolationshaft genommen. Der ErstBf. selbst wurde mehrere Male mit dem Tode bedroht. Es wurde ihm zu keiner Zeit Zugang zu einem Rechtsbeistand gestattet, die übrigen Bf. erhielten einen solchen erstmalig im Mai bzw. Juni 2003.
Am 5.5.2001 wurde der ErstBf. ohne vorherige Ankündigung bzw. Begründung aus der Haft entlassen. In der Folge erklärte die moldawische Regierung im Zuge einer vor dem EGMR am 6.6.2001 stattgefundenen mündlichen Verhandlung an ihrer zur Verantwortlichkeit Russlands abgegebenen Stellungnahme vom 24.10.2000 nicht weiter festhalten zu wollen. Am 31.7.2001 erklärte der moldawische Präsident Voronin, dass es ausschließlich am ErstBf. liege, dass seine Kameraden sich nach wie vor in Haft befänden, weil dieser sich geweigert habe, seine gegen Moldawien und Russland gerichtete Bsw. zurück zu ziehen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, dass das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof von Transdniestrien Art. 6 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren) verletzt hätte. In diesem Zusammenhang rügen sie auch eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Eigentums gemäß Art. 1 1.ZP EMRK aufgrund der Einziehung ihres Vermögens. Die Bf. rügen ferner, dass ihre Inhaftierung nach Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) unrechtmäßig ist bzw. war. Sie machen ferner Verletzungen von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) und von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) aufgrund der Haftbedingungen in den Gefängnissen geltend. Der ErstBf. behauptet ferner eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) durch die Verhängung der Todesstrafe. Alle Bf. rügen eine Verletzung ihres Rechts auf eine Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK.
Zur Frage, ob die Bf. der Herrschaftsgewalt Moldawiens bzw. Russlands unterstehen (Art. 1 EMRK):
1.) Hinsichtlich Moldawiens:
Zwar hat der GH die von der moldawischen Regierung anlässlich der Ratifikation der Konvention zu Art. 1 EMRK abgegebene Erklärung, wonach sie jegliche Verantwortung für auf transdniestrischem Gebiet getätigte Handlungen ausschließe, im Zulässigkeitsverfahren mit der Begründung für unzulässig erklärt, dass sie keinen gültigen Vorbehalt iSv. Art. 57 EMRK darstelle. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die moldawische Regierung – die einzig rechtmäßige Regierung der Republik Moldawien gemäß Völkerrecht – keine Herrschaftsgewalt über einen Teil ihres Territoriums ausübt.
Ungeachtet dessen steht Moldawien unter der positiven Verpflichtung gemäß Art. 1 EMRK, alle notwendigen diplomatischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und sonstigen Schritte zu setzen, um die den Bf. zukommenden Konventionsrechte sicherzustellen.
Was den Versuch einer Wiedererlangung seiner Herrschaftsgewalt anlangt, ist festzuhalten, dass ein solcher angesichts der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Unterstützung des in Transdniestrien etablierten Regimes durch Russland fruchtlos bleiben musste. Zur Situation der Bf. ist zu sagen, dass Moldawien vor der Ratifikation im Jahr 1997 und auch danach eine Reihe von Maßnahmen unternommen hat, um deren Rechte zu garantieren. Während dieses Zeitraums hat Moldawien gegenüber den transdniestrischen Behörden regelmäßig die Achtung der Konventionsrechte der Bf. und ihre Freilassung zur Sprache gebracht.
Für die Zeit nach der Freilassung des ErstBf. im Mai 2001 liegen dem GH jedoch keinerlei derartige Beweise mit Rücksicht auf die restlichen Bf. vor. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass Moldawien für das Versäumnis, seine positiven Verpflichtungen hinsichtlich der beschwerdegegenständlichen Handlungen in der Zeit nach dem Mai 2001 wahrzunehmen, die Verantwortung trägt (11:6 Stimmen, Sondervotum von Richter Loucaides sowie von Sir Nicolas Bratza, gefolgt von den Richtern Rozakis, Hedigan, Pantiru und Richterin Thomassen).
2.) Hinsichtlich Russlands:
Es ist erwiesen, dass in Transdniestrien stationierte Einheiten der
14. Armee der ehemaligen Sowjetunion während des Moldawienkonflikts 1991-1992 gemeinsam mit den transdniestrischen Separatisten gegen moldawische Streitkräfte gekämpft bzw. zugunsten Transdniestriens in die Kämpfe eingriffen haben. Die militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung Transdniestriens durch Russland blieb auch nach dem Waffenstillstand vom 21.7.1992 aufrecht. Im Folgenden ist zu prüfen, ob eine Verantwortung Russlands für die Zeit nach der Ratifikation der EMRK festgestellt werden kann.
Dazu ist zu sagen, dass Einheiten der russischen Armee – entgegen den Zusagen Russlands bei den OSZE-Gipfeltreffen in Istanbul (1999) und Porto (2001) – moldawisches Territorium noch immer nicht verlassen haben. Das erhebliche Waffenarsenal der ehemaligen 14. Armee befindet sich nach wie vor im Land. Die Verantwortung Russlands für das Schicksal der Bf. ist somit gegeben (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler).
Zur Zuständigkeit des GH ratione temporis:
Die Konvention trat hinsichtlich Moldawiens am 12.9.1997, bezüglich Russlands am 5.5.1998 in Kraft. Sie findet hinsichtlich der gerügten Verletzungen auf beide Staaten nur für die Zeit nach ihrem jeweiligen Inkrafttreten Anwendung (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:
Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof von Transdniestrien endete am 9.12.1993, somit vor der Ratifizierung der EMRK durch Moldawien und Russland. Dieser Beschwerdepunkt ist somit wegen fehlender Zuständigkeit des GH ratione temporis zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1.ZP EMRK:
Dem GH liegen keinerlei präzise Angaben hinsichtlich der erfolgten Vollstreckung der besagten Konfiskationsentscheidungen vor. Er ist daher nicht gehalten, eine Prüfung seiner Zuständigkeit ratione temporis vorzunehmen (15:2 Stimmen, Sondervoten der Richten Kovler und Loucaides). Auch unter der Voraussetzung, dass der GH zur Prüfung dieses Beschwerdepunktes ratione temporis zuständig wäre, ist keine Verletzung von Art. 1 1.ZP EMRK festzustellen, da die Bf. diesen Beschwerdepunkt nicht ausreichend substantiiert haben (15:2 Stimmen, Sondervoten der Richten Kovler und Loucaides).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK:
Der GH weist darauf hin, dass das Todesurteil gegen den ErstBf. nach wie vor aufrecht ist. Seine Zuständigkeit ratione temporis liegt somit vor. Der ErstBf. lebt nunmehr in Rumänien, wo er ein öffentliches Amt bekleidet, sodass der Vollzug der 1993 verhängten Todesstrafe eher hypothetischer Natur sein dürfte. Der GH wird diesen Punkt unter Art. 3 EMRK prüfen, sodass eine gesonderte Behandlung dieses Beschwerdepunktes nicht notwendig ist (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:
1.) Hinsichtlich von Ilie Ilascu:
Der ErstBf. befand sich während eines sehr langen Zeitraums in der Todeszelle, wo er unter dem ständigen Schatten des Todes und der Angst vor seiner Exekution lebte, gegen die ihm keinerlei Rechtsmittel zur Verfügung stand. Während seiner Haft wurde er von Gefängniswärtern wiederholt mit dem Tode bedroht. Das Leid und die Angst, die er durchmachte, wurden noch durch die Tatsache verschlimmert, dass das Todesurteil keinerlei rechtmäßige Basis oder Berechtigung hatte.
Der GH hält fest, dass sowohl das Todesurteil als auch die damit verbundenen Haftbedingungen und die Behandlung während der Haft besonders schwerwiegend und grausam waren und folglich als Folter iSv. Art. 3 EMRK eingestuft werden müssen. Der ErstBf. war zur Zeit der Ratifikation der EMRK durch Russland noch in Haft. Wie bereits erwähnt, trägt Moldawien erst ab dessen Freilassung im Mai 2001 die Verantwortung für die Missachtung seiner positiven Verpflichtungen. Somit ist eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch Russland (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler), nicht jedoch seitens Moldawiens festzustellen (11:6 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler sowie von Richter Casadevall, gefolgt von den Richtern Ress, Bîrsan und den Richterinnen Tulkens und Fura-Sandström).
2.) Hinsichtlich von Andrei Ivantoc:
Der DrittBf. erlitt während seiner Haft oftmals Schläge und andere Misshandlungen, auch ihm wurde zeitweise Nahrung und jegliche Form der medizinischen Betreuung verweigert. Er befindet sich seit 1993 in Einzelhaft. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Behandlung des DrittBf. als Folter iSv. Art. 3 EMRK einzustufen ist. Somit ist festzustellen, dass sowohl Russland (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler) als auch Moldawien (11:6 Stimmen, Sondervotum von Sir Nicolas Bratza, gefolgt von den Richtern Rozakis, Hedigan, Pantiru und Richterin Thomassen sowie Richter Kovler) eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzulasten ist.
3.) Hinsichtlich von Alexandru Lesco und Tudor Petrov-Popa:
Der ZweitBf. und der ViertBf. erfuhren ebenfalls besonders harte Haftbedingungen, die sich zudem ab dem Jahr 2001 verschlechtert haben. Der ViertBf. wird überdies seit 1993 in Einzelhaft gehalten. Ein Kontakt mit einem Rechtsanwalt war für beide Bf. erstmalig im Juni 2003 möglich. Die geschilderten Haftbedingungen sind als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSv. Art. 3 EMRK zu qualifizieren. Verletzung von Art. 3 EMRK sowohl durch Russland (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler) als auch durch Moldawien (11:6 Stimmen, Sondervotum von Sir Nicolas Bratza, gefolgt von den Richtern Rozakis, Hedigan, Pantiru und Richterin Thomassen sowie Richter Kovler).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK:
Der GH stellt fest, dass keiner der Bf. von einem Gericht iSd. Art. 5
(1) (a) EMRK verurteilt wurde und dass der vom Obersten Gerichtshof von Transdniestrien verhängte Freiheitsentzug nicht als rechtmäßige Haft auf eine gesetzlich vorgeschriebenen Weise anzusehen ist. Es ist somit hinsichtlich des ErstBf. eine Verletzung von Art. 5 EMRK durch Russland (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler), jedoch keine durch Moldawien (11:6 Stimmen, Sondervotum von Sir Nicolas Bratza, gefolgt von den Richtern Rozakis, Hedigan, Pantiru und Richterin Thomassen sowie Richter Kovler), und eine Verletzung von Art. 5 EMRK durch Russland (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler) und Moldawien (11:6 Stimmen, Sondervotum von Sir Nicolas Bratza, gefolgt von den Richtern Rozakis, Hedigan, Pantiru und Richterin Thomassen sowie Richter Kovler) bezüglich der übrigen Bf. festzustellen.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Die Bf. behaupten, dass sie sich weder in eigener Person noch schriftlich an den GH wenden hätten können, sondern nur über ihre Ehegattinnen. Ferner seien Gefängnisbesuche einer vorherigen Genehmigung unterworfen bzw. ein ungestörter Briefverkehr mit ihren Familien unmöglich gewesen.
Was die Unmöglichkeit betrifft, sich vom Gefängnis aus an den GH zu wenden, ist dies eher eine Frage der Bsw. gemäß Art. 34 EMRK. Angesichts der bereits zu Art. 3 EMRK getätigten Aussagen ist eine gesonderte Prüfung dieses Beschwerdepunktes nicht notwendig (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 34 EMRK:
Abgesehen von der Unmöglichkeit, sich an den GH wenden zu können, bringen die Bf. vor, dass sie nach Erhebung der Bsw. von Gefängniswärtern bedroht und geschlagen worden wären, ferner hätten sich danach ihre Haftbedingungen zusehends verschlechtert. Der GH sieht in diesen Handlungen eine inakzeptable Behinderung der Ausübung des Rechts auf eine Individualbeschwerde. Darüber hinaus nimmt der GH mit Betroffenheit zur Kenntnis, dass Moldawien am 19.4.2001 von Russland aufgefordert wurde, seine Ausführungen zur Verantwortung Russlands wegen des auf moldawischem Territorium in Transdniestrien stationierten russischen Militärs zurück zu nehmen. Ein solches Verhalten läuft dem in der Präambel zur Konvention verankerten gemeinsamen Erbe an politischen Traditionen, Idealen und Freiheiten sowie dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip zuwider. Verletzung von Art. 34 EMRK durch Russland (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler).
Der GH weist ferner darauf hin, dass der moldawische Präsident Voronin öffentlich erklärt hat, dass es ausschließlich am ErstBf. liege, dass seine Kameraden sich nach wie vor in Haft befänden, weil er sich geweigert hätte, seine Bsw. gegen Russland und Moldawien zurückzuziehen.
Der GH sieht derartige Bekundungen eines höchsten Staatsorgans, womit eine Verbesserung der Situation der Bf. von der Zurückziehung der Bsw. abhängig gemacht wird, als unmittelbaren Druck mit dem Ziel der Verhinderung der Ausübung des Individualbeschwerderechts an. Verletzung von Art. 34 EMRK durch Moldawien (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler)
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Jeweils EUR 63.000,-- durch Moldawien für materiellen und immateriellen Schaden hinsichtlich des Zweit-, Dritt- und ViertBf., insgesamt EUR 7.000,-- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (10:7 Stimmen, Sondervotum von Richter Loucaides sowie von Sir Nicolas Bratza, gefolgt von den Richtern Rozakis, Hedigan, Pantiru und Richterin Thomassen sowie von Richter Kovler).
EUR 187.000,-- bzw. EUR 127.000,-- durch Russland für materiellen und immateriellen Schaden hinsichtlich des ErstBf. und der übrigen Bf., insgesamt EUR 14.000,-- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Kovler).
Der GH kommt ferner überein, dass Moldawien und Russland alle notwendigen Schritte zu setzen haben, um der willkürlichen Anhaltung der übrigen Bf. ein Ende zu bereiten und um ihre sofortige Freilassung sicherzustellen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Irland/GB v. 18.1.1978, A/25 (= EuGRZ 1979, 149).
Soering/GB v. 7.7.1989, A/161 (= EuGRZ 1989, 314).
Loizidou/TR v. 18.12.1996 (= EuGRZ 1997, 555).
Zypern/TR v. 10.5.2001.
Valasinas/LIT v. 24.7.2001.
Kalashnikov/RUS v. 15.7.2002.
Assanidze/G v. 8.4.2004.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.7.2004, Bsw. 48787/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 174) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/04_4/Ilascu.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.