JudikaturAUSL EGMR

Bsw44774/98 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
29. Juni 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Leyla Sahin gegen die Türkei, Urteil vom 29.6.2004, Bsw. 44774/98.

Spruch

Art. 9 EMRK - Kopftuchverbot an Universitäten.

Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK, Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK und Art. 2 1. ZP EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1973 geborene Bf. ist in einer traditionsbewussten islamischen Familie aufgewachsen. Sie erachtet das Tragen eines Kopftuchs als ihre religiöse Pflicht. Im August 1997 immatrikulierte sie an der medizinischen Fakultät der Universität Istanbul.

Am 23.2.1998 erließ der Vizerektor der Universität ein Rundschreiben betreffend den Zutritt von Studierenden zum Universitätsgelände. Dieses untersagte Studierenden, die ein islamisches Kopftuch bzw. einen Bart trugen, den Zutritt zu Lehrveranstaltungen und Prüfungen. Für den Fall des Zuwiderhandelns wurden Disziplinarmaßnahmen angedroht. Zwischen März und Juni 1998 wurde der Bf. aufgrund dieser Anordnung die Teilnahme an schriftlichen Prüfungen, die Anmeldung zu einem Kurs und der Zutritt zu einer Vorlesung verwehrt, weil sie darauf bestand, ein Kopftuch zu tragen.

Ein Antrag der Bf. auf Aufhebung des Rundschreibens vom Februar 1998 wurde vom Verwaltungsgericht Istanbul am 19.3.1999 abgewiesen. Das Gericht sah keine Anzeichen dafür, dass der Vizerektor die ihm gesetzlich eingeräumte Befugnis, Bekleidungsvorschriften für die Studierenden zu erlassen, unrechtmäßig ausgeübt hätte. Im Mai 1998 wurde gegen die Bf. wegen ihrer Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Am 16.5.1998 erteilte ihr der Dekan wegen des anhaltenden Verstoßes gegen die Bekleidungsvorschriften eine Verwarnung.

Am 15.2.1999 fand eine nicht genehmigte Versammlung vor dem Dekanat der medizinischen Fakultät statt, um gegen die Bekleidungsvorschriften zu protestieren. Am 26.2.1999 wurden wegen der Teilnahme an dieser Versammlung Disziplinarverfahren gegen die Bf. und mehrere andere Studierende eingeleitet. Am 13.4.1999 wurde die Bf. für ein Semester von der Universität ausgeschlossen. Ihr dagegen eingebrachtes Rechtsmittel wurde vom Verwaltungsgericht Istanbul abgewiesen. Die Bf. hatte in der Zwischenzeit an die Universität Wien gewechselt, um ihre universitäre Ausbildung abzuschließen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet bringt vor, das Verbot des Tragens des islamischen Kopftuchs an Universitäten begründe einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr Recht auf Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK:

Der GH muss prüfen, ob ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Religionsfreiheit vorliegt und ob dieser gegebenenfalls gesetzlich vorgesehen war, ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

1.) Liegt ein Eingriff vor?

Wie der GH einleitend feststellt, wurde die Bf. nicht wegen ihrer Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften von der Universität ausgeschlossen. Die Bsw. bezieht sich daher ausschließlich auf das Rundschreiben der Universität Istanbul vom 23.2.1998 und dessen Anwendung im vorliegenden Fall.

Die Entscheidung der Bf., ein Kopftuch zu tragen, beruhte ihren Angaben zufolge auf dem Wunsch, die Vorschriften des islamischen Glaubens streng zu befolgen. Es kann also angenommen werden, dass sie durch eine Religion oder Weltanschauung motiviert war. Ohne zu beurteilen, ob solche Entscheidungen immer getroffen werden, um einer religiösen Pflicht nachzukommen, wird der GH unter der Annahme mit seiner Prüfung fortfahren, dass die Vorschrift, mit der das Tragen des Kopftuchs an Universitäten eingeschränkt wurde, einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Religionsfreiheit begründet.

2.) War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

Der Eingriff beruhte auf dem Rundschreiben des Vizerektors vom 23.2.1998. An der gesetzlichen Befugnis dieses Organs zum Erlass einer solchen Regelung besteht kein Zweifel. Wie die Verwaltungsgerichte festgestellt haben, beruhte das Rundschreiben auf einer gesetzlichen Grundlage. Sie stützten sich dabei auf die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, das bereits in einem Urteil vom 7.3.1989 festgestellt hatte, es widerspreche der Verfassung, wenn Universitäten den Studierenden das religiös motivierte Tragen eines Kopftuchs gestatten würden. Dieses nach türkischem Recht verbindliche Urteil wurde durch seine Veröffentlichung allgemein zugänglich gemacht. Das Verbot des Tragens von Kopftüchern war damit allgemein zugänglich und ausreichend bestimmt. Der Eingriff war daher gesetzlich vorgesehen iSv. Art. 9

(2) EMRK.

3.) Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?

Die angefochtene Maßnahme verfolgte in erster Linie das legitime Ziel des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der Rechte und Freiheiten anderer.

4.) War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig? In demokratischen Gesellschaften, in denen mehrere Religionen nebeneinander bestehen, können Beschränkungen der Freiheit der Religionsausübung erforderlich sein, um die Interessen der verschiedenen Gruppen zu berücksichtigen und sicherzustellen, dass der Glaube jedes Einzelnen respektiert wird.

Der Eingriff beruhte insbesondere auf den einander bestärkenden und ergänzenden Grundsätzen des Säkularismus und der Gleichberechtigung. Wie das türkische Verfassungsgericht festgestellt hat, dient das Prinzip des Säkularimus der Garantie demokratischer Werte, der Unverletzlichkeit der Religionsfreiheit und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Diese Auffassung von Säkularismus erscheint dem GH mit den der Konvention zugrunde liegenden Werten vereinbar und er anerkennt, dass die Aufrechterhaltung dieses Prinzips für den Schutz des demokratischen Systems in der Türkei als notwendig erachtet werden kann. Der GH verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung, die die türkische Verfassung dem Schutz der Rechte der Frau beimisst.

Bei der Prüfung der Frage des islamischen Kopftuchs in der Türkei muss der Druck berücksichtigt werden, den das Tragen eines solchen religiösen Symbols – das als zwingende religiöse Pflicht präsentiert oder verstanden wird – auf diejenigen haben kann, die sich entscheiden, es nicht zu tragen. Die Angelegenheit betrifft auch den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in einem Land, in dem die Bevölkerungsmehrheit dem islamischen Glauben angehört, während sie den Rechten der Frau und einem säkularen Lebensstil einen hohen Stellenwert beimisst. Beschränkungen der Religionsfreiheit können daher dem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis dienen, diese beiden Ziele zu erreichen. Dies gilt umso mehr, als dieses religiöse Symbol in den letzten Jahren in der Türkei an politischer Bedeutung gewonnen hat.

Es gibt in der Türkei extremistische politische Bewegungen, die danach trachten, der gesamten Gesellschaft ihre religiösen Symbole und ihr auf religiösen Geboten beruhendes Gesellschaftsmodell aufzuzwingen. Wie der GH bereits festgestellt hat, dürfen die Konventionsstaaten gegen solche politischen Bewegungen Stellung beziehen. Die mit der vorliegenden Bsw. angefochtenen Regelungen müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sie stellen eine Maßnahme dar, die den legitimen Zielen des Säkularismus und des Schutzes der Rechte der Frau und damit der Aufrechterhaltung des Pluralismus an der Universität dienen.

Dem Verbot, an der Universität religiöse Symbole zu tragen, liegt als oberste Überlegung das Prinzip des Säkularimus zu Grunde. In einer solchen Umgebung, in der die Werte des Pluralismus, des Respekts für die Rechte anderer und insbesondere der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau unterrichtet und praktisch angewendet werden, ist es verständlich, wenn es nach Ansicht der zuständigen Behörden der Förderung dieser Werte widersprechen würde, das Tragen von religiösen Symbolen wie dem Kopftuch in Einrichtungen der Universität zu dulden.

Angesichts dieser Überlegungen und des Ermessensspielraums des Staates gelangt der GH zu der Ansicht, dass die Vorschriften der Universität Istanbul, die das Tragen des islamischen Kopftuchs beschränkten, und die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung grundsätzlich gerechtfertigt und verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen waren. Sie können daher als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden. Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig). Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK, Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK und Art. 2 1.ZP EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kokkinakis/GR v. 25.5.1993, A/260-A (= NL 1993/4, 19 = ÖJZ 1994, 59).

Cha'are Shalom Ve Tsedek/F v. 27.6.2000 (= NL 2000, 136 = ÖJZ 2001,

774).

Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) ua./TR v. 13.2.2003 (= NL 2003, 30 =

EuGRZ 2003, 206).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.6.2004, Bsw. 44774/98, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 147) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_3/Sahin_TR.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise