JudikaturAUSL EGMR

Bsw55103/00 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Februar 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Puhk gegen Estland, Urteil vom 10.2.2004, Bsw. 55103/00 .

Spruch

Art. 7 EMRK - Rückwirkende Anwendung von Strafgesetzen. Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 3.000,- für immateriellen Schaden, EUR 1.508,31 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 10.8.1995 wurde eine polizeiliche Voruntersuchung gegen den Bf. wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung eingeleitet. Am 6.10.1997 erhob die StA Tartu vor dem Stadtgericht (Linnakohus) Tartu Anklage gegen den Bf. wegen Steuerhinterziehung, mangelhafter Buchhaltung und Urkundenfälschung. Die Anklagepunkte bezogen sich auf den Zeitraum von April 1993 bis Oktober 1995. Im Einzelnen wurde dem Bf. ua. gemäß § 148-1 (7) des estnischen Strafgesetzbuchs (im Folgenden: StGB) vorgeworfen, er habe keine Steuererklärung für 1993 abgegeben, die Finanzbehörde nicht von der Verlegung des Sitzes seines Unternehmens informiert und wäre der Aufforderung der Finanzbehörde vom 26.10.1995, die geschuldeten Steuern abzuführen, nicht nachgekommen. Zudem wurde er beschuldigt, seiner Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Buchhaltung nach § 148-4 StGB nicht nachgekommen zu sein. Das Stadtgericht Tartu verurteilte den Bf. am 17.2.1999 nach § 148-1

(7) StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Das Gericht sprach ihn auch nach § 148-4 StGB schuldig, die für diesen Anklagepunkt verhängte Strafe wurde jedoch von der nach § 148-1 (7) StGB verhängten absorbiert. Nach Ansicht des Stadtgerichts war die Anwendung des am 13.1.1995 in Kraft getretenen § 148-1 (7) StGB gerechtfertigt, weil der Bf. vorsätzlich und anhaltend keine Steuern bezahlt und seine kriminelle Aktivität bis Oktober 1995 angedauert hätte. Bezüglich des Delikts der unzureichenden Buchhaltung nach § 148-4 StGB, der am 20.7.1993 in Kraft getreten war, stellte das Gericht fest, dass die Firma des Bf. von 5.5.1993 bis 1.10.1993 bestanden hätte. Während der gesamten Zeitspanne wären keine Aufzeichnungen über die wirtschaftlichen Aktivitäten geführt worden, weshalb eine Bestimmung ihrer finanziellen Gebarung unmöglich wäre. Der Bf. habe seine Verpflichtungen nach der am 20.7.1993 – also während des Bestandes seines Unternehmens – in Kraft getretenen Strafbestimmung nicht erfüllt.

In seinem am 26.2.1999 erhobenen Rechtsmittel an das Berufungsgericht (Tartu Ringkonnakohus) brachte der Bf. vor, dass seine Verurteilung auf der rückwirkenden Anwendung eines Strafgesetzes beruhte. Vor dem Inkrafttreten des § 148-1 (7) StGB am 13.1.1993 wäre eine Verurteilung nach den in § 148-1 StGB definierten Tatbeständen von einer vorhergehenden verwaltungsrechtlichen Bestrafung für ein ähnliches Delikt abhängig gewesen. Auch die Bestrafung wegen unzureichender Buchhaltung für die gesamte Periode seiner Geschäftstätigkeit hätte auf einer rückwirkenden Anwendung der am 20.7.1993 in Kraft getretenen Bestimmungen beruht. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil. Der Oberste Gerichtshof (Riigikohus) wies die dagegen erhobene Bsw. des Bf. ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 7 (1) EMRK (Nulla poena sine lege), da seine Verurteilung auf einer rückwirkenden Anwendung eines Strafgesetzes beruht hätte.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:

Die Anwendung der am 13.1.1995 in Kraft getretenen Bestimmungen auf nachfolgende Handlungen ist nicht Gegenstand der vorliegenden Bsw. Die Frage ist vielmehr, ob durch die Anwendung dieser Bestimmungen auf vor ihrem Inkrafttreten begangene Akte die Garantien des Art. 7 EMRK verletzt wurden. Es ist nicht Aufgabe des GH, über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bf. zu urteilen, sondern er muss ausgehend vom Standpunkt des Art. 7 EMRK prüfen, ob die Handlungen des Bf. zum Zeitpunkt ihrer Begehung vom innerstaatlichen Recht als Straftaten definiert wurden und ob die Bestimmungen zugänglich und vorhersehbar waren.

Der GH stellt fest, dass Steuerhinterziehung schon vor dem 13.1.1995 – also auch zwischen 1993 und 1994, als der Bf. einen Teil der ihm vorgeworfenen Handlungen setzte – eine Straftat darstellte. Nach dem zu dieser Zeit geltenden Strafrecht war jedoch Voraussetzung für eine Verurteilung, dass die betroffene Person zuvor bereits in einem Verwaltungsverfahren wegen eines ähnlichen Delikts für schuldig befunden und bestraft worden war. Mit der am 13.1.1995 in Kraft getretenen Fassung des § 148-1 StGB wurde auf diese Voraussetzung verzichtet.

Die innerstaatlichen Gerichte beurteilten nach dieser Bestimmung auch jenes Verhalten des Bf., das dieser in den beiden Jahren vor ihrem Inkrafttreten gesetzt hatte, da sie es als ein bis Oktober 1995 anhaltendes Dauerdelikt betrachteten.

Was die Verurteilung wegen mangelnder Buchhaltung betrifft, stellt der GH fest, dass der Bf. zwar schon vor 1993 zur ordnungsgemäßen Buchhaltung verpflichtet war, eine Verletzung dieser Vorschriften aber erst mit Inkrafttreten des § 148-4 StGB am 20.7.1993 für strafbar erklärt wurde.

Der GH erinnert daran, dass ein Dauerdelikt per definitionem ein Vergehen ist, das über einen längeren Zeitraum begangen wird. Der Bf. wurde verurteilt, weil er über einen längeren Zeitraum hinweg vorsätzlich Steuern hinterzogen hatte. Sein Verhalten begann vor dem Inkrafttreten des Gesetzes, auf dem die Verurteilung beruhte, und dauerte auch danach noch an. Vor der Änderung der einschlägigen Bestimmung war eine Person nur dann wegen Steuerhinterziehung strafbar, wenn sie bereits verwaltungsrechtlich bestraft worden war. Die Handlungen, wegen denen der Bf. verurteilt wurde, betrafen vor allem den Zeitraum vor dem 13.1.1995 und die verhängte Strafe beruhte sowohl auf seinem Verhalten vor als auch nach diesem Datum. Der Bf. konnte 1993 und 1994 angesichts des damals geltenden Strafrechts nicht davon ausgehen, bei der ersten Entdeckung seines Verhaltens eine strafrechtliche Verurteilung zu riskieren. Die estnischen Gerichte haben die 1993 bzw. 1995 in Kraft getretenen Gesetze rückwirkend auf ein Verhalten angewendet, das zuvor keine strafbare Handlung begründete. Verletzung von Art. 7 (1) EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 3.000,-- für immateriellen Schaden, EUR 1.508,31 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

S.W./GB C.R./GB v. 22.11.1995, A/335-B A/335-C (= NL 1995, 223 =

ÖJZ 1996, 356).

Ecer Zeyrek/TR v. 27.2.2001.

Streletz, Kessler Krenz v. 22.3.2001 (= NL 2001, 59 = EuGRZ 2001, 210 = ÖJZ 2002, 274).

Veeber/EST (Nr. 2) v. 21.1.2003.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.02.2004, Bsw. 55103/00, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 21) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_1/Puhk_EST.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise