JudikaturAUSL EGMR

Bsw52792/99 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
25. September 2003

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Vasileva gegen Dänemark, Urteil vom 25.9.2003, Bsw. 52792/99.

Spruch

Art. 5 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Anhaltung zur Feststellung der Identität.

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 500,- für immateriellen Schaden, EUR 135,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die 1928 geborene Bf. geriet am 11.8.1995 in einem öffentlichen Bus in Arhus in Streit mit einem Fahrkartenkontrolleur. Dieser beschuldigte sie, den Bus ohne gültige Fahrkarte benützt zu haben, und wollte ein Bußgeld einheben. Als sich die Bf. weigerte, ihre Identität preiszugeben, wurde die Polizei gerufen. Da sie auch der Polizei ihren Namen nicht nennen wollte, wurde sie um 21.30 Uhr festgenommen und zur Polizeistation gebracht. (Anm.: § 750 Rechtspflegegesetz (Retsplejeloven) verpflichtet jede Person, auf Aufforderung der Polizei ihren Namen, ihre Adresse und ihr Geburtsdatum bekannt zu geben. Die Weigerung ist strafbar. Gemäß § 755 leg.cit. kann jede Person, die eines von Amts wegen zu verfolgenden Delikts ernstlich verdächtigt wird, von der Polizei festgenommen werden, wenn die Anhaltung notwendig erscheint, um weitere Straftaten oder ihre Absprache mit anderen zu verhindern oder um die Anwesenheit der Person sicherzustellen. Gemäß § 755 (4) leg.cit. darf eine Anhaltung nicht erfolgen, wenn die Freiheitsentziehung unverhältnismäßig wäre.)

Nachdem die Bf. bis 23.00 Uhr in einem Warteraum gesessen hatte, wurde sie in eine Zelle gebracht. Am folgenden Tag um 10.45 Uhr offenbarte die Bf. ihre Identität, woraufhin sie um 11.00 Uhr aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde. Unmittelbar danach kollabierte die Bf. wegen Bluthochdrucks und musste drei Tage im Krankenhaus bleiben. Die Behörden verzichteten auf die Einleitung eines Verfahrens wegen der Weigerung der Preisgabe der Identität. Wie der Disput mit der Verkehrsgesellschaft endete, ist nicht bekannt.

Nachdem den Anträgen der Bf. auf Haftentschädigung weder durch den Polizeipräsidenten von Arhus noch durch den Staatsanwalt entsprochen wurde, machte sie einen entsprechenden Anspruch beim Stadtgericht von Arhus (Retten i Arhus) geltend. Vor dem Gericht sagte die Bf. aus, sie wäre während ihrer Anhaltung nicht befragt worden. Zwei als Zeugen einvernommene Polizeibeamte sagten im Gegensatz dazu aus, sie mehrmals aufgefordert zu haben, ihre Identität preiszugeben. Es wäre jedoch schwierig gewesen, mit der Bf. ins Gespräch zu kommen und sie habe sich bis zum folgenden Morgen beharrlich geweigert, ihren Namen zu nennen. Sie habe auch keine Papiere bei sich gehabt, aus denen ihre Identität hervorgegangen wäre. Das Stadtgericht Arhus sprach der Bf. eine Entschädigung zu. Aufgrund der dagegen vom Staatsanwalt erhobenen Berufung hob das Landgericht West (Vestre Landsret) am 11.2.1999 dieses Urteil auf und wies den Anspruch der Bf. ab. Die Berufung dagegen an den Obersten Gerichtshof (Hojesteret) wurde nicht zugelassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (1) EMRK:

Die Bf. bringt vor, ihre Anhaltung wäre unrechtmäßig gewesen. Die Haft wäre unnötig gewesen und hätte zu lange gedauert. Die 13-stündige Anhaltung einer 67-jährigen Frau von schlechter Gesundheit zum Zweck der Feststellung der Identität würde jeglicher Überlegung der Verhältnismäßigkeit widersprechen.

Es ist unbestritten, dass ein Freiheitsentzug iSv. Art. 5 EMRK vorliegt. Die Anhaltung erfolgte wegen der Weigerung der Bf., ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Offenlegung ihrer Identität nachzukommen. Es wurde auch nicht bestritten, dass der Freiheitsentzug in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgte. Nach Ansicht der Reg. erfolgte die Anhaltung der Bf. in Übereinstimmung mit Art. 5 (1) (b) EMRK, da sie sich weigerte, einer gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen. Der GH ruft in Erinnerung, dass eine Anhaltung nach Art. 5 (1) (b) EMRK nur zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung erlaubt ist. Es muss daher eine unerfüllte Verpflichtung bestehen und die Anhaltung muss der Erzwingung ihrer Erfüllung dienen und darf keinen strafenden Charakter haben. Mit der Erfüllung der Verpflichtung fällt die Grundlage der Anhaltung weg.

Die Bf. wurde festgenommen, weil sie sich weigerte, ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Offenlegung ihrer Identität gegenüber der Polizei nachzukommen. Nachdem sie ihre Verpflichtung erfüllt hatte, wurde sie unverzüglich aus der Haft entlassen. Ihre Anhaltung erfolgte demnach zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung.

Zu prüfen bleibt, ob ein vernünftiger Ausgleich zwischen der Bedeutung der Sicherstellung der unverzüglichen Erfüllung der Verpflichtung und dem Recht auf Freiheit getroffen wurde. Dies prüft der GH anhand der Art der Verpflichtung und ihrem Sinn und Zweck, den persönlichen Umständen der angehaltenen Person und den Umständen, die zu ihrer Festnahme führten, sowie der Dauer der Anhaltung. Die Festnahme erfolgte ausschließlich wegen der Weigerung der Bf., ihre Identität gegenüber der Polizei offen zu legen. Die Möglichkeit zur Feststellung der Identität der Bürger ist eine grundlegende Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgaben der Polizei und die Durchsetzung des Rechts.

Auch wenn die Bf. ausschließlich wegen der Weigerung der Preisgabe ihrer Identität festgenommen wurde, stand die Amtshandlung der Polizei doch in Zusammenhang mit ihrer Aufgabe der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Öffentliche und private Verkehrsunternehmen wären machtlos, könnten sie nicht eine wirksame Unterstützung der Polizei erhalten, wenn sie mit Fahrgästen konfrontiert sind, die ohne Fahrkarte unterwegs sind und sich weigern, ihre Identität offen zu legen. Die Polizisten schätzten das Alter der Bf. auf ca. 60 Jahre. Ihnen war nicht bekannt, dass sie an Bluthochdruck litt. Der GH ist daher der Ansicht, dass die Anhaltung der Bf. zur Feststellung ihrer Identität in Übereinstimmung mit Art. 5 (1) (b) EMRK erfolgte. Die Dauer der Anhaltung betrug 13,5 Stunden. Die Beamten forderten die Bf. am 11.8.1995 zwischen 21.30 und 23.00 Uhr und am folgenden Tag zwischen 6.30 und 10.45 Uhr mehrmals auf, ihren Namen zu nennen. Sie führte keine Dokumente mit, aus denen ihre Identität hervorgegangen wäre. Zwischen 23.00 und 6.30 Uhr wurden keine Bemühungen unternommen, um die Bf. zu identifizieren. Das Argument der Reg., die dieses Vorgehen mit dem Bedürfnis der Bf. nach Schlaf rechtfertigt, überzeugt den GH nicht, auch wenn solche Überlegungen unter Umständen relevant sein können. Solchen Überlegungen kann nicht generell Vorrang eingeräumt werden gegenüber der Verpflichtung, die Verhältnismäßigkeit der Dauer der Anhaltung zu ihrem Grund sicher zu stellen. Angesichts des Bedauerns, das der Polizeichef in einem Brief an die Bf. darüber ausdrückte, dass sie nicht – wie versprochen – während der Anhaltung von einem Arzt aufgesucht wurde, stellt der GH fest, dass die Beiziehung einer solchen dritten Person aus der Sackgasse hätte führen können, in welche die Kommunikation mit der Bf. offensichtlich geraten war.

Die Nichterfüllung der gesetzlichen Verpflichtung nach § 750 Rechtspflegegesetz durch die Bf. stellt nur ein geringfügiges Vergehen dar, das lediglich mit einer Geldstrafe bedroht ist. Angesichts dessen hätte die Anhaltung der Bf. jedenfalls nicht für eine längere Zeit aufrecht erhalten werden sollen. Der Entzug der Freiheit der Bf. für eine Dauer von 13,5 Stunden war nicht verhältnismäßig zum Grund der Anhaltung. Die Behörden haben es daher verabsäumt, einen fairen Ausgleich zu treffen zwischen der Notwendigkeit der Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung und dem Recht auf Freiheit. Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (einstimmig, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Tulkens und Richter Zagrebelsky).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 500,-- für immateriellen Schaden, EUR 135,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Benham/GB v. 10.6.1996 (= NL 1996, 109 = ÖJZ 1996, 915).

Witold Litwa/PL v. 21.3.2000 (= NL 2000, 59).

Nowicka/PL v. 3.12.2002 (= NL 2002, 270).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.9.2003, Bsw. 52792/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2003, 255) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/03_5/Vasileva.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise