Bsw40016/98 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Karner gegen Österreich, Urteil vom 24.7.2003, Bsw. 40016/98.
Spruch
Art. 14 Abs. 3 MRG, Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK - Ungleichbehandlung homosexueller Lebensgemeinschaften.
Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 5.000,- für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. lebte seit 1989 mit seinem homosexuellen Partner W. in einer Wohnung in Wien, die dieser ein Jahr zuvor angemietet hatte. Die Mietkosten bestritten sie gemeinsam. 1991 stellte W. fest, dass er HIV-positiv war. Als W. 1993 an AIDS erkrankte, pflegte ihn der Bf. 1994 verstarb W., nachdem er den Bf. als Erben eingesetzt hatte. 1995 brachte der Vermieter der Wohnung eine gerichtliche Kündigung ein, in der er das Fehlen eines Eintrittsrechts des Bf. geltend machte. Das BG Favoriten hob die Kündigung auf. Nach seiner Ansicht sei § 14 (3) Mietrechtsgesetz (MRG), der Lebensgefährten ein Eintrittsrecht in Mietverträge nach dem Tod des Hauptmieters einräumt, auch auf homosexuelle Beziehungen anzuwenden. Das LG für Zivilrechtssachen Wien wies die Berufung des Kl. ab. Sinn und Zweck des § 14 (3) MRG sei es, Personen, die – ohne verheiratet zu sein – lange Zeit zusammen gelebt haben, vor einer plötzlichen Obdachlosigkeit zu schützen. Diese Bestimmung sei daher auf homosexuelle Personen ebenso anwendbar wie auf Personen unterschiedlichen Geschlechts. Der dagegen erhobenen Revision gab der OGH am 5.12.1996 statt. Er stellte fest, dass der Begriff „Lebensgefährte" in § 14 (3) MRG in dem Sinne interpretiert werden müsse, den ihm der historische Gesetzgeber 1974 beigemessen hätte. Dieser habe aber nur die heterosexuelle Lebensgemeinschaft vor Augen gehabt.
Der Bf. verstarb am 26.9.2000. Sein Anwalt informierte den EGMR am 11.11.2001 von seinem Tod und darüber, dass seine Mutter auf ihr Eintrittsrecht in das Vermögen ihres Sohnes verzichtet hatte. Der Anwalt ersuchte den GH, die Bsw. nicht aus der Liste zu streichen, bevor der Notar nicht andere Erben ausfindig gemacht hätte. Am 10.4.2002 teilte der Anwalt dem GH mit, dass der Notar Nachforschungen über bisher unbekannte Erben veranlasst hätte, die das Erbe antreten könnten.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
Zur Jurisdiktion des Gerichtshofs:
Die Reg. beantragt die Streichung der Bsw. aus der Liste der anhängigen Fälle gemäß Art. 37 (1) EMRK, da der Bf. verstorben ist und es keine Erben gibt, die die Bsw. fortsetzen wollen. Der Anwalt des Bf. betont, dass der Fall eine wichtige Frage des österreichischen Rechts betrifft und die Achtung der Menschenrechte gemäß Art. 37 (1) EMRK die Fortsetzung des Verfahrens erfordert. Der GH stellt fest, dass er in einigen Fällen, in denen der Bf. während des Verfahrens verstorben ist, die Stellungnahmen seiner Erben oder enger Familienangehöriger, die dem Wunsch Ausdruck verliehen, die Bsw. fortzusetzen, berücksichtigt hat. Auf der anderen Seite war es die Praxis des GH, Bsw. aus der Liste zu streichen, wenn kein Erbe oder enger Verwandter das Verfahren fortsetzen wollte. Der GH hat daher zu entscheiden, ob auch im vorliegenden Fall die Bsw. aus der Liste zu streichen ist.
Der GH ruft in Erinnerung, dass Art. 34 EMRK verlangt, dass jemand, der eine Individualbeschwerde erhebt, eine tatsächliche individuelle Betroffenheit durch die behauptete Verletzung der Konvention geltend machen muss. Art. 34 EMRK gibt natürlichen Personen kein Recht auf die Erhebung einer Art von actio popularis zum Zweck der Auslegung der Konvention. Er gibt Personen kein Recht, sich gegen ein Gesetz in abstracto zu beschweren, bloß weil sie der Meinung sind, dass es der Konvention widerspricht.
Auch wenn unter Art. 34 EMRK die Existenz eines „Opfers einer Verletzung", also eines Individualbeschwerdeführers, der persönlich durch die behauptete Verletzung eines Konventionsrechts betroffen ist, unerlässlich dafür ist, den Schutzmechanismus der Konvention in Bewegung zu setzen, kann dieses Kriterium nicht in einer strengen, mechanischen und unflexiblen Art während des gesamten Verfahrens angewendet werden.
In der Regel, und insbesondere in Fällen, die primär pekuniäre und damit übertragbare Ansprüche betreffen, ist die Existenz einer anderen Person, auf die diese Ansprüche übertragen werden, ein wichtiges Kriterium. Es kann aber nicht das einzige sein. Menschenrechtliche Fälle vor dem GH haben im Allgemeinen auch eine moralische Dimension, die bei der Entscheidung über die Fortsetzung des Verfahrens nach dem Tod des Bf. in Betracht gezogen werden muss. Der GH hat wiederholt festgestellt, dass seine Urteile nicht nur dazu dienen, über die ihm vorgelegten Fälle abzusprechen, sondern um – allgemeiner – die Bestimmungen der Konvention zu erläutern, zu gewährleisten und fortzuentwickeln und auf diese Weise zur Beachtung der Verpflichtungen durch die Staaten beizutragen, die diese als Vertragsparteien eingegangen sind. Obwohl das primäre Ziel der Konvention darin besteht, einen individuellen Rechtsbehelf zu gewähren, gehört es auch zu ihrer Aufgabe, Fragen der Rechtsordnung im öffentlichen Interesse zu entscheiden, um dadurch den allgemeinen Standard des Schutzes der Menschenrechte zu verbessern und die Rspr. über Menschenrechte auszuweiten.
Der der vorliegenden Bsw. zugrunde liegende Sachverhalt – die unterschiedliche Behandlung von Homosexuellen bezüglich des Eintrittsrechts in Mietverträge – betrifft eine wichtige Frage, die nicht nur für Österreich, sondern auch für die übrigen Konventionsstaaten von allgemeinem Interesse ist. Die fortgesetzte Prüfung der Bsw. trägt daher dazu bei, den Schutzstandard der Konvention zu erläutern, zu gewährleisten und fortzuentwickeln. Nach Ansicht des GH erfordert die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention festgeschrieben sind, eine Fortsetzung der Prüfung der Bsw. (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Grabenwarter).
Zur Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK:
Zwar setzt die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK eine Verletzung einer anderen Konventionsbestimmung nicht voraus, sie erfordert jedoch, dass die der Bsw. zugrunde liegenden Tatsachen in den Anwendungsbereich einer oder mehrerer materieller Konventionsbestimmungen fallen. Der GH hat daher zu prüfen, ob die Angelegenheit des vorliegenden Falles in den Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK fällt.
Es ist nicht erforderlich, die Begriffe „Privatleben" oder „Familienleben" zu erörtern, da die Bsw. sich jedenfalls auf die Auswirkungen der behaupteten unterschiedlichen Behandlung auf die Ausübung des durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung der Wohnung bezieht. Art. 14 EMRK ist daher anwendbar.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK:
Der Bf. behauptete, Opfer einer Diskriminierung aufgrund seiner sexuellen Orientierung gewesen zu sein, weil der OGH ihm den Status eines Lebensgefährten iSv. § 14 MRG verweigert hätte und er dadurch von einem Eintritt in das Mietverhältnis ausgeschlossen worden wäre. Er brachte vor, § 14 MRG ziele auf den sozialen und finanziellen Schutz von Lebensgefährten vor Obdachlosigkeit im Falle des Ablebens ihres Partners ab, verfolge aber keine familien- oder sozialpolitischen Ziele. Es bestünde daher keine Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung homosexueller und heterosexueller Partner.
Eine unterschiedliche Behandlung ist diskriminierend iSv. Art. 14 EMRK, wenn es dafür keine objektive und vernünftige Rechtfertigung gibt, dh. wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder wenn zwischen Mittel und Zweck kein vernünftiges Verhältnis besteht. Sehr schwerwiegende Gründe müssen geltend gemacht werden, damit der GH eine unterschiedliche Behandlung, die ausschließlich auf Gründen des Geschlechts beruht, als konventionskonform beurteilen kann. Wie auch Unterscheidungen aufgrund des Geschlechts bedürfen Unterscheidungen aufgrund der sexuellen Orientierung zu ihrer Rechtfertigung besonders schwerwiegender Gründe.
Im vorliegenden Fall versuchte der Bf., sich nach dem Tod von W. des in § 14 MRG verbürgten Rechts auf Eintritt in das Mietverhältnis zu bedienen. Der OGH, der schließlich der Auflösung des Mietverhältnisses zustimmte, begründete dies nicht mit dem Vorliegen wichtiger Gründe für eine Beschränkung des mietrechtlichen Eintrittsrechts auf heterosexuelle Paare. Statt dessen führte er an, dass es 1974 bei der Erlassung von § 14 (3) MRG nicht die Absicht des historischen Gesetzgebers gewesen wäre, auch den Schutz homosexueller Paare einzuschließen. Die Reg. bringt nunmehr vor, dass es das Ziel dieser Bestimmung wäre, die traditionelle Familie zu schützen. Der GH kann anerkennen, dass der Schutz der Familie im traditionellen Sinn grundsätzlich ein gewichtiger und legitimer Grund für eine unterschiedliche Behandlung sein kann. Es bleibt zu prüfen, ob unter den Umständen des vorliegenden Falls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde.
In Fällen, in denen den Staaten nur ein enger Ermessensspielraum zukommt, wie bei einer unterschiedlichen Behandlung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, erfordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur, dass die ergriffene Maßnahme prinzipiell zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet ist. Es muss auch gezeigt werden, dass es notwendig war, in einer homosexuellen Beziehung lebende Personen vom Anwendungsbereich des § 14 MRG auszuschließen, um dieses Ziel zu erreichen. Der GH kann nicht erkennen, dass die Reg. irgendwelche Argumente vorgebracht hätte, die eine solche Schlussfolgerung zulassen würden.
Die Reg. hat keine überzeugenden und schwerwiegenden Gründe vorgebracht, die die enge Auslegung des § 14 (3) MRG, wonach sich der überlebende Partner einer homosexuellen Beziehung nicht auf diese Bestimmung berufen kann, rechtfertigen würden. Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Grabenwarter).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
EUR 5.000,-- für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Grabenwarter).
Vom GH zitierte Judikatur:
Irland/GB v. 18.1.1978, A/25 (= EuGRZ 1979, 149).
Burghartz/CH v. 22.2.1994, A/280-B (= NL 1994, 76 = ÖJZ 1994, 559).
Karlheinz Schmidt/D v. 18.7.1994, A/291-B (= NL 1994, 325 = EuGRZ
1995, 392 = ÖJZ 1995, 148).
Petrovic/A v. 27.3.1998 (= NL 1998, 76 = ÖJZ 1998, 516).
Smith Grady/GB v. 27.9.1999 (= NL 1999, 156 = ÖJZ 2000, 614).
Salgueiro da Silva Mouta/P v. 21.12.1999 (= NL 2000, 20).
S.L./A v. 9.1.2003 (= NL 2003, 16).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.7.2003, Bsw. 40016/98, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2003, 214) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/03_4/Karner.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.