Bsw30218/96 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Nowicka gegen Polen, Urteil vom 3.12.2002, Bsw. 30218/96.
Spruch
Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK - Haft zur Erzwingung einer psychiatrischen Untersuchung.
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 10.000,- für immateriellen Schaden; EUR 2.000,- für Kosten und Auslagen abzüglich EUR 510,- vom Europarat geleisteter Verfahrenshilfe (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Am 8.3.1994 brachte ein gewisser Herr H.D. gegen die Bf. eine Privatanklage wegen Verleumdung ein. Auf Antrag des Kl. ersuchte das Gericht die Psychiatrische Klinik Lódz um Informationen über eventuelle medizinische Behandlungen der Bf. Am 19.4.1994 teilte Dr. B.K. dem Gericht mit, dass die Bf. am 23.10.1973 die Klinik besucht hätte und dass ihre Akte einen Hinweis auf den Verdacht einer paranoiden Schizophrenie enthalte. Das Gericht gab am 19.5.1994 ein Gutachten über den Geisteszustand der Bf. im Zeitpunkt der ihr vorgeworfenen Straftat in Auftrag.
Das BG Lódz wies die Bf. an, sich am 10.6.1994 einer Untersuchung in der von Dr. B.K. geleiteten psychiatrischen Abteilung des Babinski Krankenhauses zu unterziehen. Die gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos. Nachdem sich die Bf. weder zu diesem noch zu einem der beiden weiteren gerichtlich angeordneten Termine zur Untersuchung im Krankenhaus einfand, erließ das BG Lódz am 4.10.1994 einen Haftbefehl zur Durchsetzung seiner Anordnung. Am 25.10.1994 wurde die Bf. festgenommen, am 2.11.1994 wurde sie einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen. Die Ärzte kamen zu dem Schluss, dass sie keine verlässliche Diagnose an Hand einer einzelnen Untersuchung abgeben könnten und empfahlen eine Untersuchung in einer öffentlichen Krankenanstalt. Am 3.11.1994 wurde die Bf. aus der Haft entlassen.
Nachdem die Bf. auch einer neuerlichen gerichtlichen Anordnung einer Untersuchung nicht Folge geleistet hatte, wurde am 9.11.1994 wiederum ein Haftbefehl erlassen. Am 23.3.1995 wurde sie verhaftet. Das von der Bf. gegen den Haftbefehl erhobene Rechtsmittel wurde am 29.3.1995 abgewiesen. Während der Haft war es der Tochter der Bf. nur einmal pro Monat gestattet, ihr Mutter zu besuchen. Zwischen 19.4. und 26.5.1995 wurde die Bf. in der Krankenstation des Gefangenenhauses untersucht. Die Ärzte stellten fest, dass sie überdurchschnittlich intelligent sei und keine Anzeichen einer Geisteskrankheit zeige, jedoch eine paranoide Persönlichkeit habe. Am 3.6.1995 wurde die Bf. aus der Haft entlassen. Das Strafverfahren wurde eingestellt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (1) EMRK:
Die Bf. bringt vor, ihre Festnahme am 25.10.1994 bzw. am 23.3.1995 und die jeweils folgende Haft wären unrechtmäßig gewesen und stellten einen Verstoß gegen Art. 5 (1) EMRK dar. Die Dauer der Haft vom 25.10. bis 3.11.1994 könne nicht durch die Notwendigkeit einer einzelnen Untersuchung gerechtfertigt werden, die normalerweise nicht mehr als eine Stunde dauern würde. Auch für die Haft vor und nach der zweiten Untersuchung fehle eine Rechtfertigung.
Gemäß Art. 5 (1) EMRK darf einem Menschen die Freiheit nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden. Grundsätzlich ist dieses Erfordernis erfüllt, wenn die Haft auf einer gerichtlichen Entscheidung beruht. Die in Art. 5 (1) EMRK genannten Rechtfertigungsgründe für einen Eingriff in das Recht auf Freiheit sind abschließend und nur ihre restriktive Interpretation kann den Zielen dieser Bestimmung, nämlich den Schutz vor willkürlicher Beschränkung der persönlichen Freiheit, gerecht werden. Art. 5 (1) (b) EMRK erlaubt eine Haft nur „zur Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung". Es muss daher eine unerfüllte Verpflichtung bestehen und die Haft muss der Sicherstellung ihrer Erfüllung dienen und darf keinen strafenden Charakter haben. Mit der Erfüllung der entsprechenden Verpflichtung fällt die Grundlage der Haft weg. Schließlich muss eine Abwägung erfolgen zwischen dem öffentlichen Interesse an der unverzüglichen Erfüllung der Verpflichtung und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit.
Im vorliegenden Fall wurde die Freiheit der Bf. auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen und beruhte auf Art. 5 (1) (b) EMRK. Vor ihrer ersten Untersuchung wurde die Bf. acht Tage angehalten, die zweite Untersuchung erfolgte nach 27 Tagen Haft. Die Dauer dieser Anhaltungen kann nicht mit dem Wunsch der Behörden in Einklang gebracht werden, die unverzügliche Erfüllung der Verpflichtung der Bf. sicher zu stellen. Die „technischen Gründe", auf die sich die Reg. beruft, können nicht rechtfertigen, dass die Bf. vor der Durchführung einer kurzen Untersuchung acht Tage lang angehalten wurde. Die Behörden haben es verabsäumt, eine Abwägung zwischen dem Interesse an der Sicherstellung einer unverzüglichen Erfüllung der Verpflichtung der Bf. und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit vorzunehmen.
Die Reg hat keine Erklärung für die Anhaltung der Bf. nach den Untersuchungen abgegeben. Die Bf. hat ihre Verpflichtung jeweils an dem Tag, an dem ihre Untersuchung endete, erfüllt. Ihre weitere Anhaltung nach dem 2.11.1996 bzw. dem 26.5.1995 hatte daher keine Grundlage in Art. 5 (1) (b) EMRK. Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:
Die Bf. erachtet sich durch die Beschränkungen des Kontakts zu ihren Familienmitgliedern auf einen Besuch pro Monat in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.
Es ist unbestritten, dass der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte. Auch wenn die Anhaltung selbst als einem legitimen Ziel, nämlich der Verhinderung von Straftaten und dem Schutz der Gesundheit und der Rechte Dritter, dienend betrachtet werden könnte, verfolgte die Beschränkung des Rechts der Bf., Mitglieder ihrer Familie zu sehen, kein legitimes Ziel. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
EUR 10.000,-- für immateriellen Schaden; EUR 2.000,-- für Kosten und Auslagen abzüglich EUR 510,-- vom Europarat geleisteter
Verfahrenshilfe (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Benham/UK v. 10.6.1996 (= NL 1996, 109 = ÖJZ 1996, 915).
Marincola Sestito/I v. 25.11.1999.
Georgiou/GR v. 13.1.2000.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.12.2002, Bsw. 30218/96, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 270) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/02_6/Nowicka.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.