Bsw50776/99 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Agga gegen Griechenland, Urteil vom 17.10.2002, Bsw. 50776/99.
Spruch
Art. 9 EMRK, Art. 10 EMRK - Verurteilung wegen Anmaßung eines religiösen Amtes und Religionsfreiheit.
Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 10
EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Was den Zuspruch von immateriellem Schaden betrifft, stellt das Urteil selbst eine ausreichende Entschädigung dar (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Nachdem eines der beiden religiösen Oberhäupter der moslemischen Gemeinde Thrakiens verstorben war, wurde der Bf. im Februar 1990 vom lokalen Präfekten zu seinem Stellvertreter ernannt. Im August 1990 stellten zwei dem Islam angehörende Parlamentsabgeordnete den Antrag, der Staat möge Wahlen für die Stelle des Mufti von Xanthi durchführen, wie dies gesetzlich vorgesehen war. Nachdem sie keine Reaktion erhalten hatten, beschlossen sie, die Wahl selbst durchzuführen. Am 17.8.1990 wurde der Bf. von den in den Moscheen versammelten Gläubigen zum Mufti von Xanthi gewählt. Am 20.8.1991 ernannte die griech. Reg. einen neuen Mufti von Xanthi, nachdem zuvor die gesetzlichen Bestimmungen über die Bestellung geändert worden waren. Nach dem neuen Gesetz werden die Muftis nicht länger von den Gläubigen gewählt, sondern vom griech. Staatspräsidenten per Dekret bestellt. Der Bf. weigerte sich, sein Amt niederzulegen. Daraufhin wurden mehrere Strafverfahren gegen den Bf. wegen unrechtmäßiger Anmaßung eines religiösen Amtes eingeleitet. Zwischen Juni 1996 und Mai 1998 wurde er in mehreren Fällen zu Freiheitsstrafen verurteilt, weil er im Namen des Mufti von Xanthi religiöse Mitteilungen veröffentlicht hatte. Der Bf. erhob gegen diese Verurteilungen Berufung, woraufhin die Freiheitsstrafen in Geldstrafen umgewandelt wurden. Dem vom Bf. erhobenen Rechtsmittel an das Verfassungsgericht wurde nicht stattgegeben. Das Gericht sah den Tatbestand des Art. 175 des griech. Strafgesetzbuches (Anm.:
Gemäß Art. 175 des griech. Strafgesetzbuches ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe zu bestrafen, wer sich die Funktionen eines staatlichen Beamten anmaßt. Dieser Tatbestand erfasst auch die Würdenträger der griechisch-orthodoxen Kirche und sonstiger anerkannter Religionsgemeinschaften.) als erfüllt an, weil der Bf. wie ein Mufti handelte und in der Öffentlichkeit als solcher auftrat. Die Verurteilung des Bf. stünde im Einklang mit der EMRK, weil er nicht für seine religiösen Ansichten oder für bestimmte Äußerungen bestraft worden wäre, sondern wegen der unrechtmäßigen Anmaßung eines religiösen Amtes.
Drei weitere Strafverfahren gegen den Bf. wegen der Veröffentlichung religiöser Mitteilungen im Namen des Mufti von Xanthi endeten mit einem Freispruch in zweiter Instanz. In seinem Urteil vom 21.3.2001 führte das Berufungsgericht aus, der Bf. habe durch die Veröffentlichung von Mitteilungen an Gläubige, die ihn freiwillig als religiöses Oberhaupt anerkannten, sich nicht der unrechtmäßigen Anmaßung eines religiösen Amtes schuldig gemacht, sondern lediglich von seinem durch Art. 9 EMRK gewährleisteten Recht, seine Religion auszuüben, Gebrauch gemacht.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Recht auf Religionsfreiheit) und Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK:
Die Verurteilungen des Bf. stellen einen Eingriff in sein Recht dar, seine Religion in Gemeinschaft mit anderen öffentlich durch Gottesdienst und Unterricht auszuüben.
Der GH sieht von einer Erörterung der Frage ab, ob der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage basierte, da er aus anderen Gründen unvereinbar mit Art. 9 EMRK war.
In Anbetracht dessen, dass der Bf. nicht der einzige war, der das Amt des Mufti von Xanthi beanspruchte, verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.
Der Bf. wurde verurteilt, weil er Mitteilungen religiösen Inhalts veröffentlicht und diese als „Mufti von Xanthi" gezeichnet hat. Die Verurteilungen bezogen sich nicht auf Akte des Bf., die rechtliche Konsequenzen gehabt hätten. Es wurde auch nicht bestritten, dass der Bf. zumindest von einem Teil der moslemischen Gemeinde Xanthis anerkannt wurde. Nach Ansicht des GH kann eine strafrechtliche Verurteilung bloß dafür, dass der Bf. als religiöses Oberhaupt einer Gruppe handelte, von der er freiwillig anerkannt wurde, kaum als vereinbar mit den Erfordernissen eines religiösen Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden. Der Bf. versuchte nie, die rechtlichen oder administrativen Funktionen eines Mufti auszuüben, zu denen diese gesetzlich ermächtigt sind. Der GH erachtet das Ergreifen von staatlichen Maßnahmen zur Sicherstellung einer einheitlichen Führung religiöser Gemeinschaften auch nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft.
Die Reg. bringt vor, dass ihr Eingreifen notwendig war, um das Entstehen von Spannungen innerhalb der islamischen Gemeinde in Xanthi bzw. zwischen dieser und der christlichen Gemeinde sowie zwischen Griechenland und der Türkei zu verhindern. Der GH anerkennt zwar, dass im Falle einer Spaltung einer Religionsgemeinschaft Spannungen entstehen können, dies ist jedoch eine unvermeidbare Begleiterscheinung des religiösen Pluralismus. Die Aufgabe der Behörden besteht in solchen Fällen nicht in der Beseitigung der Ursache für die Spannungen, sondern in der Sicherstellung gegenseitiger Toleranz der einzelnen Gruppierungen. Überdies weist nichts darauf hin, dass die Gefahr der ins Treffen geführten Spannungen mehr als eine vage Wahrscheinlichkeit darstellte. Die Verurteilungen des Bf. waren daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 10
EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Was den Zuspruch von immateriellem Schaden betrifft, stellt das Urteil selbst eine ausreichende Entschädigung dar (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Kokkinakis/GR v. 25.5.1993, A/260-A (= NL 1993/4, 19 = ÖJZ 1994, 59).
Serif/GR v. 14.12.1999 (= NL 2000, 15).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.10.2002, Bsw. 50776/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 215) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/02_5/Agga.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.