Bsw52207/99 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Vladimir und Borka Bankovic u.a. gegen Belgien und 16 andere NATO-Staaten, Zulässigkeitsentscheidung vom 12.12.2001, Bsw. 52207/99.
Spruch
Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK, Art. 15 EMRK, Art. 31 Abs. 1 WVK, Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK, Art. 32 WVK - NATO-Bombardements in Jugoslawien und Anwendbarkeit der EMRK.
Unzulässigkeit der Beschwerde gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die sechs Bf. sind jugosl. Staatsangehörige und wurden beim Bombenangriff der NATO auf die Belgrader Radio- und Fernsehstation RTS am 23.4.1999 verletzt bzw. hatten nahe Angehörige verloren. Zu den militärischen Aktionen der NATO war es gekommen, weil Jugoslawien im Kosovo-Konflikt nicht bereit war, das in Rambouillet ausgehandelte Friedensabkommen zu unterzeichnen. (Anm.: Mit diesem sollte die Unterdrückung und Vertreibung der albanisch-stämmigen Bevölkerung durch Serbien im Kosovo beendet bzw. rückgängig gemacht werden.) Die Bsw. wurde gegen 17 NATO-Staaten eingebracht, die Vertragsstaaten der EMRK sind.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, durch die NATO-Angriffe im Recht auf Leben gemäß Art. 2 EMRK verletzt worden zu sein. Sie machen dafür jeden einzelnen NATO-Staat verantwortlich, der Vertragspartei der EMRK ist, und berufen sich dafür auf Art. 1 EMRK, wonach diese allen ihrer Hoheitsgewalt (jurisdiction) unterstehenden Personen die Konventionsrechte zugesichert hätten.
Im Besonderen führen die Bf. aus, der Begriff „Hoheitsgewalt"
(jurisdiction) sei im Sinne einer „effektiven Kontrolle" wie im Fall
Loizidou/TR (Anm: Urteil v. 23.3.1995 (vorläufige Einreden), A/310 (=
NL 1995, 83 = ÖJZ 1995, 629); Urteil v. 18.12.1996 (= EuGRZ 1997, 555
= ÖJZ 1997, 793)) zu verstehen, wobei der Grad der Verantwortlichkeit
vom Grad der tatsächlichen Kontrolle abhänge. Wenn daher ein belangter Staat ein Ziel außerhalb seines Territoriums angreife, heiße das zwar nicht, dass er verpflichtet sei, dort alle Konventionsrechte zu garantieren; allerdings müsse er für jene Rechte einstehen, die sich in seinem Einflussbereich befänden. In diesem Sinn betonen die Bf., dass die NATO die faktische Lufthoheit über Jugoslawien ausgeübt habe; außerdem unterstreichen sie die überragende Bedeutung des Rechts auf Leben im Rahmen der Konvention als Instrument eines europäischen ordre public wie auch den Umstand, dass die Bf. sonst über keinen Rechtsschutz auf internationaler Ebene verfügen würden.
Demgegenüber vertreten die belangten Staaten Auffassungen, die sich weitgehend in der folgenden Begründung des GH wiederfinden. Für den GH ist die entscheidende Frage, ob der extraterritoriale Akt des Bombardements grundsätzlich geeignet war, die Bf. unter die Hoheitsgewalt (jurisdiction) der beklagten Staaten zu bringen. Dies erfordert eine Auslegung von Art. 1 EMRK im Lichte der WVK mit dem Ziel, die gewöhnliche Bedeutung der Worte „ihrer Hoheitsgewalt unterstehend" im Zusammenhang und im Lichte von Ziel und Zweck der Konvention zu ermitteln (Art. 31 (1) WVK). Nach der gewöhnlichen Wortbedeutung ist die Hoheitsgewalt eines Staates primär territorial bestimmt. Zwar schließt das Völkerrecht die extraterritoriale Ausübung von Hoheitsgewalt nicht aus, doch ist diese gewöhnlich durch die souveränen Territorialrechte anderer Staaten beschränkt. Extraterritoriale Akte sind zwar auch auf dem Staatsgebiet anderer Staaten möglich, doch bedürfen sie der Zustimmung des Territorialstaates, sofern es sich nicht gar um eine militärische Besetzung handelt, mit welcher bereits Gebietshoheit verbunden ist. Der GH ist jedenfalls der Auffassung, dass Art. 1 EMRK einem gewöhnlichen und im Wesentlichen territorialen Verständnis von Hoheitsgewalt (jurisdiction) entspringt. Darüber hinausgehende Ausübung von Hoheitsgewalt sei exzeptionell und bedürfe in jedem einzelnen Fall besonderer Rechtfertigung.
Der GH zieht für seine Auslegung auch die spätere Praxis iSv. Art. 31
(3) (b) WVK heran, der sich in bestimmter Hinsicht eine einvernehmliche Auslegung durch die Vertragsparteien entnehmen lässt. Die seit dem Inkrafttreten der Konvention entfaltete Staatenpraxis zu ähnlichen Auslandsmissionen zeigt nämlich, dass die Staaten dabei nie an die Ausübung von Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK dachten. Ansonsten hätten sie sich wohl auf Krieg oder Notstand berufen, um gemäß Art. 15 EMRK eine vorübergehende Suspendierung von Menschenrechten zu erwirken. Von dieser Möglichkeit wurde jedoch nie, sondern höchstens im Fall interner Konflikte Gebrauch gemacht. Bestätigung für seine Auffassung findet der GH auch in den travaux préparatoires (den vorbereitenden Arbeiten) zur EMRK, denen freilich gemäß Art. 32 WVK nur eine subsidiäre Rolle zukommt: Ein früherer Konventionsentwurf hatte nämlich nur Personen mit Wohnsitz im Staatsgebiet geschützt. Indem man dann auf die „Hoheitsgewalt" abstellte, wurde der Schutz auf Personen ausgedehnt, die sich im Staatsgebiet aufhielten, ohne einen Wohnsitz begründet zu haben. An eine noch weitere Ausdehnung des Schutzes dachte man nicht.
Der GH geht dann näher auf seine Vorjudikatur ein, um Unterschiede zu
verdeutlichen. In Soering/GB (Anm: Urteil v. 7.7.1989, A/161 (= EuGRZ
1989, 314)), Cruz Varas ua./S (Anm: Urteil v. 20.3.1991, A/201 (=
EuGRZ 1991, 203 = ÖJZ 1991, 519)) und in anderen Fällen ging es um
Auslieferung oder Abschiebung und die Haftung eines Staates für im Ausland drohende Tötungs- und Folterakte. Darin lag aber keine Ausübung von Hoheitsgewalt im Ausland, sondern eben gerade im Inland. In den Nordzypern-Fällen übte der belangte Staat (die Türkei) als Folge der militärischen Okkupation Nordzyperns eine effektive Kontrolle über fremdes Staatsgebiet aus, woraus sich die Haftung für dort begangene Menschenrechtsverletzungen ableitete. Für den vorliegenden Fall vertreten die Bf. ein Konzept, wonach die Verpflichtung eines Staates zur Garantie der Menschenrechte in einer extraterritorialen Situation dem Ausmaß der staatlichen Kontrolle folge. Ein solches „Ursache/Wirkung-Verständnis" der Hoheitsgewalt würde bedeuten, dass jeder, der irgendwo auf der Welt durch den Akt eines Staates beeinträchtigt würde, für Zwecke des Art. 1 EMRK unter die Hoheitsgewalt dieses Staates fiele. Träfe dies zu, gäbe es für die Worte „ihrer Hoheitsgewalt unterstehend" keine Erklärung und wären diese schlicht überflüssig. Hätten die Schöpfer der Konvention eine so weitreichende Anwendung gewünscht, hätten sie wohl den Text des gemeinsamen Art. 1 der vier Genfer Rotkreuz-Konventionen 1949 übernommen, der seine Rechtsgarantie ohne eine solche Klausel, also uneingeschränkt, ausspricht.
Dem Argument der Bf., wonach die Konvention eine ordre public-Funktion zu erfüllen habe und bei der Unzulässigkeit der Bsw. ein bedauerliches Vakuum im Rechtschutzsystem eintrete, setzt der GH die regionale Ausrichtung des EMRK-Systems entgegen. Der Fall sei anders gelagert als im Fall Zypern gg. die Türkei (Anm: Urteil v. 10.5.2001), in dem man die Haftung der Türkei bejahte, um ein „bedauerliches Vakuum im System des Menschenrechtsschutzes" für Nordzypern zu vermeiden. Dort hätte die Konvention schon zuvor gegolten, handle es sich doch um den europäischen Rechtsraum (espace juridique). Die Bundesrepublik Jugoslawien falle jedoch nicht in diesen Rechtsraum; für eine weltweite Anwendung durch die Mitgliedstaaten sei die Konvention aber nicht konzipiert. Zusammenfassend stellt der GH fest, dass die Militäraktion der belangten Staaten nicht unter die Konvention fällt. Andere aufgeworfene Zulässigkeitsfragen wie die Haftung der Konventionsstaaten für den Akt einer internationalen Organisation (NATO) oder die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges hält er nicht mehr für prüfungsbedürftig. Unzulässigkeit der Bsw. gemäß Art. 35 (3) und (4) EMRK (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 12.12.2001, Bsw. 52207/99, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 48) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut
(pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/02_2/Bankovic.pdf
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.