Bsw37555/97 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache O'Hara gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 16.10.2001, Bsw. 37555/97.
Spruch
Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 5 EMRK - Hinreichender Tatverdacht für die Festnahme eines mutmaßlichern Mörders.
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (6:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: GBP 11.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist ein prominentes Mitglied der Partei „Sinn Fein". Am 28.12.1985 wurde er unter dem Verdacht der Ermordung eines Mitarbeiters einer Firma, die für mehrere Polizeistationen in Derry arbeitet, gemäß § 12 (1) (b) des Prevention of Terrorism (Temporary Provisions) Act 1984 festgenommen (Anm.: Nach dieser Bestimmung kann eine Person ohne Haftbefehl festgenommen werden, wenn ein hinreichender Verdacht für die Begehung, Vorbereitung oder Anstiftung zu terroristischen Handlungen besteht. Eine nach dieser Vorschrift festgenommene Person kann grundsätzlich nicht länger als 48 Stunden angehalten werden, jedoch kann diese Zeitspanne durch einen ministeriellen Beschluss auf unbestimmte Zeit ausgedehnt werden). Er wurde daraufhin im Castleragh Detention Centre, einem Zentrum für terroristische Ermittlungen in Belfast, zu den Vorwürfen von der Polizei befragt. Am 29.12.1985 verlängerte der Nordirlandminister die gesetzlich vorgeschriebene Anhaltefrist von 48 Stunden auf fünf Tage. Der Bf. wurde am 3.1.1986, nach insgesamt sechs Tagen und 13 Stunden in polizeilichem Gewahrsam, wieder freigelassen. Gegen diese Anhaltung brachte der Bf. eine Schadenersatzklage ein, die jedoch in allen Instanzen erfolglos war.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Art. 5 (3) EMRK (Recht, unverzüglich einem Richter oder einem anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Befugnisse ermächtigten Beamten vorgeführt zu werden) und Art. 5 (5) EMRK (Recht auf Entschädigung).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (1) EMRK:
Der hinreichende Tatverdacht, auf den eine Festnahme gestützt werden muss, ist ein essentieller Bestandteil des Schutzes gegen willkürliche Festnahmen und Anhaltungen gemäß Art. 5 (1) (c) EMRK. Voraussetzung dafür ist die Existenz von Fakten oder Informationen, die es einem objektiven Beobachter soweit glaubhaft machen, dass die betroffene Person die Straftat begangen haben könnte. IZm. mit terroristischen Verbrechen ergeben sich jedoch besondere Probleme, da die Polizei im Interesse der öffentlichen Sicherheit einen verdächtigen Terroristen auf Basis einer verlässlichen Information zwar festnehmen, diese aber dem Verdächtigen bzw. einem Gericht nicht mitteilen kann, ohne den Informanten zu gefährden. Obwohl von den Vertragsstaaten nicht verlangt werden kann, den hinreichenden Tatverdacht durch Preisgabe vertraulicher Informationsquellen nachzuweisen, können selbst die Anforderungen der Terrorismusbekämpfung die Ausdehnung des Begriffes „hinreichend" nicht soweit rechtfertigen, dass damit der Schutz durch Art. 5 (1) (c) EMRK vermindert werden würde. Weiters wird festgehalten, dass Art. 5 (1) (c) EMRK nicht voraussetzt, dass die Polizei schon bei der Festnahme oder während der Anhaltung über genügend Beweismaterial verfügt, um ein Strafverfahren einzuleiten. Nach innerstaatlicher Rechtslage muss für den hinreichenden Tatverdacht eine ehrliche Verdächtigung auf sachlichen Gründen (honest suspicion upon reasonable grounds) basieren. Dies unterscheidet den vorliegenden Fall von den Fällen Fox, Campell Hartley/GB und Murray/GB, bei denen nach nationalem Recht noch der ehrliche Verdacht eines Polizisten für die Festnahme ausreichte.
Im vorliegenden Fall wurde die Frage, ob sich der Verdacht auf sachliche Gründe stützte, in drei innerstaatlichen Instanzen geprüft. In diesen Verfahren gab der einschreitende Beamte als Zeuge Auskunft über die näheren Umstände der Festnahme und konnte dazu auch vom Anwalt des Bf. befragt werden. Diese Tatsache stellt schon per se einen signifikanten Schutz vor willkürlicher Haft dar. Was den Grund für die Festnahme angeht, sagte der festnehmende Beamte aus, dass er während einer Lagebesprechung von einem Vorgesetzten die Information erhalten hatte, dass der Bf. in einen Mordfall verwickelt wäre. Vom Anwalt des Bf. wurde während des Verfahrens nicht nach der Art der Information gefragt, auch wurde nicht beantragt, andere mit der Festnahme des Bf. in Zusammenhang stehende Beamte zu befragen. Im vorliegenden Fall war gegen den Bf. ein gewisser Verdacht vorhanden. Zweck des Entzugs der persönlichen Freiheit war es, diesen Verdacht zu erhärten oder auszuräumen. Der Bf. wurde daher aufgrund eines hinreichenden Tatverdachts iSv. Art. 5 (1) (c) EMRK festgenommen und angehalten. Keine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Loucaides).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (3) EMRK:
Die Reg. bestreitet nicht, dass der Bf. sechs Tage und 13 Stunden angehalten wurde und dass dies nicht in Übereinstimmung mit dem Erfordernis geschah, eine festgenommene Person unverzüglich vor einen Richter oder einen anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Befugnisse ermächtigten Beamten zu bringen. Verletzung von Art. 5 (3) EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (5) EMRK:
Da die Länge der Anhaltung bis zur Freilassung eine Verletzung von Art. 5 (3) EMRK darstellt, jedoch in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht geschah, ist es unbestritten, dass dem Bf. kein durchsetzbares Recht auf Haftentschädigung zur Verfügung stand. Verletzung von Art. 5 (5) EMRK (einstimmig).
Vgl. die vom GH zitierte Judikatur:
Brogan ua./GB v. 29.11.1988, A/145-B.
Fox, Campbell Hartley/GB v. 30.8.1990, A/182.
Murray/GB v. 28.10.1994 (= NL 1994, 333).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.10.2001, Bsw. 37555/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2001, 205) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/01_5/Hara.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.