Bsw34044/96 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Grosse Kammer, Beschwerdesachen Steletz, Kessler und Krenz gegen Deutschland und K.-H. W. gegen Deutschland, Urteile vom 22.3.2001, Bsw. 34044/96, Bsw. 35532/97, Bsw. 44801/98 und Bsw. 37201/97.
Spruch
Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK, Art. 7 EMRK, Art. 14 EMRK - Strafrechtliche Verurteilung wegen Tötung von Flüchlingen an der innerdeutschen Grenze.
Keine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (14:3 Stimmen). Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 7 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Drei der Bf. waren hohe Amtsträger der DDR: Fritz Streletz war stellvertretender Verteidigungsminister, Heinz Kessler Verteidigungsminister und Egon Krenz Staatsratsvorsitzender. K.-H. W. war als Soldat der Nationalen Volksarmee der DDR an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten stationiert. Die Bf. Streletz, Kessler und Krenz sind nach der Wiedervereinigung von den deutschen Gerichten zu Freiheitsstrafen von je fünfeinhalb Jahren, siebeneinhalb Jahren und sechseinhalb Jahren wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft verurteilt worden. Wegen ihrer Mitwirkung an Entscheidungen des Nationalen Verteidigungsrates oder des Politbüros über die Gestaltung des Grenzregimes der DDR wurden sie für den Tod mehrerer Personen verantwortlich gemacht, die zwischen 1971 und 1989 versucht hatten, die DDR über die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zu verlassen.
Der Bf. K.-H. W. ist nach der Wiedervereinigung wegen Totschlags zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsentzug mit Bewährung verurteilt worden, weil er wegen Schusswaffengebrauchs als verantwortlich für den Tod einer Person angesehen wurde, die 1972 versucht hatte, die DDR über die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zu verlassen. Die Verurteilungen sind vom Bundesgerichtshof bestätigt und vom Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform befunden worden.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. machen geltend, dass die Handlungen zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurden, nach DDR-Recht oder nach Völkerrecht nicht strafbar waren, und dass ihre nachträgliche Verurteilung durch die deutschen Gerichte somit gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 7 (1) EMRK verstoße. Sie berufen sich ferner auf Art. 1 EMRK und Art. 2 (2)
EMRK.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:
Es muss geprüft werden, ob die Strafbarkeit der Handlungen der Bf. zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurden, nach dem innerstaatlichen Recht der DDR oder nach Völkerrecht hinlänglich erkennbar und vorhersehbar war.
a) Innerstaatliches Recht:
1. Gesetzliche Grundlage: Die Verurteilung der Bf. hatte ihre gesetzliche Grundlage in dem zur Tatzeit anwendbaren Strafrecht der DDR. Die Strafen entsprachen im Prinzip denen, die in den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen der DDR vorgesehen waren; wegen des Prinzips der Anwendung des milderen Rechts, nämlich des Rechts der BRD, waren die verhängten Strafen sogar geringer.
2. Rechtfertigungsgründe nach DDR-Recht: Die Bf. berufen sich auf § 17 (2) DDR-Volkspolizeigesetz und § 27 (2) DDR-Grenzgesetz. Im Lichte der in der Verfassung und in den gesetzlichen Bestimmungen der DDR verankerten Grundsätze (die das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und des Schutzes des menschlichen Lebens beim Schusswaffengebrauch ausdrücklich anerkannten) ist die Verurteilung der Bf. durch die deutschen Gerichte auf den ersten Blick weder willkürlich noch scheint sie Art. 7 (1) EMRK zu widersprechen.
3. Rechtfertigungsgründe aus der Praxis der DDR: Selbst wenn es das Ziel der Staatspraxis der DDR war, die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten um jeden Preis zu schützen, um die Existenz der DDR zu gewährleisten, betont der GH, dass diese Staatsraison ihre Grenzen in den in der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der DDR verankerten Grundsätzen finden muss; da das Gebot, das menschliche Leben zu schützen, sowohl in der Verfassung als auch im Volkspolizeigesetz und im Grenzgesetz der DDR niedergelegt war, können sich die Bf. nicht auf eine damit im Widerspruch befindliche Praxis der Behörden berufen, zumal das Recht auf Leben schon zur Tatzeit das höchste Rechtsgut auf der Werteskala der international anerkannten Menschenrechte darstellte.
4. Vorhersehbarkeit der Verurteilungen:
(2) des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte steht es "jedermann frei (…), jedes Land, einschließlich sein eigenes, zu verlassen". Die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Einschränkungen dieses Rechts sind ebenfalls nicht anwendbar, insbesondere können solche Einschränkungen nicht über das Recht auf Leben gestellt werden.
4. Staatliche Verantwortlichkeit der DDR und individuelle Verantwortlichkeit der Bf.: Die DDR wäre daher, wenn sie noch existieren würde, für die dargestellten Handlungen unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten verantwortlich. Es bleibt jedoch darzulegen, dass neben der staatlichen Verantwortlichkeit zur Tatzeit auch eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bf. vorlag. Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine solche Verantwortlichkeit nicht aus den zitierten internationalen Menschenrechtstexten hervorgeht, so kann sie doch aus diesen Texten in Verbindung mit Art. 95 DDR-StGB abgeleitet werden. Dieser Artikel sah seit 1968 eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für diejenigen vor, die die völkerrechtlichen Verpflichtungen der DDR oder die Grund- und Menschenrechte missachteten. Es war also die Strafbarkeit der Handlungen der Bf. zu dem Zeitpunkt, als sie begangen wurden, auch nach Völkerrecht hinlänglich erkennbar und vorhersehbar. Das Verhalten der Bf. könnte, ebenfalls im Rahmen von Art. 7 (1) EMRK, noch nach weiteren Vorschriften des Völkerrechts geprüft werden, va. denjenigen, die sich auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit beziehen. Die Entscheidung, zu der der GH gelangt ist, macht eine solche Prüfung jedoch überflüssig.
c) Schlussfolgerung
Folglich haben die nach der Wiedervereinigung ergangenen Verurteilungen der Bf. durch die deutschen Gerichte Art. 7 (1) EMRK nicht verletzt. Angesichts dieser Tatsache muss der GH nicht prüfen, ob die Verurteilungen der Bf. nach Art. 7 (2) EMRK gerechtfertigt waren (einstimmig im Fall Streletz, Kessler Krenz; 14:3 Stimmen im Fall K.-H. W., Sondervoten der Richter Cabral Barreto, Pellonpää und Zupancic).
Zum Beschwerdepunkt gemäß Art. 1 EMRK:
Die Bf. rügen unter Berufung auf Art. 1 EMRK, dass sie als ehemalige Staatsbürger der DDR in Bezug auf das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot keinen vollen Rechtsschutz genießen. Der GH vertritt die Auffassung, dass dieser Beschwerdepunkt nicht nach Art. 1 EMRK zu prüfen ist, da es sich hier um eine Rahmenbestimmung handelt, die nicht getrennt verletzt werden kann. Er könnte jedoch eine Frage gemäß Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 7 EMRK aufwerfen, da die Bf. der Sache nach geltend machen, dass sie als ehemalige Bürger der DDR Opfer einer Diskriminierung waren. Der GH ist jedoch der Auffassung, dass die vom Bundesverfassungsgericht angewandten Grundsätze allgemeine Bedeutung haben und somit auch für Personen gelten, die keine ehemaligen DDR-Bürger waren. Folglich liegt keine Diskriminierung iSv. Art. 14 EMRK iVm. Art. 7 EMRK vor (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 22.3.2001, Bsw. 34044/96, Bsw. 35532/97, Bsw. 44801/98 und Bsw. 37201/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2001, 59) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/01_2/Streletz.pdf www.menschenrechte.ac.at/orig/01_2/K.-H.W..pdf
Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.