Bsw7205/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Clift gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 13.7.2010, Bsw. 7205/07.
Spruch
Art. 5, 15 EMRK - Diskriminierung bei bedingter Haftentlassung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden und € 7.150,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. wurde 1994 wegen schwerer Verbrechen, unter anderem versuchten Mordes, zu 18 Jahren Haft verurteilt. Im März 2002 trat für ihn gesetzlich die erste Möglichkeit auf bedingte Haftentlassung ein. Diese wurde von der Bewährungskommission auch befürwortet.
Gemäß dem damals geltenden Recht mussten Sträflinge, die eine befristete Haftstrafe von 15 oder mehr Jahren zu verbüßen hatten, zusätzlich eine Genehmigung des Ministers einholen, um eine vorzeitige Entlassung erwirken zu können. Für Sträflinge, die eine lebenslange oder eine befristete Haftstrafe von weniger als 15 Jahren zu verbüßen hatten, genügte eine Empfehlung der Bewährungskommission.
Da der Minister im Oktober 2002 die Genehmigung der bedingten Haftentlassung mit der Begründung verweigerte, diese würde eine inakzeptable Gefährdung der Öffentlichkeit nach sich ziehen, blieb der Bf. in Haft.
Der Bf. focht die Entscheidung des Ministers vor dem Divisional Court mit der Begründung an, dessen Befugnis, über die Genehmigung der Haftentlassung für nur eine Gruppe von Häftlingen zu entscheiden, verstoße gegen Art. 5 iVm. Art. 14 EMRK.
Am 17.3.2003 wurde die Berufung abgewiesen. Das Gericht ging von einer unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Gruppen von Häftlingen aus, die jedoch das legitime Ziel verfolge, einem politisch und demokratisch verantwortlichen Minister die Entscheidung über die vorzeitige Entlassung von Personen zu überlassen, die lange Haftstrafen zu verbüßen haben.
Im Zuge der Berufung an den Court of Appeal sprach die Berufungskommission erneut die Empfehlung aus, den Bf. bedingt aus der Haft zu entlassen. Da der Minister diesmal seine Zustimmung gab, wurde der Bf. am 10.3.2004 auf Bewährung entlassen. Die Berufung gegen das Urteil des Divisional Court wurde jedoch abgewiesen.
Am 13.12.2006 wies auch das House of Lords die Berufung des Bf. ab, da die unterschiedliche Behandlung nicht aufgrund des »Status« des Bf. erfolgte und somit keine von Art. 14 EMRK verbotene Diskriminierung stattgefunden habe.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet, in seinem Recht gemäß Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) verletzt zu sein.
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 iVm. Art. 14 EMRK
Der Bf. bringt vor, dass die Anforderung einer Genehmigung der Haftentlassung durch den Minister – zusätzlich zur Empfehlung der Bewährungskommission – für Häftlinge, die eine befristete Haftstrafe von 15 Jahren und mehr zu verbüßen haben, eine ungerechtfertigte unterschiedliche Behandlung darstelle.
1. Zur Zulässigkeit
Für die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK genügt es, dass der Fall in den Anwendungsbereich einer anderen materiellen Bestimmung der Konvention oder ihrer Protokolle fällt. Der GH hat bereits festgestellt, dass Art. 5 EMRK kein Recht auf automatische Bewährung garantiert. Werden diesbezügliche Verfahren jedoch offenbar in einer diskriminierenden Weise geführt, kann dies eine Angelegenheit nach Art. 5 in Verbindung mit Art. 14 EMRK begründen. Die vorliegende Beschwerde fällt somit in den Anwendungsbereich von Art. 5 EMRK. Art. 4 EMRK ist folglich ebenfalls anwendbar.
Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus anderen Gründen unzulässig ist, wird sie für zulässig erklärt (einstimmig).
2. In der Sache
Der GH prüft zunächst, ob der Bf. einen »sonstigen Status« im Sinne von Art. 14 EMRK hatte und – wenn ja – ob er sich in einer vergleichbaren Situation wie andere Häftlinge befand, die wohlwollender behandelt wurden. Trifft auch dies zu, bleibt zu klären, ob die unterschiedliche Behandlung objektiv gerechtfertigt war.
a. Hatte der Bf. einen »sonstigen Status«?
Art. 14 EMRK verbietet nur unterschiedliche Behandlungen, die aufgrund eines identifizierbaren, objektiven und persönlichen Charakteristikums oder »Status« erfolgen, durch das bzw. den Personen und Personengruppen unterschieden werden können. In der Bestimmung werden einige Charakteristika aufgezählt. Diese Liste ist jedoch, wie bereits aus dem Wortlaut hervorgeht, nicht abschließend. Um mit seiner Beschwerde erfolgreich zu sein, muss der Bf. im vorliegenden Fall zeigen, dass die unterschiedliche Behandlung aufgrund seines »sonstigen Status« iSv. Art. 14 EMRK erfolgte.
Dem Begriff »sonstiger Status« wurde in der bisherigen Rechtsprechung des GH ein weites Verständnis zugemessen. Nicht alle in Art. 14 EMRK enthaltenen Charakteristika sind so persönlich, dass sie dem Individuum angeboren oder eng mit seiner Identität oder Persönlichkeit verbunden sind. So gilt auch das Vermögen als unzulässiger Grund einer Diskriminierung.
Der GH legte dem Begriff in seiner Rechtsprechung sowohl Charakteristika zugrunde, die dem Individuum angeboren sind, als auch solche, die diese Voraussetzung nicht erfüllen. So subsumierte er unter anderem eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des militärischen Ranges (Anm.: Engel u.a./NL v. 8.6.1976.) unter diesen Passus, genauso wie Unterschiede aufgrund des Umstands, ein verurteilter Häftling zu sein (Anm.: Shelley/GB v. 4.1.2008.) oder dass eine Vaterschaft gerichtlich festgestellt oder gesetzlich vermutet wurde (Anm.: Paulík/SK v. 10.10.2006.).
Daraus schließt der GH, dass der von Art. 14 EMRK gewährte Schutz nicht auf unterschiedliche Behandlungen aufgrund von Eigenschaften beschränkt ist, die dem Individuum angeboren oder inhärent sind.
Der GH kann der Regierung auch nicht zustimmen, dass die beanstandete Behandlung unabhängig vom »sonstigen Status« existieren muss, auf den sie sich gründet. Dies geht aus der Rechtsprechung im Fall Paulík/SK hervor. Der Zweck von Art. 14 EMRK ist, dass durch die Staaten zugestandene Rechte, die zwar in den Anwendungsbereich der Konvention fallen, jedoch über die darin enthaltenen Mindestgarantien hinausgehen, fair und konsequent allen ihrer Jurisdiktion Unterworfenen zugestanden werden, es sei denn, eine unterschiedliche Behandlung ist objektiv gerechtfertigt.
Der vorliegende Fall unterscheidet sich vom Fall Gerger/TR (Anm.: Im Fall Gerger/TR wurde keine Verletzung festgestellt.), da es sich hier nicht um eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Schwere eines Verbrechens handelt, sondern um eine solche aufgrund des Umstands, dass der Bf. eine befristete Haftstrafe von mehr als 15 Jahren zu verbüßen hat. Die Länge einer Freiheitsentziehung hängt zwar teils von der Schwere des Verbrechens ab, jedoch spielen dabei auch andere Faktoren – wie die vom Bf. ausgehende Gefahr für die Öffentlichkeit – eine Rolle.
Wird ein System der vorzeitigen Haftentlassung aufgrund der Länge der Strafe verschieden angewendet, besteht die Gefahr, dass dies – wenn die unterschiedliche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist – dem Zweck von Art. 5 EMRK zuwiderläuft, Individuen vor willkürlicher Freiheitsentziehung zu schützen. Daher muss eine unterschiedliche Behandlung in diesem Bereich gewissenhaft untersucht werden.
Der GH stellt folglich fest, dass der Bf. einen »sonstigen Status« iSv. Art. 14 EMRK hatte.
b. Befand sich der Bf. in einer vergleichbaren Situation wie Häftlinge, die bevorzugt behandelt wurden?
Die Beschwerde betrifft die Regelung vorzeitiger Haftentlassungen. Ob eine solche gewährt wird oder nicht, hängt von einer Gefahrenabwägung ab. Der GH stellt fest, dass es bei der Einschätzung der Gefahr, die von einem Langzeithäftling ausgeht, keinen Unterschied macht, ob dieser eine Haftstrafe von weniger oder mehr als 15 Jahren oder eine lebenslange Haftstrafe zu verbüßen hat. Die Methode der Gefahrenabwägung und die Mittel zur Gefahrenvermeidung bleiben gleich.
Daher stellt der GH fest, dass der Bf. behaupten kann, in einer vergleichbaren Situation wie Langzeithäftlinge zu sein, die eine Haftstrafe von weniger als 15 Jahren oder eine lebenslange Haftstrafe zu verbüßen haben.
c. War die unterschiedliche Behandlung objektiv gerechtfertigt?
Eine unterschiedliche Behandlung ist diskriminierend, wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder keine Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht. Bei der Beurteilung, ob eine Differenzierung gerechtfertigt ist, steht den Staaten im Bereich von allgemeinen Maßnahmen der Wirtschafts- oder Sozialplanung ein weiter Ermessensspielraum zu. Ein solcher ist grundsätzlich auch im Rahmen der Gefängnis- und Strafpolitik anzuwenden, allerdings muss der GH Beschwerden darüber, dass Maßnahmen zu einer willkürlichen oder ungesetzlichen Freiheitsentziehung führten, einer genauen Untersuchung unterziehen.
Der GH führte bereits im Fall Stafford/GB aus, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Strafrechtssystem es nicht rechtfertigen kann, einen Häftling weiterhin festzuhalten, obwohl er seine Strafe verbüßt hat und keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstellt. Allerdings können strengere Bestimmungen für die vorzeitige Haftentlassung von Personen angemessen sein, wenn von diesen ein höheres Risiko ausgeht. Der GH akzeptiert daher, dass solche unterschiedlichen Behandlungen von Häftlingen grundsätzlich das legitime Ziel verfolgen, die Öffentlichkeit zu schützen.
Der GH stellt fest, dass die Verhängung einer befristeten Haftstrafe, im Gegensatz zu einer unbefristeten, indiziert, dass der Betroffene eine geringere und nicht eine größere Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt. Daher ist der GH der Meinung, dass eine Regelung, die für Häftlinge mit lebenslanger Freiheitsstrafe weniger strenge Voraussetzungen vorsieht als für jene, die eine befristete Haftstrafe von mehr als 15 Jahren verbüßen müssen, jeder objektiven Rechtfertigung entbehrt. Auch Art. 5 Abs. 4 EMRK kann dies nicht rechtfertigen.
Der GH akzeptiert grundsätzlich, dass die Anwendung von strengeren Regeln für die vorzeitige Haftentlassung von einem klaren Abgrenzungspunkt abhängig gemacht werden muss. Dies verstößt prinzipiell nicht gegen die Konvention. Daher kann auch im vorliegenden Fall nicht davon ausgegangen werden, dass die strengere Regelung für Häftlinge, die mehr als 15 Jahre Haftstrafe, verglichen mit jenen, die weniger lange Haftstrafen zu verbüßen haben, für sich selbst eine verbotene Diskriminierung darstellt.
Allerdings ist eine solche Differenzierung nur gerechtfertigt, wenn sie das verfolgte legitime Ziel erreicht. Die Regierung konnte nicht zeigen, wie die Genehmigung des Ministers dazu beitragen konnte, die Sorge bezüglich der von bestimmten Häftlingen ausgehenden vermeintlich höheren Gefahr zu entkräften. Wie schon vom House of Lords festgestellt wurde, waren zur Zeit, als der Minister die bedingte Haftentlassung des Bf. verweigerte, lebenslängliche Häftlinge bereits der endgültigen Jursidiktion der Bewährungskommission unterstellt. Dadurch wurde die unterschiedliche Behandlung von Langzeithäftlingen mit einer Haftstrafe von mehr als 15 Jahren zu einer unhaltbaren Anomalie. Die Gefahrenabwägung in Bezug auf einen bestimmten Häftling war eine Aufgabe ohne jeden politischen Gehalt, zu der der Minister keine höherwertige Expertise abgeben konnte und auch nicht behauptete abgeben zu können.
Die unterschiedliche Behandlung des Bf. entbehrte daher einer objektiven Rechtfertigung, sodass eine Verletzung von Art. 5 iVm. Art. 14 EMRK festzustellen ist (einstimmig).
II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 10.000,– für immateriellen Schaden und € 7.150,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Engel u.a./NL v. 8.6.1976, EuGRZ 1976, 221.
Gerger/TR v. 8.7.1999 (GK).
Stafford/GB v. 28.5.2002 (GK), NL 2002, 102.
Stec u.a./GB v. 12.4.2006 (GK), NL 2006, 90.
Paulík/SK v. 10.10.2006.
Shelley/GB v. 4.1.2008.
Carson u.a./GB v. 16.3.2010 (GK), NL 2010, 93.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.7.2010, Bsw. 7205/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 220) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/Clift.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.