JudikaturAUSL EGMR

Bsw27417/95 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
27. Juni 2000

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Cha'Are Shalom ve Tsedek gegen Frankreich, Urteil vom 27.6.2000, Bsw. 27417/95.

Spruch

Art. 9 EMRK, Art. 14 EMRK - Weigerung der Behörden, einer jüdisch-orthodoxen Vereinigung eine Genehmigung zur rituellen Schächtung zu erteilen.

Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (12:5 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK (10:7 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist eine jüdisch-orthodoxe Vereinigung, deren Mitglieder streng nach der Thora leben. 1987 reichte sie beim Innenminister den Antrag ein, ihr eine Genehmigung zur rituellen Schächtung gemäß ihren religiösen Anschauungen zu erteilen. Danach sei Fleisch nur dann koscher, wenn es „glatt" ist. (Anm.: Dies ist dann der Fall, wenn eine Untersuchung der Lungen der geschlachteten Tiere auch nicht den kleinsten Hinweis auf eine Unreinheit aufweist.) 1994 wurde der Antrag vom Conseil d'Etat letztinstanzlich mit der Begründung abgewiesen, die Bf. könne nicht als religiöse Körperschaft iSv. Art. 10 des Dekrets vom 1.10.1980 (Anm.: Dieses sieht eine Ausnahme von der Verpflichtung, Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, im Falle der rituellen Schächtung durch eine anerkannte Religionsgesellschaft - in diesem Fall das Pariser Zentralkonsistorium – vor.) angesehen werden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Recht auf Religionsfreiheit) aufgrund der Ablehnung ihres Antrags durch den frz. Innenminister. In diesem Zusammenhang behauptet sie auch eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), weil die Genehmigung zur rituellen Schächtung lediglich dem Pariser Zentralkonsistorium erteilt wurde.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK:

Es ist unbestritten, dass sich eine Kirche oder Religionsgemeinschaft auf das Recht auf Religionsfreiheit stellvertretend für ihre Mitglieder berufen kann. Es steht ferner außer Zweifel, dass die rituelle Schächtung einen wesentlichen Aspekt der jüdischen Religionsausübung darstellt. Es handelt sich hierbei um das von Art. 9 EMRK geschützte Recht, seine Religion durch die Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. Die Bf. ist somit zur Anrufung von Art. 9 EMRK berechtigt.

Die im Dekret vom 1.10.1980 vorgesehene Ausnahme von der Verpflichtung, Tiere vor der Schlachtung zu betäuben, ist die praktische Umsetzung der positiven Verpflichtung des Staates, die Achtung der Religionsfreiheit zu garantieren. Die Tatsache, dass die Ausnahmebestimmungen, welche die rituelle Schächtung regeln, es nur Schächtern einer anerkannten Religionsgemeinschaft gestatten, eine solche vorzunehmen, ist unbedenklich: Es ist zweifelsfrei im allgemeinen Interesse, unkontrollierte und ohne ausreichende Hygienevorschriften vorgenommene Schlachtungen zu vermeiden. Die Erteilung der Genehmigung für rituelle Schächtungen an das Pariser Zentralkonsistorium als die für die jüdische Gemeinschaft in Frankreich repräsentative Körperschaft stellt insofern keinen Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit dar. Was die Art und Weise der Durchführung der rituellen Schächtung angeht, ist zu bemerken, dass der einzige Unterschied in der Gründlichkeit der Untersuchung der Lungen des geschlachteten Tieres besteht. Von der überwiegenden Mehrheit der praktizierenden Juden wird hingegen der vom Pariser Zentralkonsistorium erbrachte Nachweis koscheren Fleisches akzeptiert.

Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit würde nur dann vorliegen, wenn streng-orthodoxe Juden wegen der Gesetzwidrigkeit einer anderweitig vorgenommenen rituellen Schächtung nicht die Möglichkeit hätten, Fleisch von geschlachteten Tieren gemäß ihren religiösen Anschauungen zu erhalten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Von der Bf. wurde nicht bestritten, dass sie problemlos „glattes" Fleisch aus Belgien beschaffen könnte. Ferner geht aus dem vorgelegten Aktenmaterial hervor, dass ein solches von einer Reihe von Metzgereien im Auftrag und unter der Kontrolle des Pariser Zentralkonsistoriums zubereitet wird. Die Reg. hat außerdem – unwidersprochen von der Bf. – dargelegt, dass Verhandlungen zwischen der Bf. und dem Pariser Zentralkonsistorium mit dem Ziel stattgefunden haben, eine Übereinkunft zu erlangen, wonach die Bf. selbst rituelle Schächtungen gemäß der dem Pariser Zentralkonsistorium erteilten Genehmigung vornehmen könne. Ein Abkommen kam jedoch wegen finanzieller Differenzen nicht zustande. Zwar brachte die Bf. vor, sie habe Bedenken gegen die im Auftrag des Pariser Zentralkonsistoriums handelnden Schächter, was die Gründlichkeit der Untersuchung der Lungen der geschlachteten Tiere anlange. Das Recht auf Religionsfreiheit beinhaltet jedoch nicht auch die Befugnis, persönlich an der ordnungsgemäßen Durchführung einer rituellen Schächtung teilzunehmen. Unter diesen Umständen stellt die Verweigerung der Genehmigung zur rituellen Schächtung keinen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihrer Religionsfreiheit dar. Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (12:5 Stimmen, Sondervoten der Richter Sir Nicolas Bratza, Fischbach, Thomassen, Tsatsa-Nikolovska und Pantiru).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK:

Art. 14 EMRK ist anwendbar. Wie bereits dargelegt, wurde angesichts der eingeschränkten Auswirkungen der von der Bf. gerügten Maßnahme kein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit festgestellt. Auch die daraus resultierende unterschiedliche Behandlung ist lediglich von begrenztem Ausmaß. Diese verfolgte ein legitimes Ziel und wies eine objektive und sachliche Rechtfertigung auf, ferner bestand zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel ein angemessenes Verhältnis. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK (10:7 Stimmen, Sondervoten der Richter Sir Nicolas Bratza, Fischbach, Thomassen, Tsatsa-Nikolovska, Pantiru, Levits und Traja).

Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Kalac/TR, Urteil v. 1.7.1997;

Katholische Kirche Chania/GR, Urteil v. 16.12.1997 (= NL 1998, 19)

und Manoussakis/GR, Urteil v. 26.9.1996 (= NL 1996, 138 = ÖJZ 1997,

352).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 20.10.1998 eine Verletzung von Art. 9 EMRK iVm. Art. 14 EMRK festgestellt (14:3 Stimmen); keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK alleine (15:2 Stimmen).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.6.2000, Bsw. 27417/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 136) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/00_3/Chaare_Shalom.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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