Bsw26629/95 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Witold Litwa gegen Polen, Urteil vom 4.4.2000, Bsw. 26629/95.
Spruch
Art. 5 Abs. 1 EMRK - Festnahme und Anhaltung einer alkoholisierten Person.
Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK ist anwendbar (einstimmig). Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: PLN 8.000,- für immateriellen Schaden, PLN 15.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist stark sehbehindert. Am 5.5.1994 ging er mit seinem Blindenhund auf ein Postamt in Krakau, um seine Post abzuholen. Er bemerkte, dass sein Postfach geöffnet und geleert worden war, woraufhin er sich am Schalter beschwerte. Die Bediensteten alarmierten die Polizei, da sich der Bf. aggressiv verhielt und alkoholisiert war. Der Bf. wurde von den eintreffenden Polizisten festgenommen und in ein Ausnüchterungszentrum gebracht. Der untersuchende Arzt entschied, dass der Zustand des Bf. eine Anhaltung für sechs Stunden rechtfertige. Blut- und Atemuntersuchungen wurden jedoch nicht durchgeführt. Nach sechs Stunden und 30 Minuten wurde der Bf. entlassen. Außerdem wurde ihm der Transport und der Aufenthalt im Ausnüchterungszentrum in Rechnung gestellt. Der Bf. brachte daraufhin eine Schadenersatzklage gegen den Staat ein, die schlussendlich in zweiter Instanz abgewiesen wurde.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit).
Zur Anwendbarkeit von Art. 5 (1) (e) EMRK:
Für diese Frage ist der Bedeutungsinhalt des Wortes Alkoholiker (alcoholics bzw. d'un alcoholique) zu klären. Der Bf. behauptet, es bestehe ein gravierender Unterschied zwischen einem Betrunkenen (intoxicated person) und einem Alkoholiker. Art. 5 (1) (e) EMRK ist nicht nur auf Alkoholiker im medizinischen Sinn anwendbar, sondern auch auf Personen, deren Zustand durch Alkohol insoweit beeinträchtigt ist, dass ein Grund für die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung nicht nur die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ist, sondern auch in ihren eigenen Interessen wie der Gesundheit oder persönlichen Sicherheit liegt. Art. 5 (1) (e) EMRK ist anwendbar (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (1) (e) EMRK:
Der Entzug der persönlichen Freiheit hatte eine innerstaatliche Grundlage in § 40 des Gesetzes zur Bekämpfung des Alkoholismus. Voraussetzung für eine Festnahme nach dieser Bestimmung sind 1.) ein alkoholisierter Zustand und 2.) aggressives Verhalten oder Bedrohung von Leben und Gesundheit von sich selbst oder anderen Personen. Es ist nicht Aufgabe des GH zu entscheiden, ob der Entzug der persönlichen Freiheit nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig war. Vielmehr ist die Frage zu beantworten, ob es sich dabei um eine rechtmäßige Haft eines Alkoholikers iSv. Art. 5 (1) EMRK handelte. Es ist sehr zweifelhaft, ob das Verhalten des Bf. eine Gefahr für die Öffentlichkeit oder seine Gesundheit und persönliche Sicherheit dargestellt hat.
Ein entscheidendes Element für die Rechtmäßigkeit einer Haft nach Art. 5 (1) EMRK ist, dass sie nicht willkürlich erfolgte. Ein Eingriff in die persönliche Freiheit ist eine sehr schwerwiegende Maßnahme und nur gerechtfertigt, wenn gelindere Mittel nicht oder nicht ausreichend die öffentlichen wie auch die Interessen des Betroffenen zu schützen vermögen. Es ist demnach nicht ausreichend, wenn ein Entzug der persönlichen Freiheit in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung erfolgt. Er muss unter den gegebenen Umständen auch notwendig sein.
Im vorliegenden Fall blieb jedoch die Tatsache unberücksichtigt, dass die einschlägige innerstaatliche Rechtsvorschrift für den Umgang mit alkoholisierten Personen mehrere mögliche Maßnahmen vorsieht, von denen die Verwahrung in einem Ausnüchterungszentrum die gravierendste ist. Vom Gesetz wären auch gelindere Mittel vorgesehen gewesen, wie der Transport nach Hause oder in eine karitative Einrichtung. Da solche Maßnahmen – obwohl im innerstaatlichen Recht vorgesehen – nicht einmal in Erwägung gezogen wurden, kann die Haft nicht als rechtmäßig angesehen werden. Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Baka).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
PLN 8.000,-- für immateriellen Schaden, PLN 15.000,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Winterwerp/NL, Urteil v.
24.10.1979, A/33 (= EuGRZ 1979, 650); Guzzardi/I, Urteil v. 6.11.1980
(= EuGRZ 1983, 633).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 4.12.1998 keine Verletzung von
Art. 5 (1) EMRK festgestellt (21:5 Stimmen).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.4.2000, Bsw. 26629/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000,59) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/00_2/Witold_Litwa.pdf
Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.