Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Wabl gegen Österreich, Urteil vom 21.3.2000, Bsw. 24773/94.
Art. 10 EMRK, §1330 ABGB - Vorwurf des Nazijournalismus und Freiheit der Meinungsäußerung.
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. war zur Zeit der Ereignisse Abgeordneter zum Nationalrat. Im Juni 1988 nahm er an einer Demonstration gegen die Stationierung von Abfangjägern teil. In deren Verlauf kam es zu einem Handgemenge, in das der Bf. verwickelt war. Ein Beamter wurde dabei am Unterarm verletzt. Eine Anzeige gegen den Bf. wegen schwerer Körperverletzung wurde von der Staatsanwaltschaft im Juli 1988 mangels Strafwürdigkeit gemäß § 42 StGB zurückgelegt. Am 14.8.1988 erschien die "Neue Kronen Zeitung – SteirerKrone" mit der Schlagzeile:
"Grüner Wabl soll nun zum Aids-Test.
Der Aflenzer Gendarm Walter Fellner verlangt, dass sich der Grün-Parlamtentarier Andreas Wabl einem Aids-Test unterzieht. Wabl hatte Fellner bei einem Handgemenge blutig gekratzt (Seiten 8/9)."
Auf den Seiten 8 und 9 dieser Ausgabe war der dazugehörende Artikel mit folgender Überschrift abgedruckt:
"Steirischer Grün-Abgeordneter verletzte Beamten/jetzt
Auslieferungsklage wegen Ansteckungsgefahr. Gendarm fordert:
Aids-Test für Wabl!"
Der Artikel hatte folgenden Inhalt:
"Dramatischer Beitrag zur Debatte um die Abgeordneten-Immunität: Der Aflenzer Gendarmeriebeamte Walter Fellner (34) fordert neben der ‚Auslieferung' des steirischen Grün-Nationalrates Andreas Wabl wegen Körperverletzung auch die Durchführung eines Aids-Tests beim immunen Mandatar. Grund: Fellner war von Wabl blutig gekratzt worden. ‚I trau mi net mehr, mei Frau anz'greifen, und meine drei Kinder kann i a net amoi mehr obussln' – Seit seinem Einsatz gegen Draken-Gegner in Graz ist das Familienleben des Gendarmen Walter Fellner aus Aflenz zerstört. Die Angst vor der Immunschwäche Aids lähmt die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Liebesleben des dreifachen Familienvaters.
Die brisante Vorgeschichte: Am 10. Juni, kurze Zeit nach der Draken-Stationierung, war der Gendarmeriebeamte im Rang eines Revierinspektors im Bereich des Draken-Widerstandscamps am Grazer Flughafen Thalerhof als Ordnungshüter eingesetzt gewesen. Dabei war es zu ‚Reibereien' zwischen Demonstranten und der Exekutive gekommen. Die Folgen eines Handgemenges zwischen Fellner und dem grünen
Parlamentarier Andreas Wabl: zwei blutende Kratzer, der eine fünf, der andere zehn Zentimeter lang, am rechten Unterarm Fellners. Zwei Zeugen und der Distriktsarzt bestätigten die Verletzungen. Fellner will dem immunen Nationalrat zwar nicht unterstellen, dass er mit der Immunschwäche infiziert sei, aber, so der Inspektor zur ‚Steirerkrone': ‚Der Abgeordnete hat zuvor mit anderen Aktivisten Kontakt ghabt, und die worn net unbedingt sauber.' Eine Anzeige wegen Körperverletzung gegen Wabl ist von der Staatsanwaltschaft mittlerweile wegen Geringfügigkeit zurückgelegt worden, Fellner verlangt aber dennoch die Auslieferung des Mandatars. „Der Herr Wabl muss sich einer Aids-Untersuchung unterziehen, er könnte mich ja angsteckt hobn", fordert Fellner den grünen ‚Kratzer' zur Blutabnahme mit anschließendem Immunschwächetest auf. Für den erlittenen Schaden will das Wabl-Opfer Schmerzensgeld einklagen. Die Fellner-Forderungen vertritt dabei ausgerechnet der Grazer Rechtsanwalt Dr. Candidus Cortolezis, der bisher bekanntlich den Draken-Gegnern nahe stand und nicht der (drakenbewachenden) Exekutive."
Der Verfasser hatte mit dem Bf. vor der Veröffentlichung des Artikels keinen Kontakt aufgenommen. Am 16.8.1988 vereinbarte der Bf. mit dem Autor, dass dieser einen erklärenden Artikel sowie eine vom Bf. verfasste und vom Autor des Artikels unterzeichnete Entschuldigung veröffentlichen sollte. Tatsächlich wurde am 17.8.1988 folgende Erklärung in der ‚Steirerkrone' veröffentlicht.
Die ‚Steirerkrone' möchte im Zusammenhang mit dem Bericht über die Aids-Test-Forderung von Fellner klarstellen, dass es nie beabsichtigt war, NR-Abg. Andreas Wabl mit der Krankheit Aids persönlich oder politisch zu diffamieren. Für grobe Unterstellungen, die unserer selbst auferlegten Fairness und journalistischen Ehre nicht angemessen waren, möchten wir uns entschuldigen.
In derselben Ausgabe der ‚Steirerkrone' erschien ein Artikel mit folgender Überschrift:
Diffamierung von Grün-Abgeordneten nicht beabsichtigt – Hygieniker Möse beruhigt: "Kein Aids Fall durch Kratzer!"
In diesem Artikel wurde ua. mitgeteilt, dass die Staatsanwaltschaft Graz die Anzeige gegen den Bf. mangels Strafwürdigkeit zurückgelegt hatte. Ebenfalls am 17.8.1988 hielt der Bf. eine Pressekonferenz ab, in der er auf die Vorkommnisse bei der Demonstration sowie auf die beiden in der ‚Steirerkrone' erschienen Artikel einging. Er beschuldigte das Blatt des politischen Rufmordes. Im Verlauf der Pressekonferenz beantwortete der Bf. die Frage einer Journalistin, wie er die ganze Angelegenheit empfinde, mit:
"Das ist Nazijournalismus."
Über die Pressekonferenz verbreitete die Austria Presseagentur eine Aussendung, welche mit "Wabl: Das ist Nazijournalismus" überschrieben war; in weiterer Folge wurde die Äußerung in Berichten verschiedener Zeitungen wiedergegeben.
Der Bf. wurde daraufhin von der Medieninhaberin der Neue-Kronen-Zeitung geklagt: Sie begehrte, dass der Bf. diese und ähnliche Behauptungen zu unterlassen habe. Darüber hinaus stellte sie ein Widerrufsbegehren sowie das Begehren, den Widerruf zu veröffentlichen. Der Bf. habe mit der Behauptung, die Neue-Kronen-Zeitung betreibe Nazijournalismus, eine unrichtige kreditschädigende Tatsachenbehauptung aufgestellt. Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab: Es stellte fest, dass der Begriff Nazijournalismus eine Wertung enthalte. Aus dem Zusammenhang, in dem die Äußerung gemacht wurde, ergebe sich, dass keine konkludente Tatsachenbehauptung vorliege. Den Journalisten müsse klar gewesen sein, dass der Bf. damit seine subjektive Meinung äußere. Ein Werturteil falle nicht unter § 1330 (2) ABGB. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts und sprach aus, dass eine Revision nicht zulässig sei. Am 14.12.1993 entschied der OGH nach einer außerordentlichen Revision der Medieninhaberin der Neuen-Kronen-Zeitung, dass deren Unterlassungsanspruch gerechtfertigt sei.
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung).
Der Eingriff in das Recht des Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung war gesetzlich vorgesehen und verfolgte legitime Ziele iSv. Art. 10
(2) EMRK, nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Das Erstgericht wie auch das Berufungsgericht wiesen die Klage gegen den Bf. mit der Begründung ab, es handle sich im vorliegenden Fall um ein Werturteil, das unter den gegebenen Umständen nicht überschießend gewesen sei. Hingegen befand der OGH, dass der Unterlassungsanspruch der Medieninhaberin der Neuen-Kronen-Zeitung begründet sei, schließlich bringe der Vorwurf des ‚Nazijournalismus' sie in die Nähe eines strafbaren Verhaltens (§ 3 VerbotsG). Die Entrüstung des Bf. mag zwar verständlich erscheinen, kann aber die Anschuldigung, einen Journalismus zu betreiben, der einem strafbaren Verhalten zumindest nahe kommt, nicht rechtfertigen, zumal dem Bf. die Möglichkeit offengestanden wäre, eine Klage nach § 1330 ABGB einzubringen. Zwar ist die bekämpfte Äußerung ein Werturteil, bei einer Abwägung zwischen den jeweiligen Interessen sei jedoch der Schutz des guten Rufes der Medieninhaberin der Neuen-Kronen-Zeitung höher zu bewerten als das Interesse des Bf., seine Meinung kundzutun, indem er der Zeitung Nazimethoden unterstellt.
Tatsächlich war der Artikel in der "Steirerkrone" beleidigend und es ist deshalb auch verständlich, dass der Bf. darüber empört war. Seine Reaktion war jedoch nicht spontan, sondern erfolgte erst nach einigen Tagen. Darüber hinaus wäre es dem Bf. auch offen gestanden, gegen diese Behauptungen mit einer Unterlassungsklage vorzugehen. Weiters bewirkt das Urteil gegen den Bf., dass es diesem untersagt ist, der Neuen-Kronen-Zeitung "Nazijournalismus" zu unterstellen. Es bleibt ihm jedoch unbenommen, seine Kritik an dieser Zeitung mit anderen Worten zu äußern. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richterin Greve).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Lingens/A, Urteil v. 8.7.1996,
A/103 (= EuGRZ 1986, 424); Sunday Times (Nr. 2)/GB, Urteil v.
26.11.1991, A/217 (= NL 1992/1, 16); Oberschlick (Nr. 2)/A, Urteil v.
1.7.1997 (= NL 1997, 213 = ÖJZ 1997, 956).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 14.3.1998 eine Verletzung von Art. 10 EMRK festgestellt (mehrheitlich).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.3.2000, Bsw. 24773/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 57) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/00_2/Wabl.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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