JudikaturAUSL EGMR

Bsw38178/97 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. Dezember 1999

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Serif gegen Griechenland, Urteil vom 14.12.1999, Bsw. 38178/97.

Spruch

Art. 9 EMRK, Art. 10 EMRK - Recht auf Religionsfreiheit iZm. der Ernennung eines Muftis.

Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: GRD 700.000,- für materiellen Schaden; GRD 2.000.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist islamischer Geistlicher. 1985 verstarb der Mufti von Rodopi, einer der zwei ranghöchsten geistlichen Oberhäupter der moslemischen Minderheit in Thrakien. In der Folge ernannte der griech. Präsident einen Nachfolger auf interimistischer Basis, der 1990 in seinem Amt bestätigt wurde. Zwei dem Islam angehörenden Parlamentsabgeordnete stellten hierauf den Antrag, der Staat möge das Amt des Muftis von Rodopi zur Wahl durch die moslemische Glaubensgemeinde ausschreiben, wie dies Art. 11 des Friedensvertrages zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich aus dem Jahre 1913 ausdrücklich vorgesehen sei. Im selben Jahr wurde vom Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Ernennung der Muftis nicht mehr mittels Wahlen, sondern unmittelbar durch den griech. Präsidenten selbst vorsah. Kurze Zeit später wurde der Bf. von den Teilnehmern des Freitagsgebetes zum neuen Mufti von Rodopi gewählt. 1994 wurde der Bf. strafrechtlich verurteilt: Er habe sich der Amtsanmaßung iZm. der Ausübung von Funktionen eines geistlichen Lehrers einer anerkannten Religion sowie des öffentlichen Tragens einer Amtstracht ohne behördliche Genehmigung schuldig gemacht. Das von ihm angerufene Gericht 2. Instanz bestätigte das Urteil, wandelte jedoch die vom Erstgericht verhängte Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe um. Ein dagegen erhobenes Rechtsmittel an das Höchstgericht blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, seine Verurteilung habe Art. 9 EMRK (Recht auf Religionsfreiheit) verletzt.

Die Verurteilung des Bf. stellt einen Eingriff in sein Recht gemäß Art. 9 EMRK dar, seine Religion oder Weltanschauung in Gemeinschaft mit anderen öffentlich durch Gottesdienst und Unterricht auszuüben. In Anbetracht dessen, dass der Bf. nicht der Einzige war, der behauptet hatte, geistliches Oberhaupt der moslemischen Glaubensgemeinde zu sein, verfolgte der genannte Eingriff auch ein legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Der Bf. wurde verurteilt, weil er ein Rundschreiben über die religiöse Bedeutung eines Festes erlassen hatte und als Redner bei einer religiösen Versammlung sowie öffentlich in der Amtstracht eines geistlichen Oberhauptes aufgetreten war. Es ist unbestritten, dass er über die Unterstützung zumindest der Hälfte der moslemischen Glaubensgemeinde in Rodopi verfügte. Jemanden nur aufgrund der Tatsache zu bestrafen, weil er als religiöses Oberhaupt einer Gruppe handelte, ist mit den Anforderungen eines religiösen Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar. Insb. ist es nicht notwendig, Religionsgesellschaften im Wege von staatlichen Maßnahmen zur Beibehaltung einer oder Bindung an eine gemeinsame religiöse Führung zu zwingen. In einem solchen Fall ist es Aufgabe der Behörden, nicht die Ursache der Spannungen durch Gegenmaßnahmen zu unterbinden, sondern Gewähr dafür zu bieten, dass die rivalisierenden Gruppierungen wechselseitige Toleranz üben. Von der Reg. wurde keinerlei Nachweis dafür erbracht, dass das Auftreten zweier religiöser Oberhäupter für Unruhe unter der moslemischen Bevölkerung in Rodopi gesorgt hätte. Dies gilt auch für das ebenfalls vorgebrachte Argument eines erhöhten Risikos von Spannungen zwischen Moslems und Christen oder zwischen Griechenland und der Türkei. Unter diesen Umständen war die Verurteilung des Bf. nicht notwendig. Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

(einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

GRD 700.000,-- für materiellen Schaden. GRD 2.000.000,-- für

immateriellen Schaden (einstimmig).

Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Kokkinakis/GR, Urteil v.

25.5.1993, A/260-A (= NL 1993/4, 19 = ÖJZ 1994, 59) und Manoussakis

ua./GR, Urteil v. 26.9.1996 (= NL 1996, 138 = ÖJZ 1997, 352).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.12.1999, Bsw. 38178/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 15) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/00_1/Serif.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise