Bsw23657/94 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Cakici gegen die Türkei, Urteil vom 08.07.1999, Bsw. 23657/94.
Spruch
Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 18 EMRK - Folterung und Tötung einer Person durch türkische Sicherheitskräfte.
Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (14:3 Stimmen).
Verletzung von Art. 5 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 13 EMRK (16:1 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: GBP 11.534,29 für materiellen Schaden für die Gattin und die Kinder des Bruders des Bf., GBP 25.000,- für immateriellen Schaden für dessen Erben. GBP 2.500,- für immateriellen Schaden für den Bf. selbst (jeweils einstimmig). GBP 20.000,- für Kosten und Auslagen (12:5 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
1993 führten Beamte der Gendarmerie von Hazro eine Suchaktion im Heimatdorf des Bruders des Bf. durch, die der Aufnahme von Beweisen betreffend die Entführung und den Mord an mehreren Lehrern und einem Imam durch Angehörige der PKK dienen sollte. In einer Begleitaktion wurden drei verdächtige Personen im Nachbardorf festgenommen und zum Gendarmeriehauptquartier in Diyarbakir gebracht. Zu nachstehenden Ereignissen werden vom Bf. und der Reg. unterschiedliche Versionen vorgebracht:
Gemäß den Schilderungen des Bf. wurde sein Bruder festgenommen und ebenfalls nach Diyarbakir überstellt. Dort sei er in einer Zelle gemeinsam mit den drei verdächtigen Personen aus dem Nachbardorf in Haft gehalten worden. Einer der Verdächtigen habe nach seiner Freilassung erklärt, der Bruder des Bf. sei geschlagen worden und habe einen Rippenbruch und schwerste Kopfverletzungen erlitten, ferner sei dieser zweimal bei einem Verhör mit Elektroschocks gefoltert worden. Der Bf. habe später von einem anderen ehemaligen Häftling erfahren, daß sein Bruder zu einer anderen Dienststelle der Gendarmerie in Hazro überstellt worden sei. Von dort sei er nach Kavaklibogaz gebracht worden, wo er zum letzten Mal gesehen wurde. Die Reg. behauptet, der Bruder des Bf. sei anlässlich der Suchaktion gar nicht festgenommen worden und verweist auf die von den Dienststellen der Gendarmerie geführten Haftlisten, in denen der Bruder des Bf. nicht als Häftling aufscheint. 1995 habe man den Ausweis des Bruders des Bf. bei der Leiche eines Angehörigen der PKK gefunden, der gemeinsam mit seinen Kameraden bei einem Feuergefecht mit türk. Sicherheitskräften den Tod gefunden hatte. 1996 erklärte der Staatsanwalt von Hazro, er sei für Erhebungen iZm. dem behaupteten Verschwinden des Bruders des Bf. nicht zuständig: Da dessen Ausweis bei einem getöteten Angehörigen der PKK vorgefunden wurde, sei seine Identität ohnehin erwiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung), Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz), Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) und Art. 18 EMRK (Mißbrauch der von der Konvention eingeräumten Schranken). Die Reg. wendet ein, der Bf. habe es unterlassen, den innerstaatlichen Instanzenzug auszuschöpfen: IZm. dem Verschwinden seines Bruders hatte der Bf. - gemeinsam mit seinem Vater - mehrere Anfragen und Eingaben an die Staatssicherheitsgerichte in Diyarbakir und in Hazro gerichtet, ohne jedoch eine befriedigende Antwort erhalten zu haben. Zwar wurden er und die Ehefrau seines Bruders zu dem Vorfall befragt, die Behörden beschränkten sich jedoch auf die Überprüfung der Haftlisten und auf zwei kurze Befragungen eines der drei Verdächtigen, die in Diyarbakir ebenfalls in Haft gehalten worden waren. Eine Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der Behauptung, die vorgefundene Leiche sei die des Bruders des Bf., fand nicht statt. Der Bf. hat folglich alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft. Der Einwand wird zurückgewiesen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK: Das Verschwinden des Bruders des Bf. nach seiner Inhaftierung legt den Schluss nahe, dass er gestorben ist. Die Reg. gab keine Erklärung darüber ab, was mit diesem während seiner Inhaftierung tatsächlich geschehen war. Sie ist daher für dessen Tod gemäß Art. 2 EMRK verantwortlich. Ferner stellt auch die Unzulänglichkeit der Untersuchungen durch die Behörden eine Missachtung des Rechts auf Leben des Bruders des Bf. dar. Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK bezügl. des Bruders des Bf.: Die Aussage eines Mithäftlings vor einer mit der Untersuchung des Falles betrauten Delegation der Kms. ist glaubwürdig und zuverlässig. Es steht somit außer Zweifel, dass der Bruder des Bf. während seiner Inhaftierung gefoltert wurde. Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK bezügl. des Bf.: Es lässt sich kein allgemeiner Grundsatz ableiten, wonach Verwandte einer verschwundenen Person ebenfalls Opfer einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung sind. Die Reaktionen und das Verhalten der Behörden im vorliegenden Fall lassen jedenfalls nicht den Schluss zu, dass der Bf. in dieser Hinsicht eine dem Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung erfahren hat. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (14:3 Stimmen, Sondervoten der Richter Thomassen, Jungwiert und Fischbach).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK: Das fehlende Aufscheinen des Bf. in der Haftliste und sein Verschwinden während seiner Inhaftierung stellen eine besonders schwerwiegende Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit dar. Verletzung von Art. 5 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK: Im vorliegenden Fall waren die staatlichen Behörden zu einer gründlichen und wirksamen Untersuchung der Umstände, die zu dem Verschwinden des Bruders des Bf. geführt hatten, verpflichtet. Eine solche fand jedoch nicht statt. Verletzung von Art. 13 EMRK (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK: Der Bf. konnte diese Behauptung nicht ausreichend darlegen. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: GBP 11.534,29 für materiellen Schaden für die Gattin und die Kinder des Bruders des Bf., GBP 25.000,-- für immateriellen Schaden für dessen Erben. GBP 2.500,-- für immateriellen Schaden für den Bf. selbst (jeweils einstimmig). GBP 20.000,-- für Kosten und Auslagen (12:5 Stimmen).
Vom GH zitierte Judikatur:
Aydin/TR, Urteil v. 25.9.1997, NL 97/5/8.
Kaya/TR, Urteil v. 19.2.1998, NL 98/2/6.
Kurt/TR, Urteil v. 25.5.1998.
Yasa/TR, Urteil v. 2.9.1998, NL 98/5/7.
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 12.3.1998 eine Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK und Art. 5 EMRK bezüglich des Bruders des Bf. festgestellt (jeweils einstimmig). Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 13 EMRK, was den Bf. betrifft (27:3 Stimmen bzw. einstimmig). Keine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (jeweils einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.7.1999, Bsw. 23657/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1999, 128) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/99_4/Cakici.pdf
Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.