Bsw24645/94 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Buscarini u.a. gegen San Marino, Urteil vom 18.02.1999, Bsw. 24645/94.
Spruch
Art. 9 EMRK - Verpflichtung für Parlamentsabgeordnete, einen Eid auf die Bibel abzulegen und Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit. Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. waren 1993 als Abgeordnete in das Parlament von San Marino (Consiglio Grande e Generale) gewählt worden. Sie leisteten ihren Amtseid handschriftlich, ohne jedoch ihre Unterschrift zum gesetzlich vorgeschriebenen Eid auf die Bibel zu setzen. In der Folge wurden die Bf. vom Parlament aufgefordert, ihren Eid nunmehr auch auf die Bibel abzulegen und gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass eine Weigerung den sofortigen Verlust ihrer Abgeordnetensitze zur Folge hätte. Die Bf. kamen dieser Aufforderung nach, beschwerten sich aber, durch diese Anordnung in ihrem durch Art. 9 EMRK gewährleisteten Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit verletzt worden zu sein. Noch im selben Jahr wurde ein Gesetz erlassen, wonach Parlamentsabgeordnete bei ihrer Vereidigung nunmehr die Wahl haben zwischen dem herkömmlichen Eid und einer Eidesformel, in der die Bezugnahme auf die Bibel durch die Worte "bei meiner Ehre" ersetzt wurde. Der traditionelle Wortlaut ist nach wie vor für andere Kategorien öffentlicher Ämter verpflichtend.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, durch die Verpflichtung, ihren Eid auf die Bibel zu leisten - wobei sie im Falle einer Weigerung ihre Abgeordnetensitze verloren hätten - in ihrem Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit gemäß Art. 9 EMRK verletzt worden zu sein. In ihren Einwendungen verweist die Reg. ua. auf die Bedeutung des Amtseides bei gewählten Volksvertretern, ferner auf den speziellen Charakter der Republik San Marino, auf ihre Geschichte und Traditionen, die eng mit dem Christentum verwoben sind (San Marino wurde von einem Heiligen gegründet), schließlich auf die Tatsache, dass der herkömmliche Amtseid bereits ohnehin durch einen anderen - ohne Bezugnahme auf die Bibel - ersetzt wurde.
Es besteht kein Zweifel, dass die Religions- und Gewissensfreiheit in der Rechtsordnung von San Marino garantiert ist. Im vorliegenden Fall hatte die Verpflichtung für neu gewählte Parlamentsabgeordnete, einen Eid auf die Bibel abzulegen, jedoch zur Folge, dass sie zum Ablegen eines Treueids im Hinblick auf eine bestimmte Religion gezwungen wurden - was mit Art. 9 EMRK nicht vereinbar ist. Es wäre zudem widersprüchlich, die Ausübung des Abgeordnetenmandats - das die Vertretung unterschiedlicher gesellschaftlicher Ansichten und Meinungen im Parlament voraussetzt - von einer vorherigen Erklärung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion abhängig zu machen. Daran kann auch die zwischenzeitlich erfolgte gesetzliche Neuregelung nichts ändern, da die Bf. ihre Amtseide vor Änderung der damals geltenden Rechtslage abgelegt haben. Der Eingriff in das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit der Bf. war daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Das Urteil selbst stellt eine ausreichend gerechte Entschädigung dar. Der Antrag der Bf. auf Ersatz von Kosten und Auslagen wird mangels Kostenaufstellung zurückgewiesen (einstimmig).
Vom GH zitierten Judikatur:
Kokkinakis/GR, Urteil v. 25.5.1993, A/260-A, NL 93/4/6; ÖJZ 1994, 59.
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 2.12. 1997 eine Verletzung von Art. 9 EMRK festgestellt (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.2.1999, Bsw. 24645/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1999, 51) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/99_2/Buscarini.pdf
Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.