Bsw25599/94 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache A. gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 23.9.1998, Bsw. 25599/94.
Spruch
Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 14 EMRK - Körperliche Züchtigung als Erziehungsmaßnahme.
Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzungen von Art. 8
EMRK, Art. 13 EMRK und Art. 14 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 50 EMRK: GBP 10.000,- für immateriellen Schaden; GBP 20.000,- abzüglich Verfahrenskostenhilfe des Europarates in Höhe FF 35.264,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die zuständigen Behörden bekamen 1993 davon Kenntnis, dass der damals neunjährige Bf. von seinem Stiefvater körperlich misshandelt wurde. Eine Untersuchung durch einen Kinderarzt ergab, dass der Bf. mehrmals geschlagen wurde. Der Stiefvater des Bf. wurde daraufhin wegen Körperverletzung angeklagt, im Februar 1994 jedoch freigesprochen: Er bestritt nicht, den Bf. geschlagen zu haben, vielmehr sei dies notwendig und vernünftig gewesen, da der Bf. ein sehr schwer erziehbares Kind sei. Nach englischem Recht können Eltern bzw. Personen in loco parentis Kinder körperlich züchtigen, solange es unter gegebenen Umständen angemessen (moderate) und vernünftig (reasonable) ist.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) sowie von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz) iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:
Eine Misshandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, wenn sie in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK fallen soll. Die Einschätzung dieses Mindestmaßes hängt von den einzelnen Umständen des Falles ab. Die dem Bf. zugefügten Misshandlungen erreichen dieses Mindestmaß an Schwere. Die Verpflichtung der Vertragsstaaten gemäß Art. 1 EMRK, allen ihrer Jurisdiktion unterstehenden Personen die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zuzusichern, verlangt iVm. Art. 3 EMRK, dass ein Staat die seiner Jurisdiktion unterstehenden Personen vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe zu bewahren hat. Nach englischem Recht kann die Ausübung körperlicher Gewalt gegen Kinder dann gerechtfertigt werden, wenn dies eine "angemessene Züchtigung" (reasonable chastisement) darstellt. Die Beweislast, dass das Ausmaß einer solchen überschritten wurde, liegt in solchen Fällen bei der Anklage. Obwohl der Bf. einer unmenschlichen Behandlung iSv. Art. 3 EMRK ausgesetzt war, wurde sein Stiefvater freigesprochen. Das englische Recht bietet demnach keinen ausreichenden Schutz vor einer durch Art. 3 EMRK verbotenen Behandlung oder Strafe. Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzungen von Art. 8
EMRK, Art. 13 EMRK und Art. 14 EMRK (einstimmig).
Art. 50 EMRK:
GBP 10.000,- für immateriellen Schaden; GBP 20.000,- abzüglich Verfahrenskostenhilfe des Europarates in Höhe FF 35.264,- für Kosten und Auslagen.
Vgl. die vom GH zitierten Fälle X. Y./NL, Urteil v. 26.3.1985, A/91
(= EuGRZ 1985, 297); Costello-Roberts/GB, Urteil v. 25.3.1993,
A/247-C (= NL 93/3/8 = ÖJZ 1993, 707); Stubbings ua./GB, Urteil v.
22.10.1996 (= NL 97/2/7); H.L.R./F, Urteil v. 29.4.1997 (= NL 97/3/11
= ÖJZ 1998, 309).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 18.9.1997 eine Verletzung von Art. 3 EMRK, nicht jedoch von Art. 13 EMRK festgestellt (einstimmig). Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (18:1 Stimmen) bzw. Art. 14 EMRK (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.9.1998, Bsw. 25599/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 191) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/98_5/A..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.