Bsw24838/94 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Steel u.a. gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 23.9.1998, Bsw. 24838/94.
Spruch
Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 5 EMRK, Art. 6 Abs. 3 EMRK, Art. 10 EMRK - Beschränkung der persönlichen Freiheit wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der ersten beiden Bf. aufgrund der Verhaftung (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der übrigen drei Bf. aufgrund der Verhaftung (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK iZm. der Haft (8:1 Stimmen). Art. 5 Abs. 5 EMRK hinsichtlich der ersten beiden Bf. nicht anwendbar (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK hinsichtlich der drei übrigen Bf. (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK (einstimmig). Verletzung von Art. 10 EMRK hinsichtlich dieser drei Bf. (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (5:4 Stimmen hinsichtlich der ErstBf., bzw. einstimmig hinsichtlich der ZweitBf.).
Entschädigung nach Art. 50 EMRK: Je GBP 500,- für immateriellen Schaden; GBP 20.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
1. Die ErstBf. wurde im August 1992 wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgenommen, nachdem sie sich bei einer Demonstration von Tierschützern gegen die Moorhuhnjagd vor einen Jäger gestellt und diesen so beim Schießen gehindert hatte. Sie wurde von der Polizei insgesamt 44 Stunden angehalten, bevor sie einem Gericht vorgeführt wurde. Das Gericht erster Instanz (Magistrates' Court) nahm die behauptete Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als erwiesen an. Ein dagegen eingebrachtes Rechtsmittel war jedoch erfolglos: Das Gericht zweiter Instanz (Crown Court) forderte die ErstBf. auf, einer binding-over order zuzustimmen, nach der sie verpflichtet wäre, für die nächsten 12 Monate nicht gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verstoßen, widrigenfalls eine zu hinterlegende Kaution in Höhe von GBP 100,-- verfiele. Da die ErstBf. dies ablehnte, wurden über sie 28 Tage Haft verhängt.
2. Die ZweitBf. wurde im September 1993 wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgenommen, nachdem sie sich bei einer Demonstration gegen eine Autobahnerweiterung vor einen Bagger gestellt hatte. Sie wurde von der Polizei insgesamt 18 Stunden angehalten, bevor sie einem Gericht vorgeführt wurde. Das Gericht erster Instanz sah die behauptete Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als erwiesen an und forderte die ZweitBf. auf, einer binding-over order zuzustimmen. Die ZweitBf. lehnte ebenfalls ab; über sie wurden 7 Tage Haft verhängt.
3. Die übrigen drei Bf. wurden im Jänner 1994 wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung festgenommen, nachdem sie bei einer Luftfahrtkonferenz gegen den Verkauf von Kriegsmaterial protestiert und dabei Flugblätter verteilt sowie Transparente in die Höhe gehalten hatten. Sie wurden von der Polizei für insgesamt 7 Stunden festgehalten. Das folgende Verfahren gegen sie wurde jedoch eingestellt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Art. 5 (5) EMRK (Recht auf Entschädigung nach einer freiheitsentziehenden Maßnahme) sowie von Art. 6 (3) (a) EMRK (Recht in möglichst kurzer Frist in einer verständlichen Sprache über Art und Grund der erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden) und von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit). Zur behaupteten Verletzung von Art. 5
(1) EMRK aufgrund der Verhaftung wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung:
Obwohl die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung keine gerichtlich strafbare Handlung ist, blieb es unbestritten, dass sie eine strafbare Handlung iSv. Art. 5 (1) (c) EMRK darstellt. Die Magistrates' Courts können über eine Person, die sich weigert einer binding-over order zuzustimmen, Haft verhängen, falls ausreichend erwiesen ist, dass ihr Verhalten eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellte bzw. in Zukunft darstellen könnte. Die Bf. behaupten, die Festnahmen und Anhaltungen seien nicht rechtmäßig iSv. Art. 5 (1) (c) EMRK gewesen.
Rechtmäßig iSv. Art. 5 (1) (c) EMRK verlangt nicht nur die Übereinstimmung mit innerstaatlichem Recht, sondern auch, dass dieses ausreichend klar formuliert ist, sodass der Rechtsunterworfene sein Verhalten danach richten kann. Er muss - gegebenenfalls nach entsprechender rechtlicher Beratung - in der Lage sein, die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit zu erkennen. Die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wurde in den letzten 20 Jahren von der englischen Rspr. ausreichend präzisiert, sodass es nun hinlänglich klar ist, dass eine solche nur vorliegt, wenn das Verhalten einer Person einen Schaden gegenüber einer anderen Person oder Sache verursacht oder verursachen könnte. Es ist ebenso ausreichend klar, dass eine solche Person deswegen festgenommen und angehalten werden kann. Das von der Konvention verlangte Mindestmaß an Deutlichkeit innerstaatlicher Rechtsnormen ist demnach gegeben. Die Feststellung, ob die Festnahme und Anhaltung der Bf. in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften erfolgte, liegt zuallererst bei den innerstaatlichen Gerichten. Da jedoch eine gegen innerstaatliches Recht verstoßende Beschränkung der persönlichen Freiheit eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK bedeutet, verbleibt dem GH in solchen Fällen eine Überprüfungskompetenz. Nach vorliegender Beweislage konnten die Sicherheitsorgane nur bei den ersten beiden Bf. begründet davon ausgehen, dass deren Verhalten Anlass zu einer Festnahme wegen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gab. Der Protest der übrigen 3 Bf. verlief jedoch friedlich, weshalb das Einschreiten der Sicherheitsorgane hier nicht gerechtfertigt war. Die Festnahme sowie die 7 Stunden dauernde Anhaltung dieser 3 Bf. war demnach weder nach englischem Recht noch iSv. Art. 5 (1) EMRK rechtmäßig. Demnach wird keine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK hinsichtlich der ersten beiden Bf. sondern nur hinsichtlich der übrigen 3 Bf. festgestellt (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (1) EMRK iZm. der Haft der ersten beiden Bf. wegen ihrer Weigerung, einer binding-over order zuzustimmen:
Die Haft der ersten beiden Bf. wegen ihrer Weigerung, einer binding-over order zuzustimmen, fällt in den Anwendungsbereich von Art. 5 (1) (b) EMRK: Es handelt sich um eine Haft wegen Nichtbefolgung eines Gerichtsbeschlusses. Wie bereits ausgeführt, ist die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom englischen Recht hinreichend umschrieben. Weiters schaffen § 115 des Magistrates' Courts Act 1980 wie auch die einschlägige Rspr. ausreichend Klarheit darüber, dass in Fällen, in denen ein Magistrates' Court eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als erwiesen und darüber hinaus eine Wiederholungsgefahr annimmt, eine binding-over order aussprechen kann. Ausreichend Klarheit besteht auch darüber, dass im Falle einer Weigerung des Betroffenen Haft verhängt werden kann. Obwohl die binding-over orders eher vage formuliert waren, musste den Bf. aus dem Gesamtzusammenhang heraus dennoch ersichtlich gewesen sein, daß ihnen im Falle einer Verweigerung der Zustimmung zu einer binding-over order Haft droht. Keine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Valticos).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (5) EMRK:
Da eine Entschädigung nach Art. 5 (5) EMRK die Verletzung einer der Abs. 1 bis 4 des Art. 5 EMRK voraussetzt, ist Art. 5 (5) EMRK hinsichtlich der ersten beiden Bf. nicht anwendbar (einstimmig). Die übrigen drei Bf., für die eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK festgestellt wurde, hätten die Möglichkeit gehabt, auf dem innerstaatlichen Zivilrechtsweg Schadenersatzforderungen gegen die Sicherheitsbehörden zu stellen. Keine Verletzung von Art. 5 (5) EMRK hinsichtlich der drei übrigen Bf. (einstimmig).
Zur von den ersten beiden Bf. behaupteten Verletzung von Art. 6 (3) (a) EMRK:
Die ersten beiden Bf. behaupten, die Verletzung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sei eine sehr allgemeine Anschuldigung. Das Fehlverhalten der Bf., das Grundlage für ihre Anklage war, hätte konkretisiert werden müssen. Die den beiden Bf. noch während ihrer Anhaltung ausgehändigten polizeilichen Anklageblätter (charge sheets) enthielten ausreichend Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigungen. Keine Verletzung von Art. 6 (3) (a) EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:
Die gegen die Bf. gerichteten Maßnahmen stellten einen Eingriff in
deren Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit dar.
1.) War der Eingriff vom Gesetz vorgesehen?
Die gegen die ersten beiden Bf. gerichteten Maßnahmen waren rechtmäßig iSv. Art. 5 (1) EMRK, nicht jedoch jene gegen die übrigen drei. Das Erfordernis, dass ein Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit vom Gesetz vorgesehen sein muss, ähnelt dem nach Art. 5 (1) EMRK, dass jeder Entzug der persönlichen Freiheit rechtmäßig zu sein hat. Daher waren die Festnahme und Anhaltung der ersten beiden Bf. vom Gesetz vorgesehen, nicht jedoch jene der übrigen drei Bf. Somit wird eine Verletzung von Art. 10 EMRK hinsichtlich dieser drei Bf. festgestellt (einstimmig).
2.) Verfolgte der Eingriff hinsichtlich der ersten beiden Bf. einen legitimen Zweck?
Die Festnahme und Anhaltung der beiden Bf. verfolgten die legitimen Zwecke Aufrechterhaltung der Ordnung und Schutz der Rechte anderer. Die - aufgrund der Weigerung, einer binding-over order zuzustimmen - verhängte Haft verfolgte überdies den Zweck, das Ansehen der Rechtsprechung iSv. Art. 10 (2) EMRK zu gewährleisten.
3.) War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig? Die innerstaatlichen Gerichte konnten wegen der Weigerung der ErstBf., der binding-over order zuzustimmen, begründeterweise annehmen, dass sie mit ihren Protestaktivitäten in dieser Art und Weise fortfahren würde. Wegen der großen Bedeutung, die der Rechtsstaatlichkeit und dem Ansehen der Rechtsprechung in einer demokratischen Gesellschaft zukommen, war die Haft der ErstBf., trotz der Dauer von 28 Tagen, nicht unverhältnismäßig. Die selben Ausführungen gelten auch hinsichtlich der ZweitBf. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (5:4 Stimmen hinsichtlich der ErstBf., Sondervoten der Richter Thór Vilhjálmsson, Palm, Valticos und Makarcyk bzw. einstimmig hinsichtlich der ZweitBf.).
Art. 50 EMRK: Je GBP 500,- für immateriellen Schaden; GBP 20.000,-
für Kosten und Auslagen.
Vgl. die vom GH zitierten Fälle Sunday Times (No.1)/GB, Urteil v.
26.4.1979, A/30 (= EuGRZ 1979, 386); Olsson (No. 1)/S, Urteil v.
24.3.1988, A/130 (= EuGRZ 1988, 591); Open Door Dublin Well
Woman/IRL, Urteil v. 29.10.1992, A/246-A (= NL 92/6/13 = EuGRZ 1992,
484 = 1993, 280); Chorherr/A, Urteil v. 25.8.1993, A/266-B (= NL
93/5/11 = ÖJZ 1994, 173); Benham/GB; Urteil v. 10.6.1996 (= NL
96/4/7 = ÖJZ 1996, 915).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 9.4.1997 eine Verletzung von Art. 10 EMRK hinsichtlich der letzten drei Bf. festgestellt, jedoch keine Verletzung der übrigen Beschwerdebehauptungen (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.9.1998, Bsw. 24838/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 201) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/98_5/Steel.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.