JudikaturAUSL EGMR

Bsw25357/94 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. Juli 1998

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Aerts gegen Belgien, Urteil vom 30.7.1998, Bsw. 25357/94.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK - Unterbringung eines geisteskranken Rechtsbrechers. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (7:2 Stimmen)

Entschädigung nach Art. 50 EMRK: BEF 50.000,- für immateriellen Schaden. BEF 400.000,- abzüglich Verfahrenskostenhilfe des Europarates in Höhe von FF 10.166,- für Kosten und Auslagen (8:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde 1992 verhaftet, nachdem er seine ehemalige Gattin mit einem Hammer attackiert hatte. Im darauffolgenden Strafverfahren ordnete das Gericht seine Unterbringung in eine psychiatrische Anstalt an. Bis die zuständige Behörde (commission de la défense sociale, im folgenden: commission) einen geeigneten Platz gefunden hat, sollte er im psychiatrischen Teil der Strafanstalt von Lantin untergebracht werden. Im März 1993 entschied die commission, den Bf. in die psychiatrische Anstalt nach Paifve zu überstellen. Da dies nicht geschah, beantragte der Bf. gerichtlich die sofortige Durchführung dieses Beschlusses und verlangte für jeden Tag Verzögerung BEF 10.000,-- Schadenersatz. Dem Antrag wurde in erster Instanz stattgegeben. Das Gericht zweiter Instanz hob diese Entscheidung jedoch wieder auf. Dagegen erhob der Bf. ein Rechtsmittel beim Kassationsgerichtshof und beantragte Verfahrenshilfe. Dieser Antrag wurde abgelehnt. In der Zwischenzeit - im Oktober 1993 - war der Bf. nach Paifve überstellt worden. Im November 1994 wurde er bedingt entlassen und im November 1996 nach Verstoß gegen die bei seiner Entlassung gemachten Auflagen erneut in die psychiatrische Anstalt Paifve eingeliefert.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Art. 5 (4) EMRK (Recht auf eine gerichtliche Haftkontrolle), Art. 6 (1) EMRK (Recht auf Zugang zu einem Gericht) und Art. 3 EMRK (hier: Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (1) EMRK:

Grundsätzlich ist die "Haft" einer Person als Geisteskranker gemäß lit. e des Art. 5 (1) EMRK nur dann rechtmäßig, wenn sie in einer Klinik, einem Krankenhaus oder einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird.

Mehrere Berichte, darunter auch einer des Europäischen Komitees zur Verhütung der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe, belegten, dass die psychiatrische Abteilung der Strafanstalt von Lantin in keinster Weise für die Unterbringung unzurechnungsfähiger Personen geeignet ist. Zudem vertrat auch die commission die Ansicht, dass die Unterbringung in Lantin schädlich für den Bf. sei. Die Reg. bestreitet nicht, dass eine Behandlung aus therapeutischer Sicht in Lantin unbefriedigend war. Die Haftbedingungen waren im Hinblick auf den Zweck der Anhaltung unverhältnismäßig. Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (4) EMRK:

Ein zugängliches innerstaatliches Rechtsmittel muss die Möglichkeit bieten, zu überprüfen, ob die Anhaltung einer Person für die Zwecke des Art. 5 (1) (e) EMRK rechtmäßig ist. Der Bf. konnte die sofortige Durchführung des Beschlusses der commission beantragen. Das Gericht erster Instanz stellte fest, dass seine Unterbringung in Lantin unrechtmäßig sei und gab diesem Antrag statt. Diese Entscheidung wurde vom Gericht zweiter Instanz wieder aufgehoben. Allein das bedeutet jedoch nicht, daß das dem Bf. zur Verfügung gestandene Rechtsmittel grundsätzlich ungeeignet gewesen wäre, sein durch Art. 5

(4) EMRK garantiertes Recht zu gewährleisten. Keine Verletzung von Art. 5 (4) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Der Bf. behauptet, die Verweigerung von Verfahrenshilfe für das Verfahren vor dem Kassationsgerichtshof verletze Art. 6 (1) EMRK. Der vorliegende Fall betrifft nicht die Feststellung über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage. Der Ausgang des Verfahrens war vielmehr entscheidend für zivile Rechte iSv. Art. 6

(1) EMRK. Das innerstaatliche Verfahren betraf nicht nur die Überstellung des Bf. nach Paifve, sondern grundsätzlich die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Entzugs der persönlichen Freiheit. Dieses Recht ist ein ziviles Recht.

Der Bf. verfügte demnach nicht über ausreichende Mittel, um sich einen Anwalt für das Verfahren vor dem Kassationsgerichtshof zu leisten. Da in solchen Verfahren jedoch Anwaltszwang herrscht, wurde durch die Nichtgewährung von Verfahrenshilfe dem Bf. der Zugang zu einem Gericht verweigert. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

Eine Misshandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, wenn sie in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK fallen soll. Die Einschätzung dieses Mindestmaßes ist relativ; sie hängt von den Umständen des Falls ab.

Die allgemeinen Bedingungen in der psychiatrischen Abteilung von Lantin waren unbefriedigend. Das Europäische Komitee zur Verhütung der Folter stellte fest, dass dort nicht einmal Minimalstandards für die Unterbringung Geisteskranker erfüllt würden. Dennoch konnte eine Verschlechterung des Zustandes des Bf. - bedingt durch die Zustände in der Strafanstalt Lantin - nicht nachgewiesen werden. Die Lebensbedingungen in dieser Anstalt scheinen nicht solche Auswirkungen auf seine mentale Gesundheit gehabt zu haben, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (7:2 Stimmen, Sondervoten der Richter Pekkanen und Jambrek).

Art. 50 EMRK:

BEF 50.000,-- für immateriellen Schaden. BEF 400.000,-- abzüglich Verfahrenskostenhilfe des Europarates in Höhe von FRF 10.166,-- für Kosten und Auslagen.

Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Winterwerp/NL, Urteil v.

24.10.1979, A/33 (= EuGRZ 1979, 650); X./GB, Urteil v. 5.11.1981,

A/46 (= EuGRZ 1982, 101); Ashingdane/GB, Urteil v. 28.5.1985, A/93 (=

EuGRZ 1986, 8); Bizzotto/GR, Urteil v. 15.11.1996 (= ÖJZ 1997, 583).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 20.5.1997 eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (29:2 Stimmen) und Art. 3 EMRK (17:14 Stimmen), jedoch keine Verletzung von Art. 5 (4) EMRK und Art. 6 (1) EMRK (beide einstimmig) festgestellt.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.7.1998, Bsw. 25357/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 140) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/98_4/Aerts.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise