Bsw23818/94 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Ergi gegen die Türkei, Urteil vom 28.7.1998, Bsw. 23818/94.
Spruch
Art. 2 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 18 EMRK, Art. 25 Abs. 1 EMRK - Tötung einer Person durch türk. Sicherheitskräfte.
Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
(einstimmig).
Verletzung von Art. 13 EMRK (8:1 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 50 EMRK: GBP 1.000,- bzw. GBP 5.000,- für den Bf. bzw. seine Nichte für immateriellen Schaden. GBP 12.000,-
abzüglich FF 9.995,- Verfahrenskostenhilfe des Europarates für Kosten und Auslagen (8:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Sachverhalt ist umstritten. Der Bf. und seine Schwester lebten zur Zeit der fraglichen Ereignisse im Südosten der Türkei. Die Schwester des Bf. wurde im September 1993 durch einen Gewehrschuss getötet. Nach der Version des Bf. handelte es sich um Mord durch türk. Sicherheitskräfte, die das Dorf angegriffen hätten. Die Reg. behauptet, die Sicherheitskräfte hätten einem bewaffneten Kommando der PKK (kurd. Arbeiterpartei) aufgelauert, beim Schusswechsel wurde die Schwester des Bf. von einer Kugel getroffen. Diese Kugel könnte jedoch auch von einem Mitglied der PKK abgegeben worden sein. Einen Tag nach diesen Ereignissen wurde der Ort des Geschehens von einem Staatsanwalt in Begleitung mehrerer Gendarmen und eines Arztes aufgesucht. Der Arzt führte eine Autopsie durch und entfernte die Kugel aus dem Körper der Toten. Der Fall wurde in der Folge einem anderen Staatsanwalt übergeben, der jedoch weitere Untersuchungen unterließ. Er erklärte sich vielmehr im Dezember 1993 für unzuständig und leitete die Angelegenheit an den Nationalen Sicherheitsrat weiter, wo ein Verfahren noch immer anhängig ist.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz). Der Bf. behauptet außerdem eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) und Art. 18 EMRK (Mißbrauch der von der Konvention eingeräumten Schranken) und von Art. 25 (1) EMRK (Recht auf eine Individualbsw.)
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK:
1.) Zur Tötung der Schwester des Bf.:
Es konnte nicht in einer über berechtigte Zweifel erhabenen Weise (beyond reasonable doubt) nachgewiesen werden, dass die Schwester des Bf. vorsätzlich von Sicherheitskräften erschossen worden wäre. Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).
2.) Zur behaupteten Verletzung anderer Anforderungen von Art. 2 EMRK:
Die in Art. 2 (2) EMRK aufgezählten Ausnahmen erfassen nicht nur absichtliche Tötungen (intentional deprivation of life). Sie beschreiben vielmehr Situationen, in denen eine Gewaltanwendung zulässig ist, die, als nicht angestrebte Folge, zu einer Tötung führen kann. Eine solche Gewaltanwendung muss für die Erreichung eines der in Art. 2 (2) EMRK genannten Ziele unbedingt erforderlich (absolutely necessary) sein. In dieser Hinsicht zeigt die Verwendung des Begriffs unbedingt erforderlich in Art. 2 (2) EMRK an, dass eine strengere und auf zwingendere Gründe abstellende Prüfung (a stricter and more compelling test) vorgenommen werden muss, als bei der Frage, ob ein bestimmtes staatliches Handeln gemäß Abs. 2 der Art. 8 bis Art. 11 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Insb. muss die angewendete Gewalt zu den in Art. 2 (2) EMRK abgegebenen Zielen streng verhältnismäßig sein. Eine Tötung muß der sorgfältigsten Prüfung unterworfen werden, va. wenn vorsätzlich tödliche Gewalt angewendet wurde: Es sind nicht nur Handlungen der staatlichen Organe, die Gewalt tatsächlich anwenden, in Betracht zu ziehen, sondern alle Begleitumstände einschließlich Planung und Überwachung dieser Handlungen.
a.) Planung und Durchführung der Operation durch die Sicherheitskräfte:
Die Operation wurde in einer Weise geplant und durchgeführt, dass die Zivilbevölkerung einem realen Risiko ausgesetzt war, in einen Schusswechsel zwischen Angehörigen der Sicherheitskräfte und der PKK zu geraten. Die türk. Behörden legten jedoch keine Unterlagen über Plan und Durchführung der Operation vor. Daraus konnte vernünftigerweise geschlossen werden, dass für den Schutz des Lebens der Zivilbevölkerung nur unzureichende Maßnahmen ergriffen worden waren.
b.) Zur Unzulänglichkeit der Untersuchungen durch die Behörden:
Die Verpflichtung des Staates zum Schutz des Rechts auf Leben gemäß Art. 2 EMRK verlangt iVm. der allgemeinen Verpflichtung nach Art. 1 EMRK, dass eine wirksame staatliche Untersuchung zu erfolgen hat, wenn Personen infolge von Gewaltanwendung - insb. durch Staatsorgane - getötet wurden. Diese Verpflichtung beschränkt sich nicht auf Fälle, in denen eine Tötung nachweislich durch ein Staatsorgan geschehen ist. Es ist auch nicht entscheidend, ob Hinterbliebene formal eine Untersuchung bei der zuständigen Behörde beantragen. Die bloße Kenntnis des Vorfalls seitens der Behörden führt ipso facto zu einer Verpflichtung gemäß Art. 2 EMRK, eine wirksame Untersuchung durchzuführen. Eine solche fand jedoch nicht statt. c.) Schlussfolgerung:
Aus Gründen der Art der Planung und Durchführung der Operation wie auch des Mangels einer angemessenen und wirksamen Untersuchung der Vorfälle wird eine Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK: Diese Behauptung ist vor dem GH nicht weiterverfolgt worden. Eine Prüfung dieser Behauptung ist daher nicht erforderlich (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK: Der Bf. behauptet in vertretbarer Weise (arguable claim) die unrechtmäßige Tötung seiner Schwester. Es hätte demnach einer wirksamen Untersuchung der Vorfälle bedurft. Das Fehlen einer solchen Untersuchung führte jedoch zu einer Unterminierung der Ausübung jeglichen dem Bf. und seiner Nichte zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfs. Verletzung von Art. 13 EMRK (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK:
Die Behauptung des Bf., aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurd. Volksgruppe, Opfer einer diskriminierenden Politik durch die Reg. zu sein, konnte durch den von der Kms. festgestellten Sachverhalt nicht bestätigt werden. Keine Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 25 (1) EMRK:
Art. 25 (1) EMRK enthält die Verpflichtung, das Recht des Einzelnen, wirksam eine Bsw. bei der Kms. einzubringen und zu vertreten, nicht zu behindern. Ein Bf. muss in der Lage sein, ohne Druck mit der Kms. in Kontakt treten zu können. Der Bf. wurde von der Anti-Terror-Polizei und dem Staatsanwalt mehrmals nach den Gründen und dem Inhalt seiner Bsw. an die Kms. befragt. Dadurch wurde der Bf. eingeschüchtert. Die Reg. ist ihrer aus Art. 25 (1) EMRK erwachsenden Verpflichtung nicht nachgekommen. Verletzung von Art. 25 (1) EMRK (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).
Art. 50 EMRK:
GBP 1.000,- bzw. GBP 5.000,- für den Bf. bzw. seine Nichte für immateriellen Schaden. GBP 12.000,- abzüglich FF 9.995,-
Verfahrenskostenhilfe des Europarates für Kosten und Auslagen (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Irland/GB, Urteil v. 18.1.1978,
A/25 (= EuGRZ 1979, 149); McCann ua./GB, Urteil v. 27.9.1995, A/324
(= ÖJZ 1996, 233); Akdivar ua./TR, Urteil v. 16.9.1996; Aksoy/TR,
Urteil v. 18.12.1996; Aydin/TR, Urteil v. 25.9.1997 (= NL 97/5/8);
Mentes ua./TR, Urteil v. 28.11.1997 (= NL 97/6/12); Kaya/TR, Urteil
v. 19.2.1998 (= NL 98/2/6).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 20.5.1997 eine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig) und Art. 25 (1) EMRK (30:1 Stimmen), jedoch keine Verletzung der Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (beide einstimmig) festgestellt. Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 EMRK.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.7.1998, Bsw. 23818/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 137) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/98_4/Ergi.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.