JudikaturAUSL EGMR

Bsw22729/93 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Februar 1998

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Kaya gegen die Türkei, Urteil vom 19.02.1998, Bsw. 22729/93.

Spruch

Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 14 EMRK - Tötung einer Person durch türk. Sicherheitskräfte. keine Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich der Tötung des Bruders des Bf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich der Ermittlungspflicht des Staates (8:1 Stimmen).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich des Schutzes des Rechts auf Leben in der innerstaatlichen Rechtsordnung (einstimmig).

Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1

EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (8:1 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 6 EMRK und Art. 13 EMRK,

jeweils iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 50 EMRK: GBP 10.000,- für immateriellen Schaden. GBP 17.000,- für Kosten und Auslagen (8:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Sachverhalt ist umstritten. Der Bf. und sein Bruder lebten zur Zeit der fraglichen Ereignisse im Südosten der Türkei. Der Bruder des Bf. wurde im März 1993 von türk. Sicherheitskräften getötet. Nach der Version des Bf. handelte es sich um Mord. Die Reg. behauptet, die Sicherheitskräfte hätten sich gegen einen Angriff eines bewaffneten Kommandos der PKK (kurd. Arbeiterpartei) gewehrt, dabei wurde der Bruder des Bf. von einer Kugel getroffen. Noch am selben Tag wurde der Ort des Geschehens von einem Staatsanwalt aus Lice in Begleitung eines Arztes aufgesucht. Der Arzt stellte lediglich fest, dass der Tod als Folge von Schussverletzungen eingetreten war. Ein vollständige Autopsie wurde nicht vorgenommen. Der Staatsanwalt leitete eine Untersuchung ein, erklärte sich jedoch einige Monate später für unzuständig und leitete den Fall an den Staatsanwalt von Diyabakir weiter. Dort ist das Verfahren anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz), jeweils auch iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot). Die Reg. bringt vor, die Bsw. sei von einem Vertreter einer Menschenrechtsorganisation verfasst worden und bestreitet die Echtheit der Unterschrift.

Da diese Einwände nicht schon im Verfahren vor der Kms. geltend gemacht worden sind, liegt hier ein estoppel (Verschweigung) vor. Diese Einwände sind daher zurückzuweisen (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK:

1.) Zur Tötung des Bruders des Bf.: Hinsichtlich dieser Behauptung erfolgte die Feststellung des Sachverhalts nicht in einer Art und Weise, dass sie über berechtigte Zweifel erhaben wäre (beyond reasonable doubt). Die Ermordung des Bruders des Bf. konnte nicht eindeutig bewiesen werden, daher keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig).

2.) Zur Unzulänglichkeit der Untersuchungen durch die Behörden: Die Verpflichtung zum Schutz des Rechts auf Leben gemäß Art. 2 EMRK verlangt iVm. der allgemeinen Verpflichtung nach Art. 1 EMRK, dass eine wirksame staatliche Untersuchung zu erfolgen hat, wenn Personen infolge von Gewaltausübung - insb. durch Staatsorgane - getötet wurden. Eine solche Untersuchung hat nicht stattgefunden, daher wird eine Verletzung von Art. 2 EMRK festgestellt (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).

3.) Keine gesonderte Prüfung des behaupteten fehlenden Schutzes des Rechts auf Leben gemäß Art. 2 EMRK in der innerstaatlichen Rechtsordnung (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Der Bf. bringt vor, Schadenersatzklagen hätten keine Aussicht auf Erfolg gehabt, da sein Bruder als Terrorist galt. Es sei ihm somit keine wirksame Beschwerdemöglichkeit zur Verfügung gestanden. Dieses Vorbringen wird iZm. der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK geprüft. Keine gesonderte Prüfung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Ein wirksames Rechtsmittel nach Art. 13 EMRK verlangt, neben Schadenersatzzahlungen, eine gründliche (thorough) und wirksame (effective) Untersuchung der Vorfälle. Eine solche Untersuchung muss geeignet sein, die Verantwortlichen auszuforschen und einer Verurteilung zuzuführen, wie auch den Angehörigen einen wirksamen Zugang zu dieser Untersuchung zu gewährleisten. Insofern sind die Anforderungen von Art. 13 EMRK weiter als die Verpflichtungen nach Art. 2 EMRK. Die Angehörigen des Toten behaupteten in vertretbarer Weise (arguable grounds) dessen unrechtmäßige Tötung, sodass eine wirksame Untersuchung durchgeführt hätte werden müssen. Eine solche hat jedoch nicht stattgefunden. Verletzung von Art. 13 EMRK (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2, 6 und 13 EMRK, jeweils iVm.

Art. 14 EMRK:

Der Bf. konnte diese Behauptung nicht ausreichend darlegen. Keine Verletzung von Art. 2, 6 und 13 EMRK, jeweils iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 50 EMRK:

GBP 10.000,-- für immateriellen Schaden. GBP 17.000,-- für Kosten und Auslagen (8:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Gölcüklü).

Anm.: Vgl. insb. die vom GH zitierten Fälle McCann ua./GB, Urteil v.

27.9.1995, A/324 (= ÖJZ 1996, 233), Aksoy/TR, Urteil v. 18.12.1996,

Aydin/TR, Urteil v. 25.9.1997 (= NL 97/5/8) und Mentes/TR, Urteil v.

28.11.1997 (= NL 97/6/12).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 24.10.1996 eine Verletzung von Art. 2 EMRK und Art. 6 (1) EMRK (27:3 Stimmen), nicht jedoch von Art. 3 EMRK und Art. 14 EMRK festgestellt (einstimmig). Keine gesonderte Prüfung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.02.1998, Bsw. 22729/93, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 64) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/98_2/Kaya.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise