Bsw24348/94 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Grigoriades gegen Griechenland, Urteil vom 25.11.1997, Bsw. 24348/94.
Spruch
Art. 7 EMRK, Art. 10 EMRK - Verurteilung wegen Beleidigung der Armee und Recht auf freie Meinungsäußerung.
Verletzung von Art. 10 EMRK (12:8 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. diente als Reserveoffizier in der griech. Armee. Während der Ableistung seines Militärdienstes kam es zu einem Streit mit seinen Vorgesetzten, da er behauptet hatte, es sei zu zahlreichen Übergriffen gegen Reservesoldaten gekommen. Es wurde eine Disziplinarstrafe über ihn verhängt, die als Sanktion vorsah, dass er für längere Zeit als ursprünglich vorgesehen in der Armee zu dienen hatte. Der Bf. weigerte sich, die Strafe anzunehmen, worauf Anklage wegen Desertion gegen ihn erhoben wurde.
In einem persönlichen Schreiben an den Befehlshaber seiner Einheit versuchte der Bf., sein Verhalten zu erklären. Darin bezeichnete er die Armee ua. als einen gegen die Menschheit und die Gesellschaft gerichteten kriminellen und terroristischen Apparat. Gegen den Bf. wurde in der Folge Anklage wegen Beleidigung der Armee gemäß Art. 74 des Militärstrafgesetzes erhoben. Das Verfahren endete mit der Verurteilung des Bf. in beiden Anklagepunkten zu einer Haftstrafe von 22 Monaten. Dagegen erhob er ein Rechtsmittel an die 2. Instanz. Diese hob die Verurteilung wegen Desertion auf, bestätigte jedoch seine Verurteilung wegen Beleidigung der Armee. Ferner setzte sie die Haftstrafe auf drei Monate herab.
Der Bf. wandte sich an das Höchstgericht: Die Legaldefinition des Begriffs "Beleidigung" in Art. 74 des Militärstrafgesetzes sei zu unbestimmt, außerdem stelle diese Bestimmung eine unakzeptable Einschränkung seiner Meinungsäußerungsfreiheit dar. Das Höchstgericht wies das Rechtsmittel ab.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet, seine Verurteilung wegen Beleidigung der Armee sei eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK.
Unstrittig ist, dass die Verurteilung des Bf. einen Eingriff in sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit darstellt.
Der Bf. bringt nun vor, Art. 74 des Militärstrafgesetzes, auf den sich seine Verurteilung stützte, sei nicht ausreichend bestimmt gewesen, da diese Bestimmung weder den Begriff "Beleidigung" definiere noch Handlungen beispielhaft anführe, die als eine solche gelten können. Es habe daher an der notwendigen "Vorhersehbarkeit" der "Rechtsgrundlage" für einen Eingriff in seine Konventionsrechte gefehlt, was aus der Wendung "gesetzlich vorgesehen" hervorgehe. Festgehalten wird, dass die relevante Bestimmung des griech. Militärstrafgesetzes tatsächlich sehr weit gefasst ist. Andererseits musste dem Bf. nach der gewöhnlichen Bedeutung des in der Überschrift dieser Bestimmung (diese lautet: "Beleidigung der Flagge und der Armee") verwendeten Wortes "Beleidigung" klar sein, dass seine Handlungen strafrechtliche Folgen für ihn haben konnten. Der Eingriff war daher gesetzlich vorgesehen. Er verfolgte außerdem ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der nationalen und öffentlichen Sicherheit. Zu prüfen ist, ob dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war: Art. 10 EMRK findet auf Angehörige des Militärs in gleichem Maße Anwendung wie auch auf alle übrigen - der Herrschaftsgewalt eines Staates unterstehenden - Personen. Allerdings kann ein Staat Einschränkungen der Meinungsfreiheit dann vorsehen, wenn es um die ernste Gefahr einer Bedrohung der militärischen Ordnung geht: Eine ordnungsgemäße Führung des Militärs wäre ohne Regelungen gegen die Untergrabung der Disziplin durch deren eigene Angehörige nicht möglich. Zwar enthielt die schriftliche Stellungnahme des Bf. an den Befehlshaber seiner Einheit einige scharfe und unüberlegte Äußerungen über die griech. Armee. Diese Äußerungen wurden allerdings iZm. einem allgemein und länger gehaltenen kritischen Bericht über das Militärleben und die Armee als Institution vorgebracht. Der Brief des Bf. wurde von diesem weder veröffentlicht noch verteilt, mit Ausnahme einer Kopie, die ein anderer Reserveoffizier von ihm erhalten hatte. Es ist nicht ersichtlich, dass der Inhalt des Briefes sonst jemandem bekannt gewesen wäre. Auch wurde weder der Empfänger des Briefes noch eine andere Person darin beleidigt. Angesichts dieser Feststellungen ist die Frage einer Prüfung einer möglichen objektiven Auswirkung auf die militärische Disziplin unerheblich. Der Eingriff war daher nicht notwendig. Verletzung von Art. 10 EMRK (12:8 Stimmen). Abweichende Sondervoten der Richter Sir John Freeland, Russo, Valticos, Loizou, Morenilla, Casadevall, Pettiti und Gölküclu (Zusammenfassung):
Dem Bf. musste als Reserveoffizier die Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung einer militärischen Disziplin bekannt sein. Zwar bezweckte sein Brief - nach eigener Angabe - die Verbesserung der Lebensbedingungen der Soldaten und die Schaffung der Voraussetzungen für eine humanere Armee. Die von ihm in seinem Schreiben gewählte Ausdrucksweise lässt aber eher auf eine Sprache der Auflehnung bzw. Gehorsamsverweigerung als auf das Vorbringen einer zulässigen Kritik am Militär schließen. Im Falle einer Nichtbestrafung des Bf. hätte dies - sollte der Inhalt des Briefes an die Öffentlichkeit gelangt sein, was nicht auszuschließen war - seine Kameraden ermutigen können, ihrerseits ihre Gehorsamspflicht zu verweigern. Die öffentliche Beleidigung von staatlichen Institutionen und Behörden bzw. die Herabwürdigung staatlicher Symbole wird von der überwiegenden Mehrheit der Konventionsstaaten strafrechtlich geahndet. Derartige Strafbestimmungen sind daher mit der Konvention und insb. mit der Meinungsäußerungsfreiheit vereinbar. Der Eingriff war daher gemäß Art. 10 (2) EMRK gerechtfertigt. Daher liege keine Verletzung von Art. 10 EMRK vor.
Der Bf. behauptet weiters, Art. 74 des griech. Militärstrafgesetzes sei nicht ausreichend bestimmt gewesen, um dem Erfordernis der notwendigen "Vorhersehbarkeit" einer "Rechtsgrundlage" für einen Eingriff in seine Konventionsrechte zu genügen. Er rügt eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege). Diese Frage wurde bereits iZm. mit der vom Bf. behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK behandelt. Festgestellt wurde, dass die notwendige Vorhersehbarkeit dieser Bestimmung gegeben und somit die Verurteilung des Bf. gesetzlich vorgesehen war. Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Sunday Times/GB (Nr. 1), Urteil vom 6.11.1980, A/30, Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs
und Gubi/A, Urteil v. 19.12.1994, A/302 (= NL 95/1/11); Vogt/D,
Urteil v. 26.9.1995, A/323 (= NL 95/5/5).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 25.6.1996 eine Verletzung von Art. 10 EMRK, hingegen keine Verletzung von Art. 7 EMRK festgestellt (28:1 Stimmen bzw. einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.11.1997, Bsw. 24348/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 279) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/97_6/Grigoriades.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.