Bsw19233/91 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Tsirlis und Kouloumpas gegen Griechenland, Urteil vom 29.5.1997, Bsw. 19233/91 und Bsw. 19234/91.
Spruch
Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art 5 Abs. 5 EMRK, Art 6 Abs. 1 EMRK, Art 9 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 14 EMRK - Anhaltung von geistlichen Würdenträgern der Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung.
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 9 EMRK und Art. 13 EMRK bzw. Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. sind Angehörige der Zeugen Jehovas und bekleiden alle ein geistliches Amt. Sie suchten bei der zuständigen Militärdienststelle um Befreiung von der Wehrdienstpflicht an. Ihre Anträge wurden abgelehnt: Nur geistliche Würdenträger einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft hätten ein Recht auf Befreiung von der Wehrdienstpflicht, diese Voraussetzung treffe auf die Zeugen Jehovas jedoch nicht zu. Ein dagegen erhobenes Rechtsmittel blieb erfolglos. In der Folge traten die Bf. ihren Militärdienst an, verweigerten aber die Erfüllung ihrer militärischen Pflichten. Sie wurden hierauf wegen Ungehorsams verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Das Verfahren endete mit der Verurteilung der Bf. zu jeweils vierjährigen Freiheitsstrafen durch das Militärgericht.
Gegen das Urteil legten die Bf. ein Rechtsmittel ein. Das Militärgericht 2. Instanz entschied, mit der Prüfung des Rechtsmittels bis zur Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts - das von den Bf. gegen die ablehnende Entscheidung der Militärdienststelle angerufen worden war - zuzuwarten; die von den Bf. gestellten Haftentlassungsanträge lehnte es jeweils ab. Das Oberste Verwaltungsgericht hob die Entscheidung der Militärdienststelle auf, da die Zeugen Jehovas - gemäß seiner Entscheidungspraxis ab dem Jahre 1975 - zu den gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften gehörten. Die Bf. wurden daraufhin freigesprochen, ein allfälliger Anspruch der Bf. auf Haftentschädigung wurde jedoch mit der Begründung verneint, ihre Anhaltung wäre wegen ihres eigenen grob fahrlässigen Verhaltens erfolgt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, durch die Unrechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung in ihrem Recht auf Freiheit und Sicherheit gemäß Art. 5 (1) EMRK verletzt worden zu sein.
Die Rechtmäßigkeit der Haft ist nach der Bestimmung des Art. 5 (1) (a) EMRK (Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht) zu prüfen.
Die griech. Rechtsordnung sieht vor, dass geistliche Würdenträger aller gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften von der Wehrdienstpflicht befreit werden können. Das Oberste Verwaltungsgericht hat in mehreren Entscheidungen ab 1975 bestätigt, dass zu den gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften auch die Zeugen Jehovas gehören. Die Militärgerichte haben die Eigenschaft der Bf. als geistliche Würdenträger nie in Frage gestellt. Gleichzeitig lehnten sie es aber ab, die Entscheidungspraxis des Obersten Verwaltungsgerichts in der Frage der strafrechtlichen Verantwortung der Bf. und der sich daraus ergebenden Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung entsprechend zu berücksichtigen. Die Inhaftierung der Bf. war daher willkürlich, sie stützte sich auf keine innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Dazu kommt, dass nach griech. Recht orthodoxe Priester jederzeit - bei Stellung eines entsprechenden Antrages - von ihrer Wehrdienstpflicht befreit werden können. Die Haft war daher sowohl diskriminierend als auch unrechtmäßig. Verletzung von Art. 5 (1) (a) EMRK (einstimmig). Die Bf. behaupten weiters, die Verweigerung einer Haftentschädigung habe sie in ihrem Recht auf Entschädigung gemäß Art. 5 (5) EMRK verletzt.
Die Inhaftierung der Bf. war unrechtmäßig, trotzdem erhielten sie dafür keine Entschädigung. Verletzung von Art. 5 (5) EMRK, keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK, Art. 9 EMRK und Art. 13 EMRK bzw. Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Anm.: Vgl. insb. die vom GH – iZm. der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung – zitierten Fälle Benham/GB, Urteil vom 10.6.1996 (= NL 96/4/7) und Lukanov/BLG, Urteil vom 20.3.1997 (= NL 97/2/16).
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 7.3.1996 Verletzungen von Art. 5 (1) EMRK, Art. 5 (5) EMRK, Art. 6 (1) EMRK (einstimmig) und eine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK festgestellt (mehrstimmig), keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK sowie keine Verletzung von Art. 3 EMRK (26:4 Stimmen bzw. einstimmig).
Anm.: Vgl. den ähnlich gelagerten Fall Georgiadis/GR (= NL 97/4/6).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.5.1997, Bsw. 19233/91 und Bsw. 19234/91, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 179) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/97_4/Tsirlis.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.