Bsw21915/93 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Lukanov gegen Bulgarien, Urteil vom 20.3.1997, Bsw. 21915/93.
Spruch
Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 18 EMRK - Verhaftung eines prominenten Politikers und Recht auf Freiheit und Sicherheit.
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 18 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf., ein Politiker, war Mitglied des bulgar. Parlaments und bereits in früheren Abschnitten seiner Karriere Minister, stellvertretender (stv.) Premierminister wie auch Premierminister. Am 1. Juli 1992 beantragte der Generalstaatsanwalt beim Parlament die Aufhebung der Immunität des Bf., um gegen diesen ein Strafverfahren einleiten zu können. Der Bf. wurde verdächtigt, in seiner Zeit als stv. Premierminister Gelder im Zusammenhang mit der Gewährung von Entwicklungshilfe an Staaten der "Dritten Welt" unterschlagen zu haben.
Am 7. Juli 1992 hob das Parlament die Immunität des Bf. auf. Der Generalstaatsanwalt erhob am 9. Juli 1992 Anklage gegen den Bf., worauf gegen diesen die Untersuchungshaft verhängt wurde. Alle vom Bf. erhobenen Haftentlassungsanträge auf Freilassung aus der Untersuchungshaft wurden abgelehnt. Am 29. Dezember 1992 nahm das Parlament seine Entscheidung vom 7. Juli wieder zurück, der Bf. wurde gegen Kaution wieder entlassen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (Recht auf Freiheit u. Sicherheit) und Art. 18 EMRK ("Die nach der EMRK gestatteten Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten dürfen nicht für andere Zwecke als die vorgesehenen angewendet werden"). Am 2. Oktober 1996 war der Bf. Opfer eines Attentates geworden. Seine Witwe und seine zwei Kinder erklärten, das Verfahren an seiner Stelle fortsetzen zu wollen.
Bulgarien hat die EMRK erst am 7. September 1992 ratifiziert. Somit können nur jene Teile des Sachverhaltes geprüft werden, die sich nach diesem Datum ereignet haben. Es bestanden für die Haft ab 7. September 1992 bis zur Entlassung des Bf. dieselben Haftgründe, wie sie seit seiner Inhaftierung bestanden haben. Unbestritten ist, dass der Bf. als seinerzeitiges Mitglied der Reg. an den Entscheidungen über die Vergabe von Entwicklungshilfe mitgewirkt hat. Ein solches Verhalten allein kann jedoch nicht als eine strafbare Handlung nach dem bulgar. Strafrecht gewertet werden.
Für den Vorwurf der Unterschlagung bzw. Veruntreuung von Geldern konnten zu keinem Zeitpunkt substantielle Verdachtsmomente dargelegt werden, weshalb die Untersuchungshaft auch aus diesen Gründen nicht gerechtfertigt sein konnte. Verletzung von Art. 5 (1) EMRK (einstimmig). Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 18 EMRK (einstimmig).
Anm. : Vgl. insb. die - vom GH zitierten - ähnlich gelagerten Fälle Murray/UK, Urteil v. 28.10.1994, A/300-A (= NL 94/6/10), Yagci und Sargin/TR, Urteil v. 8.6.1995, A/319 (= NL 95/4/10) und Ahmet Sadik/GR, Urteil v. 15.11.1996.
Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 15.1.1996 eine Verletzung von Art. 5 (1) EMRK festgestellt (einstimmig); keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 18 EMRK (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.3.1997, Bsw. 21915/93, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 56) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/97_2/Lukanov.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.