Bsw20166/92 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesachen S. W. gegen das Vereinigte Königreich und C. R. gegen das Vereinigte Königreich, Urteile vom 22.11.1995, Bsw. 20166/92 und 20190/92.
Spruch
Art. 7 EMRK - Vergewaltigung in der Ehe.
Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
1. Der Bf. S.W. war verheiratet, seine Frau teilte ihm mit, ihn verlassen zu wollen. Im Verlauf der anschließenden Auseinandersetzung verletzte der Bf. seine Frau und zwang sie unter Zufügung von Misshandlungen sowie Androhung weiterer Gewalttätigkeiten - zum Geschlechtsverkehr. Er wurde wegen Vergewaltigung, Morddrohung und Körperverletzung verurteilt, die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.
2. Der Bf. C.R. war verheiratet, seine Frau verließ ihn und teilte ihm mit, sich von ihm scheiden lassen zu wollen. Der Bf. drang gewaltsam in die damalige Wohnung seiner Frau ein und versuchte, sie gegen ihren Willen und unter Anwendung körperlicher Gewalt zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Er wurde wegen versuchter Vergewaltigung und wegen Körperverletzung verurteilt, die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, der Grundsatz der "ehelichen Immunität" unterstellt wird die generelle Zustimmung der Ehefrau zum ehelichen Geschlechtsverkehr - aus dem Common Law Anfang des 18. Jhdt. sei noch auf ihre Fälle anwendbar, deshalb wurden sie wegen Handlungen verurteilt, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nicht strafbar gewesen sind. Darin sehen sie eine Verletzung von Art. 7 (1) EMRK (nullum crimen, nulla poena sine lege).
Der GH betont, Art. 7 (1) EMRK solle in Anlehnung an sein Ziel und seinen Zweck so ausgelegt und angewendet werden, dass er einen wirksamen Schutz gegen willkürliche Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung darstellt. Er beinhaltet das Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafnormen zum Nachteil des Angeklagten. Ferner bestimmt er, dass nur das Gesetz ein Delikt definieren und Strafen vorschreiben kann. Der Einzelne muss aus dem Wortlaut einer Strafnorm erkennen können - ggf. unter Heranziehung der Auslegung durch die Gerichte -, welche Handlungen strafrechtliche Verantwortlichkeit auslösen, die Strafnorm muss darüber hinaus den qualitativen Anforderungen der Vorhersehbarkeit und des Zugangs entsprechen. Eine progressive Entwicklung des Strafrechts durch richterliche Auslegung verstößt dann nicht gegen Art. 7 EMRK, wenn sie mit dem Wesen der Straftat übereinstimmt und vorhersehbar ist.
Der GH hält fest, dass die Verurteilungen (1990) sich auf ein Gesetz über Sexualverbrechen aus dem Jahr 1956 idF der Novelle 1976 stützten. Die Bf. behaupten, die Gerichte hätten den bis dahin im Common Law anerkannten Grundsatz der "ehelichen Immunität" rückwirkend aufgehoben, dies verstoße gegen Art. 7 EMRK. Die nationalen Gerichte hatten für ihre Entscheidungen eine Auslegung des oa. Gesetzes vorzunehmen, diesem schließt sich der GH an und kommt zu folgendem Ergebnis: Die Entscheidungen der nationalen Gerichte setzten eine bereits bestehende Entwicklung im case-law zur Abschaffung der "ehelichen Immunität" fort. Diese Entwicklung war für den Einzelnen vorhersehbar. Ferner lässt der besonders entwürdigende Charakter einer Vergewaltigung den Schluss nicht zu, dass die ggst. Verurteilungen der Gerichte im Widerspruch zu Ziel und Zweck von Art. 7 EMRK stünden. Die Abschaffung der "ehelichen Immunität" entspricht vielmehr den Grundgedanken der Konvention, namentlich dem Respekt vor menschlicher Würde und Freiheit, folglich wurde Art. 7 (1) EMRK nicht verletzt (einstimmig).
Anm.: Die Kms. stellte in ihrem Bericht vom 27.6.1994 (= NL 1994/6/2) keine Verletzung von Art. 7 EMRK fest (13:3 bzw. 11:6 Stimmen).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 22.11.1995, Bsw. 20166/92 und 20190/92, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,223) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/95_6/S.W. v GB.pdf
www.menschenrechte.ac.at/orig/95_6/C.R. v GB.pdf
Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.