Bsw15312/89 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache G. gegen Frankreich, Urteil vom 27.9.1995, Bsw. 15312/89.
Spruch
Art. 7 Abs. 1 EMRK - Rückwirkende Anwendung eines Strafgesetzes.
Keine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
G., ein Führerscheinprüfer, wurde im November 1982 wegen Annahme von Bestechungsgeldern im öffentlichen Amt sowie Nötigung zur Unzucht unter Gewaltanwendung und unter Ausnützung eines Autoritätsverhältnisses zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das bestätigende Urteil des Berufungsgerichts wurde vom Cour de Cassation wegen Nichterledigung der vorgebrachten Nichtigkeitsbeschwerde aufgehoben und an ein anderes Berufungsgericht zurückverwiesen. Letzteres wies die Nichtigkeitsbeschwerde im Jänner 1987 ab und verurteilte den Bf. erneut wegen desselben Delikts, reduzierte jedoch die verhängte Freiheitsstrafe auf drei Jahre. Dabei stützte sich das Gericht auf eine Novelle im Bereich der Sittlichkeitsdelikte, die im Dezember 1980, und damit nach Begehung der dem Bf. zur Last gelegten Tat, in Kraft getreten war. Eine neuerliche Berufung blieb erfolglos, weil der Cour des Cassation die verhängte Freiheitsstrafe schon allein für die Annahme von Bestechungsgeldern für angemessen hielt und sich daher nach der frz. StPO mit dem Vorwurf der rückwirkenden Anwendung eines Strafgesetzes auf das Sittlichkeitsdelikt nicht mehr auseinander zu setzen brauchte.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. erachtet sich durch die Heranziehung der novellierten Bestimmung für seine Verurteilung in seinem Recht gemäß Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege) verletzt.
Art. 7 (1) EMRK bestimmt, dass Straftatbestände und Strafrahmen nur vom Gesetz festgelegt werden können, und verbietet insb. die rückwirkende Anwendung eines Strafgesetzes, wenn es dem Beschuldigten zum Nachteil gereicht. Die Tat, deren der Bf. beschuldigt wurde, war bereits in der früheren Fassung des Strafgesetzes als Vergewaltigung bzw. Nötigung zur Unzucht strafbar gewesen. Das Erfordernis der Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit, das an Strafbestimmungen zu stellen ist, wurde damit erfüllt. Zu den Rechtsbegriffen Gewalt und Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses bestand eine veröffentlichte und daher zugängliche Rspr. Darüber hinaus hatte die Novelle für den Begriff Gewalt nur eine Klarstellungsfunktion.
Die dem Bf. zur Last gelegten Handlungen waren auch nach der neuen Gesetzeslage strafbar. In Befolgung des Grundsatzes, dass die mildere Bestimmung sowohl hinsichtlich des Straftatbestands als auch zur Bestimmung der Strafdrohung heranzuziehen ist, haben die Gerichte die novellierte Strafbestimmung für die Nötigung zur Unzucht angewendet, weil sie das Delikt von einem Verbrechen zu einem Vergehen herabstufte. Die zugegebenermaßen rückwirkende Anwendung der neuen Bestimmung war daher zum Vorteil des Bf. Art. 7 (1) EMRK wurde somit nicht verletzt (einstimmig).
Anm.: Die Kms. stellte in ihrem Bericht vom 29.6.1994 keine Verletzung von Art. 7 EMRK fest (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.9.1995, Bsw. 15312/89, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,192) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/95_5/G. v F.pdf
Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.