Bsw15917/89 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Jamil gegen Frankreich, Urteil vom 8.6.1995, Bsw. 15917/89.
Spruch
Art. 7 Abs. 1 EMRK - Schuldnerverzugshaft und Rückwirkungsverbot.
Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. wurde am 4.6.1986 bei der Einreise nach Frankreich unmittelbar nach Übernahme eines Kokainpaketes von den frz. Zollbehörden festgenommen. Am 22.6.1987 wurde er wegen Drogenschmuggels zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe sowie zu einer Zollstrafe von FRF 2.091.200,-- verurteilt. Gemäß Art. 750 der frz. Strafprozessordnung wurde für den Fall der Nichtzahlung der Geldstrafe Schuldnerverzugshaft bis zu vier Monaten festgesetzt. Am 5.5.1988 bestätigte das Berufungsgericht das Urteil und verlängerte aufgrund eines erst mit 31.12.1987 in Kraft getretenen Gesetzes die Schuldnerverzugshaft auf zwei Jahre. Die Kms. bejahte in ihrem Bericht vom 10.3.1994 die Verletzung des Rückwirkungsverbotes nach Art. 7 (1) EMRK (vgl. NL 94/3/08).
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet, durch die Verhängung der Schuldnerverzugshaft aufgrund eines erst nach Begehung seiner Tat in Kraft getretenen Gesetzes in seinem Recht nach Art. 7 (1) EMRK (Verbot rückwirkender Strafgesetze) verletzt worden zu sein.
Als Hauptfrage ist zunächst zu prüfen, ob die verhängte Maßnahme eine Strafe iSv. Art. 7 (1) EMRK darstellt und daher das Rückwirkungsverbot gilt. Die Reg. bestreitet den Strafcharakter der Maßnahme, da die Verzugshaft nicht anstatt der Zollstrafe verhängt worden sei, sondern nur deren Durchsetzung bezwecke. Sie richte sich nicht gegen das Zollvergehen an sich, sondern sanktioniere die Nichtzahlung der Zollstrafe, die selbst nicht der Bestrafung, sondern der Wiedergutmachung und Schadloshaltung diene. Insofern sei die Maßnahme mit der Pfändung von Schuldnervermögen zur Einbringung einer Forderung vergleichbar. Zudem sei bei der Verzugshaft das ganze System der Strafhaft, wie bedingte Entlassung, Anrechnung der Untersuchungshaft und Begnadigung nicht anwendbar. Ausschlaggebend gegen die Qualifikation als Strafe sei die Tatsache, dass die Verbindlichkeit aus der Zollstrafe auch nach Vollzug der Haft aufrecht bleibe.
Wie bereits in anderen Fällen (vgl. jüngst Urteil Welch/GB, A/307-A § 27 = NL 95/2/08) stellt der GH fest, der Begriff Strafe in Art. 7 (1) EMRK sei autonom auszulegen. Um die Effektivität des von Art. 7 EMRK beabsichtigten Schutzes zu gewährleisten, muss der GH eigenständig prüfen, ob die ggst. Maßnahme materiell als Strafe anzusehen ist. Schon nach dem Wortlaut von Art. 7 (1) EMRK muss dabei zuerst untersucht werden, inwieweit die Maßnahme mit dem Kriminalstrafrecht zusammenhängt. Weiters ist ihre innerstaatliche Qualifizierung, ihre Beschaffenheit und ihr Zweck, das Verfahren bei ihrer Verhängung und ihrem Vollzug sowie die Strenge der Maßnahme relevant (Welch/GB, § 28).
Die Verzugshaft wurde iZm. der Bekämpfung des Drogenhandels, also in einem kriminalstrafrechtlichen Zusammenhang verhängt, kann aber auch iZm. Finanzstrafen verhängt werden. Sie will die Bezahlung der Geldstrafe sicherstellen, indem sie den Schuldner, der seine Insolvenz nicht glaubhaft machen kann, mit Haft bedroht. Die Umstände der Haft sind strenger als bei gewöhnlichen Kriminalstrafen, da verschiedene Vergünstigungen wie Begnadigung und bedingte Entlassung nicht angewendet werden. Als Überrest der in alten Rechtssystemen üblichen Schuldnerhaft lässt sie die Verbindlichkeit zur Zahlung der Geldstrafe unberührt. Das Eigentum des Schuldners kann weiterhin gepfändet werden. Insofern ist die Maßnahme auch nicht, wie die Regierung meint, mit der Pfändung des Schuldnervermögens vergleichbar. Sie wurde von einem Strafgericht verhängt, sollte der Abschreckung dienen und hätte zu einem strafweisen Freiheitsentzug führen können (vgl. mutatis mutandis Urteil Engel et alii/NL, A/22 § 82; Urteil Öztürk/D, A/73 § 53). Daher ist sie eine Strafe. Die rückwirkende Anwendung des Gesetzes wurde nicht bestritten. Art. 7 (1) EMRK wurde verletzt (einstimmig).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.6.1995, Bsw. 15917/89, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,157) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/95_4/Jamil v F.pdf
Das Original der Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.