Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,
die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 28. Mai 2014 zu ihrer einhundertdritten Tagung zusammengetreten ist,
hat das Protokoll von 2014 zum Übereinkommen über Zwangsarbeit, 1930, nachstehend als das „Protokoll“ bezeichnet, angenommen;
hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen, die darauf abzielen, Lücken bei der Umsetzung des Übereinkommens (Nr. 29) über Zwangsarbeit, 1930, nachstehend als „das Übereinkommen“ bezeichnet, zu schließen, und bekräftigt, dass Präventions- und Schutzmaßnahmen sowie Rechtsbehelfe und Abhilfemaßnahmen, wie zum Beispiel Entschädigung und Rehabilitation, erforderlich sind, um die wirksame und dauerhafte Beseitigung von Zwangs- oder Pflichtarbeit gemäß dem vierten Punkt der Tagesordnung der Tagung zu erreichen, und
dabei bestimmt, dass diese Anträge die Form einer Empfehlung zur Ergänzung des Übereinkommens und des Protokolls erhalten sollen.
Die Konferenz nimmt heute, am 11. Juni 2014, die folgende Empfehlung an, die als Empfehlung betreffend Zwangsarbeit (ergänzende Maßnahmen), 2014, bezeichnet wird.
1. Die Mitglieder sollten in Absprache mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden sowie anderen in Betracht kommenden Gruppen Folgendes, soweit erforderlich, einrichten oder stärken:
a) innerstaatliche Politiken und Aktionspläne mit an Fristen gebundenen Maßnahmen unter Verwendung eines geschlechtersensitiven und kinderorientierten Ansatzes, um die wirksame und dauerhafte Beseitigung von Zwangs- oder Pflichtarbeit in allen ihren Formen durch Prävention, Schutz und den Zugang zu Rechtsbehelfen und Abhilfemaßnahmen, wie zum Beispiel die Entschädigung der Opfer, sowie die Bestrafung der Verantwortlichen zu erreichen; und
b) zuständige Stellen, wie zum Beispiel Arbeitsaufsichtsdienste, Justizbehörden und innerstaatliche Organe oder andere institutionelle Mechanismen, die für Zwangs- oder Pflichtarbeit zuständig sind, um die Entwicklung, Koordinierung, Durchführung, Überwachung und Evaluierung der innerstaatlichen Politiken und Aktionsplänesicherzustellen.
2. (1) Die Mitglieder sollten regelmäßig zuverlässige, neutrale und detaillierte Informationen und statistische Daten, aufgeschlüsselt nach relevanten Merkmalen wie Geschlecht, Alter und Staatsangehörigkeit, über Art und Ausmaß der Zwangs- oder Pflichtarbeit erheben, auswerten und zur Verfügung stellen, die eine Bewertung erzielter Fortschritte gestatten würden.
(2) Das Recht auf Privatsphäre in Bezug auf personenbezogene Daten sollte gewahrt werden.
3. Die Mitglieder sollten Präventionsmaßnahmen ergreifen, die Folgendes einschließen:
a) die Achtung, Förderung und Verwirklichung der grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit;
b) die Förderung von Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen, um gefährdeten Arbeitnehmern 1 zu ermöglichen, Arbeitnehmerverbänden beizutreten;
c) Programme zur Bekämpfung der Diskriminierung, die die Anfälligkeit für Zwangs- oder Pflichtarbeit erhöht;
d) Initiativen zur Bekämpfung von Kinderarbeit und zur Förderung von Bildungsmöglichkeiten für Kinder, sowohl Jungen als auch Mädchen, als Schutzmaßnahme dagegen, dass Kinder zu Opfern von Zwangs- oder Pflichtarbeit werden; und
e) Schritte, um die Ziele des Protokolls und des Übereinkommens zu verwirklichen.
4. Unter Berücksichtigung ihrer innerstaatlichen Umstände sollten die Mitglieder die wirksamsten Präventionsmaßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel:
a) Bekämpfung der eigentlichen Ursachen der Anfälligkeit von Arbeitnehmern für Zwangs-oder Pflichtarbeit;
b) gezielte Sensibilisierungskampagnen, insbesondere für diejenigen, bei denen die Gefahr, zu Opfern von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu werden, am größten ist, um sie unter anderem darüber zu informieren, wie sie sich vor betrügerischen oder missbräuchlichen Anwerbungs-und Beschäftigungspraktiken schützen können, über welche Rechte und Verantwortlichkeiten bei der Arbeit sie verfügen und wie sie im Bedarfsfall Zugang zu Unterstützung erhalten können;
c) gezielte Sensibilisierungskampagnen in Bezug auf die Strafen für Verstöße gegen das Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit;
d) Aus- und Weiterbildungsprogramme für gefährdete Bevölkerungsgruppen, um ihre Beschäftigungsfähigkeit sowie ihre Einkommenschancen und ihre Erwerbsfähigkeit zu verbessern;
e) Schritte, um sicherzustellen, dass die innerstaatlichen Rechtsvorschriften über das Arbeitsverhältnis sich auf alle Wirtschaftssektoren erstrecken und dass sie wirksam durchgesetzt werden. Die einschlägigen Informationen über die Beschäftigungsbedingungensollten in geeigneter, nachprüfbarer und leicht verständlicher Weise und vorzugsweise in schriftlichen Verträgen im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gesamtarbeitsverträgen festgelegt werden;
f) grundlegende Garantien der sozialen Sicherheit, die Teil des innerstaatlichen sozialen Basisschutzes sind, wie er in der Empfehlung (Nr. 202) betreffend den sozialen Basisschutz,2012, vorgesehen ist, um die Anfälligkeit für Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verringern;
g) Orientierung und Informationen für Migranten vor der Ausreise und bei der Ankunft, damit sie auf die Arbeit und das Leben im Ausland besser vorbereitet sind und um ein Bewusstsein für und ein besseres Verständnis von Situationen des Menschenhandels für die Zwecke von Zwangsarbeit zu schaffen;
h) kohärente Politiken, wie Beschäftigungs- und Arbeitsmigrationspolitiken, die den Risiken Rechnung tragen, mit denen bestimmte Gruppen von Migranten, einschließlich derjenigen mit irregulärem Status, konfrontiert sind, und die die Umstände angehen, die zu Zwangsarbeitssituationen führen könnten;
i) Förderung koordinierter Anstrengungen der zuständigen staatlichen Stellen zusammen mit den Stellen anderer Staaten, um eine reguläre und sichere Migration zu erleichtern und Menschenhandel zu verhüten, einschließlich koordinierter Anstrengungen, um Arbeitskräfteanwerber und Arbeitsvermittler zu regulieren, zuzulassen und zu überwachen und um dafür zu sorgen, dass Arbeitnehmern keine Anwerbegebühren in Rechnung gestellt werden, um Schuldknechtschaft und andere Formen von wirtschaftlichem Zwang zu verhindern; und
j) bei der Umsetzung ihrer Verpflichtungen aus dem Übereinkommen, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu beseitigen, den Arbeitgebern und Unternehmen Anleitung und Unterstützung bieten, damit sie wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Risiken von Zwangs- oder Pflichtarbeit in ihren Betrieben oder bei den Produkten, Dienstleistungen oder Tätigkeiten, mit denen sie unmittelbar verbunden sein können, zu ermitteln, zu verhindern und abzuschwächen und Rechenschaft darüber abzulegen, wie sie diesen Risiken begegnen.
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1 Bei allen personenbezogenen Bezeichnungen gilt die gewählte Form für beide Geschlechter.
5. (1) Es sollten gezielte Anstrengungen unternommen werden, um die Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu ermitteln und zu befreien.
(2) Für Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit sollten Schutzmaßnahmen vorgesehen werden. Diese Maßnahmen sollten nicht von der Bereitschaft des Opfers zur Mitarbeit in Straf- und sonstigen Verfahren abhängig gemacht werden.
(3) Es könnten Schritte unternommen werden, um Opfer zu ermutigen, bei der Identifizierung und Bestrafung von Tätern mitzuarbeiten.
6. Die Mitglieder sollten die Rolle und die Fähigkeiten von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden und anderer in Betracht kommender Organisationen bei der Unterstützung und Hilfe für Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit anerkennen.
7. Die Mitglieder sollten im Einklang mit den Grundsätzen ihrer Rechtsordnung die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass die zuständigen Stellen die Befugnis haben, Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit wegen ihrer Beteiligung an unrechtmäßigen Tätigkeiten, zu denen sie als unmittelbare Folge der ihnen auferlegten Zwangs- oder Pflichtarbeit gezwungen worden sind, nicht strafrechtlich zu verfolgen oder von einer Bestrafung abzusehen.
8. Die Mitglieder sollten Maßnahmen ergreifen, um Missbräuche und betrügerische Praktiken durch Arbeitskräfteanwerber und Arbeitsvermittler zu beseitigen, wie zum Beispiel:
a) Beseitigung der Belastung der Arbeitnehmer mit Anwerbegebühren;
b) Erfordernis transparenter Verträge, in denen die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen klar dargelegt werden;
c) Einrichtung von angemessenen und zugänglichen Beschwerdemechanismen;
d) Verhängung von angemessenen Strafen; und
e) Regulierung oder Zulassung dieser Dienste.
9. Unter Berücksichtigung ihrer innerstaatlichen Umstände sollten die Mitglieder die wirksamsten Schutzmaßnahmen ergreifen, um dem Bedarf aller Opfer an sofortiger Unterstützung und an langfristiger Erholung und Rehabilitation gerecht zu werden, wie zum Beispiel:
a) zumutbare Bemühungen, um die Sicherheit der Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit sowie gegebenenfalls der Familienmitglieder und Zeugen zu schützen, einschließlich des Schutzes vor Einschüchterung und Vergeltungsmaßnahmen wegen der Ausübung ihrer Rechte nach den einschlägigen innerstaatlichen Gesetzen oder wegen ihrer Mitarbeit im Rahmen von Gerichtsverfahren;
b) angemessene und geeignete Unterkunft;
c) Gesundheitsversorgung, einschließlich sowohl medizinischer als auch psychologischer Betreuung, sowie Bereitstellung von speziellen Rehabilitationsmaßnahmen für Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit, einschließlich derjenigen, die auch sexueller Gewalt ausgesetzt waren;
d) materielle Unterstützung;
e) Schutz der Privatsphäre und der Identität; und
f) soziale und wirtschaftliche Unterstützung, einschließlich des Zugangs zu Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten und des Zugangs zu menschenwürdiger Arbeit.
10. Die Schutzmaßnahmen für Kinder, die Zwangs- oder Pflichtarbeit unterworfen wurden, sollten den besonderen Bedürfnissen und den besten Interessen des Kindes Rechnung tragen und neben den Schutzmaßnahmen gemäß dem Übereinkommen (Nr. 182) über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit, 1999, Folgendes einschließen:
a) Zugang zu Bildung für Mädchen und Jungen;
b) die Bestellung eines Vormunds oder eines anderen Vertreters, soweit angebracht;
c) falls das Alter der Person ungewiss ist, aber Grund zu der Annahme besteht, dass sie unter 18 Jahre alt ist, bis zur Feststellung des Alters eine Minderjährigkeitsvermutung; und
d) Bemühungen, um Kinder mit ihren Familien zusammenzuführen oder, wenn es im besten Interesse des Kindes liegt, für eine familiäre Betreuung zu sorgen.
11. Unter Berücksichtigung ihrer innerstaatlichen Umstände sollten die Mitglieder die wirksamsten Schutzmaßnahmen für Migranten treffen, die Zwangs- oder Pflichtarbeit unterworfen wurden, ungeachtet ihres Rechtsstatus im Staatsgebiet, insbesondere:
a) Gewährung einer Bedenk- und Erholungszeit, um es der betroffenen Person zu ermöglichen, eine wohlüberlegte Entscheidung hinsichtlich der Schutzmaßnahmen und der Beteiligung an gerichtlichen Verfahren zu treffen, während der es der Person zu gestatten ist, sich weiterhin im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufzuhalten, wenn es triftige Gründe zu der Annahme gibt, dass die Person Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit ist;
b) Ausstellung von befristeten oder unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen und Zugang zum Arbeitsmarkt; und
c) Erleichterung einer sicheren und vorzugsweise freiwilligen Rückführung.
12. Die Mitglieder sollten Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass alle Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit Zugang zur Justiz und zu anderen geeigneten und wirksamen Rechtsbehelfen und Abhilfemaßnahmen haben, wie zum Beispiel Entschädigung für persönliche und materielle Schäden, indem unter anderem:
a) im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und der innerstaatlichen Praxis sichergestellt wird, dass alle Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit, entweder selbst oder über Vertreter, effektiven Zugang zu Gerichten und anderen Beilegungsmechanismen haben, um Rechtsbehelfe und Abhilfemaßnahmen, wie zum Beispiel Entschädigung und Schadensersatz, geltend zu machen;
b) vorgesehen wird, dass Opfer von den Tätern Entschädigung und Schadensersatz verlangen können, einschließlich nicht gezahlter Löhne und gesetzlicher Beiträge für Leistungen der sozialen Sicherheit;
c) Zugang zu geeigneten bestehenden Entschädigungsfonds sichergestellt wird;
d) die Opfer über ihre gesetzlichen Rechte und die verfügbaren Dienste in einer Sprache, die sie verstehen können, informiert und beraten werden und ihnen Zugang zu rechtlicher Unterstützung gewährt wird, vorzugsweise unentgeltlich; und
e) vorgesehen wird, dass alle Opfer von Zwangs- oder Pflichtarbeit, die in dem Mitgliedstaat stattgefunden hat, sowohl Inländer als auch Ausländer, geeignete verwaltungs-, zivil- und strafrechtliche Rechtsbehelfe in diesem Staat geltend machen können, unabhängig von ihrer Anwesenheit oder ihrem Rechtsstatus in diesem Staat, gegebenenfalls nach vereinfachten Verfahrenserfordernissen.
13. Die Mitglieder sollten Maßnahmen ergreifen, um den Vollzug der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und anderer Maßnahmen zu stärken, indem sie zum Beispiel:
a) den zuständigen Stellen, wie zum Beispiel Arbeitsaufsichtsdiensten, das erforderliche Mandat verleihen und die notwendigen Mittel und Schulungen zur Verfügung stellen, um ihnen zu ermöglichen, das Recht wirksam durchzusetzen und mit anderen in Betracht kommenden Organisationen zum Zweck der Prävention von Zwangs- oder Pflichtarbeit und des Schutzes ihrer Opfer zusammenzuarbeiten;
b) neben strafrechtlichen Sanktionen die Verhängung von Strafen, wie zum Beispiel die Einziehung der Gewinne aus Zwangs- oder Pflichtarbeit und anderer Vermögenswerte, im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorsehen;
c) sicherstellen, dass juristische Personen für Verstöße gegen das Verbot der Anwendung von Zwangs- oder Pflichtarbeit durch Anwendung von Artikel 25 des Übereinkommens und von Buchstabe b) zur Verantwortung gezogen werden können; und
d) die Bemühungen um die Ermittlung von Opfern stärken, auch durch die Entwicklung von Zwangs- oder Pflichtarbeitsindikatoren für Arbeitsaufsichtsbeamte, Rechtsvollzugsdienste, Sozialarbeiter, Einwanderungsbeamte, Strafverfolgungsbeamte, Arbeitgeber, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, nichtstaatliche Organisationen und andere in Betracht kommende Akteure.
14. Die internationale Zusammenarbeit zwischen und unter Mitgliedern und mit den in Betracht kommenden internationalen und regionalen Organisationen sollte gestärkt werden, die sich im Hinblick auf das Erreichen der wirksamen und dauerhaften Beseitigung von Zwangs- oder Pflichtarbeit gegenseitig unterstützen sollten, zum Beispiel durch:
a) die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit zwischen den Einrichtungen für die Durchsetzung des Arbeitsrechts zusätzlich zum Vollzug des Strafrechts;
b) die Beschaffung von Mitteln für innerstaatliche Aktionsprogramme und internationale technische Zusammenarbeit und Unterstützung;
c) gegenseitige rechtliche Unterstützung;
d) Zusammenarbeit, um die Anwendung von Zwangs- oder Pflichtarbeit durch diplomatisches Personal anzugehen und zu verhindern; und
e) gegenseitige technische Unterstützung, einschließlich des Austauschs von Informationen und von bewährten Praktiken und Lehren aus dem Kampf gegen Zwangs- oder Pflichtarbeit.
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