JudikaturJustizBsw51595/07

Bsw51595/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Juli 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Zehra Foundation u.a. gg. die Türkei, Urteil vom 10.7.2018, Bsw. 51595/07.

Spruch

Art. 11 EMRK - Auflösung einer Stiftung, welche die Errichtung eines auf die Scharia gestützten Staates anstrebte.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 11 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um die am 24.1.1989 errichtete gemeinnützige Stiftung nach türkischem Recht Zehra Egitim ve Kültür Vakfi (Stiftung Zehra für Ausbildung und Kultur) und ihre Gründungsmitglieder. Laut Statuten war es das Ziel dieser Stiftung, die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Kooperation unter ihren Mitgliedern zu fördern und zur wissenschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei beizutragen.

Auf Ersuchen des Innenministeriums ernannte die Generaldirektion für Stiftungen am 18.1.2000 drei Prüfer, welche die Situation und die Aktivitäten der bf. Stiftung kontrollieren sollten. Die Prüfer kamen zum Ergebnis, dass die bf. Stiftung ihre wahren Ziele verschleiert und unrechtmäßige Aktivitäten vorgenommen hätte, die von ihrem gesellschaftlichen Zweck und den in ihren Statuten fixierten Zielen abwichen. Auf Basis dieses Berichts strengte die Generaldirektion am 19.7.2001 eine Klage auf Auflösung der bf. Stiftung an. Das zuständige Gericht holte ein neuerliches Gutachten ein, das am 29.7.2005 vorgelegt wurde. Mit Urteil vom 20.12.2005 ordnete es die Auflösung und Liquidierung des Vermögens der bf. Stiftung und die Übertragung ihrer Güter an die Generaldirektion an. Das Gericht berücksichtigte dabei insbesondere die eingeholten Expertenmeinungen sowie in Zehra Bülteni, der offiziellen Publikation der bf. Stiftung, erschienene Texte, für welche diese zumindest zum Teil verantwortlich wäre. Es kam zum Schluss, dass sich gezeigt hätte, dass das wahre Ziel der bf. Stiftung darin liegen würde, einen theokratischen Kurdenstaat auf Basis der Scharia zu gründen. Nach Ansicht des Gerichts liefen solche Ziele einer Stiftung dem von der EMRK geschützten demokratisch-pluralistischen Regime entgegen. Das Kassationsgericht bestätigte dieses Urteil in der Folge.

Am 19.9.2013 stellten die noch lebenden Gründer der Stiftung beim zuständigen Gericht einen Antrag auf Wiedereintragung ihrer Stiftung auf Basis des neuen Gesetzes Nr. 6495 vom 2.8.2013. Das Gericht gewährte dies mit Urteil vom 30.1.2014. Als Folge davon wurden der bf. Stiftung 22 der 25 Immobilien, die anlässlich ihrer Auflösung der öffentlichen Hand übertragen worden waren, wieder zurückgegeben. Die übrigen drei Immobilien waren zwischenzeitlich anderen öffentlichen Stellen zur Verfügung gestellt worden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten insbesondere eine Verletzung von Art. 11 EMRK (hier: Recht auf Vereinigungsfreiheit) aufgrund der Auflösung der bf. Stiftung, die zu ihrer Inaktivität zwischen 2005 und 2013 führte. Sie rügten außerdem, dass die Immobilien, die den mittlerweile verstorbenen Stiftern gehört hatten, der bf. Stiftung anlässlich ihrer Wiedererrichtung 2013 nicht zurückgegeben worden wären.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK

Zulässigkeit

(31) Die Regierung behauptete, die bf. Stiftung und ihre Stifter hätten keine Opfereigenschaft mehr, weil die 2005 aufgelöste Stiftung 2013 wiedererrichtet und ihr ein sehr großer Teil ihrer Güter zurückgegeben worden sei.

(33) Der GH erinnert daran, dass eine den Bf. begünstigende Entscheidung oder Maßnahme grundsätzlich nur ausreicht, um ihn seiner Opfereigenschaft iSd. Art. 34 EMRK zu berauben, wenn die nationalen Behörden die behauptete Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und dann wiedergutgemacht haben. [...]

(34) Im vorliegenden Fall beobachtet der GH zunächst, dass die Aktivitäten der bf. Stiftung für mehr als sieben Jahre unterbrochen wurden – vom 27.11.2006, dem Datum des Urteils des Kassationsgerichts, mit welchem dieses die Auflösung der bf. Stiftung bestätigte, bis zum 30.1.2014, dem Datum des Urteils [...], mit welchem ihre Wiedererrichtung angeordnet wurde. Während dieser Zeit konnten die bf. Stiftung und ihre Stifter nicht ihren Aktivitäten nachgehen.

(35) Der GH bemerkt im Übrigen, dass die bf. Stiftung anlässlich ihrer Wiedereintragung im Januar 2014 nicht unter Beibehaltung ihrer ursprünglichen Statuten weiterexistieren konnte, da ihr gewissermaßen eine Änderung auferlegt wurde, die darin bestand, das Ziel betreffend die Abhaltung von Kursen zum Koranunterricht zu streichen.

(36) Der GH beobachtet ebenso, dass die bf. Stiftung nach ihrer Wiedereintragung am 30.1.2014 drei von den 25 dem Fiskus anlässlich ihrer Auflösung übertragenen Immobilien nicht wiedererlangen konnte [...]. Auch wenn die am 30.1.2014 noch lebenden Stifter nicht die Eigentümer der Immobilien waren, die bei den öffentlichen Stellen verblieben, mussten sie doch ebenso wie die bf. Stiftung ihre Aktivitäten ab 2014 mit weniger [...] Immobilien fortführen als vor der Auflösung.

(37) Der GH befindet, dass die nationalen Behörden – auch wenn angenommen werden kann, dass sie eine mögliche Konventionsverletzung implizit und der Sache nach teilweise wiedergutgemacht haben, indem sie 2014 die Wiedereintragung der bf. Stiftung erlaubten – den Bf. und der bf. Stiftung weder eine Entschädigung für den immateriellen Schaden gewährten, den diese behaupten, während der mehr als siebenjährigen Inaktivität erlitten zu haben, noch eine Entschädigung für die drei Immobilien, die bei den öffentlichen Stellen verblieben.

(38) Daraus folgt, dass die Bf. und die bf. Stiftung immer noch behaupten können, Opfer einer Verletzung von Art. 11 EMRK iSd. Art. 34 EMRK zu sein.

(39) Der GH erklärt die Rüge für zulässig, da sie auch weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig ist (einstimmig).

In der Sache

(40) Unter Verweis auf seine in den Rn. 34-39 oben dargelegten Feststellungen befindet der GH, dass ein Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit iSd. Art. 11 Abs. 2 EMRK durch die Bf. und die bf. Stiftung erfolgte. Der fragliche Eingriff besteht in einer Auflösung, die zu einer Unterbrechung der Aktivitäten der bf. Stiftung für mehr als sieben Jahre führte, sowie in der Nichtrückerstattung einiger ihrer Güter.

(42) Der GH akzeptiert [...], dass die strittigen Maßnahmen gesetzlich vorgeschrieben waren, nämlich durch Art. 74 Abs. 2 und Art. 81/A des ehemaligen ZGB im Hinblick auf die Auflösung der bf. Stiftung und durch die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 6495 [...] im Hinblick auf die Modalitäten der Wiedererrichtung der aufgelösten Stiftung.

(45) Der GH erwägt, dass von den Bf. und der bf. Stiftung nicht ausreichend gezeigt wurde, dass die Auflösung der Letzteren auf andere Gründe gestützt gewesen wäre als die, welche von den Gerichten in ihren Entscheidungen angegeben wurden. Er kann akzeptieren, dass die Auflösung der Stiftung mehrere der in Art. 11 EMRK aufgezählten Ziele verfolgte: Den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, die Aufrechterhaltung der Ordnung und der öffentlichen Sicherheit.

Allgemeine Grundsätze zur Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(49) Der GH erinnert daran, bereits mehrfach darauf hingewiesen zu haben, dass die Demokratie ohne jeden Zweifel ein grundlegendes Element des europäischen ordre public darstellt und das einzige politische Modell ist, das von der Konvention ins Auge gefasst wird und mit ihr vereinbar ist. [...]

(50) Unter den Charakteristika einer »demokratischen Gesellschaft« misst der GH dem Pluralismus, der Toleranz und der offenen Geisteshaltung eine besondere Bedeutung bei. [...]

(54) Daraus ergibt sich notwendigerweise, dass ein Gebilde (politische Partei, Verein, Stiftung etc.), dessen Verantwortliche zu Gewalt aufstacheln oder ein politisches Vorhaben vorschlagen, das die Demokratie nicht achtet oder auf deren Zerstörung und eine Missachtung der von dieser anerkannten Rechte und Freiheiten abzielt, aus diesen Gründen nach den Kriterien des Art. 11 Abs. 2 EMRK sanktioniert werden kann.

Anwendung im vorliegenden Fall

Dringendes gesellschaftliches Bedürfnis

(57) Der GH wird zunächst prüfen, ob die angefochtenen Maßnahmen [...] zur Zeit der Ereignisse einem »dringenden sozialen Bedürfnis« entsprachen, um die verfolgten legitimen Ziele zu erreichen.

(58) Der GH beobachtet, dass die strittigen Veröffentlichungen – wie die, die von den nationalen Gerichten im vorliegenden Fall berücksichtigt wurden – zeigten, dass das Vermögen der bf. Stiftung vor ihrer Auflösung dazu bestimmt war, die Errichtung von Einrichtungen zur Sekundar- oder Hochschulbildung zu finanzieren, die es zur Aufgabe gehabt hätten, die Rahmenbedingungen für die Einrichtung eines Staates auf Basis der Scharia zu schaffen, der einen demokratischen, laizistischen und pluralistischen Staat ersetzte und aus Kurden bestand.

(59) Da die Bf. und die bf. Stiftung unter anderem behaupten, die strittigen Veröffentlichungen würden nicht die Positionen der bf. Stiftung reflektieren, prüft der GH zuerst die Zurechenbarkeit der Inhalte dieser Publikationen zu Letzterer. Die Parteien vor dem GH stimmten dahingehend überein, dass die Statuten der bf. Stiftung die Schaffung eines separaten Staates auf Basis der Scharia nicht als Ziel erwähnten. Die bf. Stiftung wurde auf der Grundlage von schriftlichen Veröffentlichungen in ihrem offiziellen Mitteilungsblatt, Zehra Bülteni, aufgelöst. Die Verbindung zur bf. Stiftung wurde von dieser nicht bestritten. Im Übrigen nahmen die nationalen Gerichte in diesem Fall eine selektive Prüfung der strittigen Publikationen vor und berücksichtigten jene nicht, bei denen die Zurechenbarkeit zur bf. Stiftung zweifelhaft war.

(60) Der GH erwägt, dass die Anschauung und Ziele, die in den im offiziellen Mitteilungsblatt erschienenen Texten dargelegt wurden, der bf. Stiftung ohne jeden Zweifel zugerechnet werden konnten. Die theoretischen und spezifischen Erklärungen, die in dieser Veröffentlichung zu den Zielen der bf. Stiftung geliefert wurden, konnten vernünftigerweise als deren Vorstellung von ihren zukünftigen Aktivitäten verstanden werden, und nicht als die persönliche Ansicht der Autoren der fraglichen Texte. Der GH beobachtet, dass in dem Mitteilungsblatt nie klargestellt wurde, dass die dargelegten Meinungen nicht jene der bf. Stiftung widerspiegelten oder dass sie lediglich die persönliche Meinung des Autors wiedergaben.

(61) Der GH bemerkt sodann, dass die Gründe, welche die nationalen Gerichte angaben, um die Auflösung der bf. Stiftung anzuordnen, sich im Wesentlichen darauf beschränkten, dass die von der bf. Stiftung veröffentlichten Texte ihrem Inhalt nach letztendlich klar zum Ziel gehabt hätten, insbesondere für Kurden ein Staatssystem auf Basis der Scharia einzurichten und Unterrichtseinrichtungen zu eröffnen, die diesem Ziel dienten. Der GH betont, dass diese zwei Punkte in den Augen der nationalen Gerichte das Zeichen eines klaren Widerstands gegen die Grundsätze des Laizismus und der pluralistischen Demokratie waren. Er befindet, dass kein Element der Akte erlaubt zu denken, dass die nationalen Gerichte eine nicht stichhaltige und vernünftige Auslegung der Tatsachen vorgenommen hätten.

(62) Was das Ziel der bf. Stiftung angeht, ein religiöses Regime auf Basis der Scharia einzurichten, das die Grundsätze des Laizismus und der pluralistischen Demokratie missachtet, erinnert der GH daran, dass er Folgendes bereits anerkannt hat: »die Scharia, die die Dogmen und von der Religion vorgegebenen göttlichen Regeln naturgetreu reflektiert, hat einen stabilen und unabänderlichen Charakter. Ihr sind Grundsätze wie der Pluralismus in der politischen Beteiligung oder die ständige Weiterentwicklung der bürgerlichen Freiheiten fremd. (...) Es ist schwierig, zugleich seinen Respekt für die Demokratie und die Menschenrechte zu erklären und ein auf die Scharia gestütztes Regime zu unterstützen, da sich dieses klar von den Werten der Konvention abhebt« (Kalifatstaat/D [...]; Refah Partisi u.a./TR, Rn. 123). Nach Ansicht des GH kann eine Stiftung, deren Handlungen zum wahren Ziel haben, die Scharia in einem Vertragsstaat der Konvention einzurichten, schwer als eine Vereinigung gesehen werden, die im Einklang mit dem demokratischen Ideal steht, das der gesamten Konvention zugrunde liegt.

(63) Was die Aktivitäten der bf. Stiftung zur Schaffung von Unterrichtseinrichtungen mit dem Ziel angeht, der Förderung der Grundsätze des Laizismus und der pluralistischen Demokratie entgegenzuwirken – Grundsätze, die laut den Gerichten in den Texten des Mitteilungsblattes als unerwünscht qualifiziert wurden –, befindet der GH, dass die Gerichte, als sie die angefochtenen Maßnahmen setzten, ihre Verpflichtung erfüllten, dafür zu sorgen, dass das nationale Bildungsprogramm »auf objektive, kritische und pluralistische Weise« organisiert wurde, »die es den Schülern erlaubte, in einer entspannten Umgebung einen kritischen Geist insbesondere im Hinblick auf die Religion zu entwickeln, geschützt vor jeder Form von Proselytismus«.

(64) Der GH erachtet es nicht für nötig, eine gesonderte Beurteilung der Feststellungen der Gerichte vorzunehmen, wonach die bf. Stiftung eine Diskriminierung befürworten würde, indem sie ihr theokratisches Staatsmodell Kurden widmete. Er hält fest, dass das Ziel, einen Staat für die Kurden zu errichten, nie gesondert von jenem präsentiert wurde, die Scharia als Gesellschaftsmodell zu installieren. Dieses letzte Ziel war dabei das in den Aktivitäten der bf. Stiftung dominierende Element.

(65) Im Hinblick auf die Behauptung der Bf. und der bf. Stiftung, die Auflösung Letzterer sei nicht gerechtfertigt gewesen, weil keines ihrer Gründungsmitglieder für verbotene Handlungen strafrechtlich verurteilt worden sei, erinnert der GH daran, dass das zum Ausdruck bringen von Ideen und Ansichten, die dem Grundsatz des Laizismus entgegenlaufen, seit der Aufhebung von Art. 163 des früheren türkischen StGB 1991 in der Türkei nicht mehr strafbar ist. Der GH befindet, dass diese Situation im Einklang mit seiner Rechtsprechung zur Meinungsäußerungsfreiheit steht, wonach in pluralistischen Demokratien auch Ideen, die sich von einem demokratischen Regime abheben, in der öffentlichen Diskussion zum Ausdruck gebracht werden können, solange sie keine Hassrede erzeugen oder zu Gewalt aufrufen. Dennoch hindert diese Auslegung der Meinungsäußerungsfreiheit die Vertragsstaaten nicht daran, Maßnahmen zu setzen um sicherzustellen, dass eine Stiftung ihr Vermögen nicht in den Dienst eines politischen Unterrichtsprojekts stellt, das den Werten der pluralistischen Demokratie entgegenlaufen und die von der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten verkennen würde.

(66) Was den geeigneten Moment für das Eingreifen der nationalen Behörden anbelangt, konnten die Behörden, nachdem die Aktivitäten der bf. Stiftung [...] gezeigt hatten, dass diese ein anderes Ziel verfolgte als die in ihren Statuten vorgesehenen, legitimerweise eingreifen, um dieser Abweichung ein Ende zu setzen. Es war nicht notwendig, die Verwirklichung des versteckten Zieles der bf. Stiftung abzuwarten, nämlich Unterrichtsanstalten zu errichten und bei den Studenten dem demokratisch-pluralistischen Regime zuwiderlaufende Ideen zu verbreiten.

(67) [Im Ergebnis] räumt der GH deshalb ein, dass die nationalen Gerichte, die eine detaillierte Prüfung des Falles vornahmen, wobei sie sich unter anderem auf mehrere Untersuchungsberichte und Gutachten stützten und die in der einschlägigen Rechtsprechung des GH zu Art. 11 EMRK festgelegten Kriterien anwendeten, ihren Ermessensspielraum nicht überschritten, als sie letztlich befanden, dass ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis existierte, die bf. Stiftung daran zu hindern, ihr verstecktes Vorhaben zu realisieren (nämlich Aktivitäten im Bereich der Sekundar- und universitären Ausbildung zu setzen, um letztlich ein auf die Scharia gestütztes System zu errichten), um die spezielle Natur der Ausbildung in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft zu bewahren und damit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sicherzustellen und die Rechte anderer zu schützen [...].

Verhältnismäßigkeit der Maßnahme

(72) [...] Der GH betont, dass die bf. Stiftung sieben Jahre nach ihrer Auflösung entsprechend einem neuen Gesetz, das die Wiedererrichtung von aufgelösten Stiftungen erlaubte, erfolgreich ihre Wiedereintragung ins Stiftungsregister beantragte. Die bf. Stiftung bekam auf der Grundlage des neuen Gesetzes auch den größten Teil ihrer Güter zurück, die sie vor ihrer Auflösung besessen hatte. Allein die Güter, die anderen öffentlichen Stellen zugewiesen worden waren, wurden nicht zurückgegeben. Grund dafür war die Unmöglichkeit, sie der bf. Stiftung auf der Grundlage der neuen Ziele, die aus den geänderten Statuten hervorgingen, erneut zuzuweisen. Die nicht zurückerstatteten Güter werden weiter von verschiedenen Dienststellen im allgemeinen Interesse verwendet. Nachdem die bf. Stiftung nur für eine begrenzte Periode inaktiv bleiben musste, ihr der größte Teil ihrer Güter zurückgegeben wurde und die wenigen [anderen] Güter nach einer auf ein objektives, gesetzlich vorgesehenes Kriterium gestützten Auswahl bei den öffentlichen Stellen verblieben, befindet der GH, dass die strittige Maßnahme nicht unverhältnismäßig zu den verfolgten Zielen war.

Schlussfolgerung des GH im Hinblick auf Art. 11 EMRK

(73) Folglich kommt der GH zum Schluss, dass die im vorliegenden Fall in Frage stehenden Eingriffe einem »dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis« entsprachen, »verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen« waren und daher als iSd. Art. 11 Abs. 2 EMRK »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« angesehen werden konnten.

(74) Es erfolgte daher keine Verletzung von Art. 11 EMRK (einstimmig).

Zu den weiteren behaupteten Verletzungen

(75) Unter Berufung auf die Art. 6 und 13 EMRK behaupten die Bf. und die bf. Stiftung, dass die nationalen Gerichte das innerstaatliche Recht auf Basis eines für die bf. Stiftung ungünstigen Gutachtens statt auf Basis eines anderen günstigen Gutachtens falsch angewendet hätten – und dies ohne detaillierte Begründung. Damit wären ihre Rechte auf ein faires Verfahren und einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt worden.

Angesichts seiner Schlüsse zu Art. 11 EMRK befindet der GH, dass es nicht notwendig ist, die Zulässigkeit und den Inhalt dieser Rügen separat zu prüfen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Lemmens).

(76) Die Bf. und die bf. Stiftung behaupten zudem, die Nichtrückgabe einiger ihrer Güter an die bf. Stiftung anlässlich der Wiedererrichtung derselben hätte eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK mit sich gebracht.

Es ist angebracht zu betonen, dass die Maßnahmen, über die sich die Bf. beschweren, lediglich Nebeneffekte der Auflösung der Stiftung Zehra sind, die wie der GH gerade festgestellt hat, Art. 11 EMRK nicht verletzten. Die Nichtrückgabe von Immobilien, die einem verstorbenen Stifter gehören und die anderen öffentlichen Stellen zugewiesen wurden, ist ein iSd. Art. 1 1. Prot. EMRK gerechtfertigter Eingriff, und zwar aus denselben Gründen wie jenen, die zu einer Nichtverletzung von Art. 11 EMRK führten. Daher ist es nicht angezeigt, diese Rügen gesondert im Detail zu prüfen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Lemmens).

Vom GH zitierte Judikatur:

Refah Partisi (the Welfare Party)/TR v. 13.2.2003 (GK) = NL 2003, 30 = EuGRZ 2003, 206 = ÖJZ 2005, 975

Gorzelik u.a./PL v. 17.2.2004 (GK) = NL 2004, 26

Kalifatstaat/D v. 11.12.2006 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.7.2018, Bsw. 51595/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 361) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_4/Zehra.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.