JudikaturJustizBsw28761/11

Bsw28761/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
24. Juli 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Al Nashiri gg. Polen, Urteil vom 24.7.2014, Bsw. 28761/11.

Spruch

Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK, Art. 38 EMRK, Art. 1 6. Prot. EMRK - Geheime Anhaltung Terrorverdächtiger in Polen durch CIA.

Feststellung eines Versäumnisses Polens, entsprechend seiner Verpflichtung nach Art. 38 EMRK Beweise vorzulegen (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK jeweils iVm. Art. 1 6. Prot. EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich seines verfahrensrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich seines materiellrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK iVm. Art. 1 6. Prot. EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der sonstigen behaupteten Verletzungen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 100.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist jemenitischer Abstammung und Staatsangehöriger Saudi-Arabiens. Er wird aktuell in Guantanamo auf Kuba angehalten und insbesondere verdächtigt, ein führendes Al Kaida-Mitglied zu sein und im Oktober 2000 den Terrorangriff auf das Navy-Schiff USS Cole im Hafen von Aden federführend organisiert zu haben.

Der Bf. behauptet, Opfer einer geheimen/außerordentlichen Überstellung (so genannte »extraordinary rendition«) durch die CIA geworden zu sein. Er sei von dieser festgenommen und zum Zweck von Verhören außergesetzlich an einen geheimen Haftort in Polen verbracht worden. Dies sei den polnischen Behörden bewusst gewesen. Man habe ihn im Oktober 2002 in Dubai gefangen genommen und in der Folge in geheime CIA-Hafteinrichtungen in Afghanistan und Thailand verbracht. Am 5.12.2002 sei er nach Polen überstellt worden. Er sei dort bis 6.6.2003 in einer geheimen Hafteinrichtung der CIA angehalten worden, dann heimlich mit Unterstützung der polnischen Behörden nach Marokko und letztlich weiter nach Guantanamo verbracht worden.

Seinen eigenen Angaben zufolge wurde der Bf. Folter und Misshandlung unterworfen, während er sich in Polen in gesetzlich nicht anerkannter Haft befand. Insbesondere seien so genannte »erweiterte Befragungstechniken« (Enhanced Interrogation Techniques/EITs; z.B. Waterboarding) auf ihn angewendet worden, zu denen die CIA autorisiert war. Er sei auch »unerlaubten« Verhörmethoden unterzogen worden, die unter anderem zwei Scheinhinrichtungen und anhaltende Stresspositionen umfassten, und ihm sei gedroht worden, dass seine Familie hergebracht und vor ihm misshandelt würde, wenn er sich nicht fügen und Informationen liefern würde.

Der Bf. gibt weiters an, dass es im Zuge seiner Verbringung aus Polen keinen Versuch von Seiten der polnischen Regierung gegeben habe, diplomatische Zusicherungen von den USA zu erlangen, um der Gefahr vorzubeugen, dass er weiterer Folter, Isolationshaft, einem unfairem Verfahren oder der Todesstrafe unterworfen wird, während er sich in US-Gewahrsam befindet.

Die Regierung brachte im Juni 2008 Anklage gegen den Bf. vor einer Militärkommission ein, doch bislang wurde er nicht verurteilt und verbleibt in Guantanamo. Sein Verfahren wurde für 2.9.2014 angesetzt.

Der Bf. bemerkt, dass die Umstände rund um seine geheime Überstellung Gegenstand verschiedener Berichte und Untersuchungen seien, insbesondere von Berichten von Dick Marty, die dieser 2006, 2007 und 2011 als Berichterstatter für die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats geführten Untersuchung vorbereitet hatte, nachdem es Behauptungen von geheimen, CIA-betriebenen Hafteinrichtungen in verschiedenen Mitgliedstaaten gegeben hatte. Diese Berichte legen im Detail ein komplexes Netzwerk von Anhaltungen und Überstellungen durch die CIA in bestimmten Mitgliedstaaten des Europarats offen. Unter anderem identifizieren die Berichte das geheime Haftzentrum als im polnischen Geheimdienst-Ausbildungsstützpunkt in Stare Kiejkuty nahe der Stadt Szczytno (Nordpolen) gelegen.

Das Vorbringen des Bf. gründet sich des Weiteren auf verschiedene CIA-Dokumente, die für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Daraus geht insbesondere hervor, dass der Bf. in die Kategorie von so genannten »hochrangigen Gefangenen« (High-Value-Detainees/HVDs) – Terrorverdächtige, die wahrscheinlich in der Lage sind, Informationen über aktuelle terroristische Bedrohungen gegen die USA zu liefern – gehörte, auf welche die EITs angewendet wurden. Der Bf. stützt sich weiters auf einen Bericht des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) aus 2007 über die Behandlung von HVDs in CIA-Gewahrsam, der auf Interviews mit 14 solchen Häftlingen basierte, darunter auch mit dem Bf.

Im März 2008 wurde in Polen eine strafrechtliche Untersuchung gegen unbekannt im Hinblick auf geheime CIA-Gefängnisse auf polnischem Gebiet eröffnet. Sie ist nach wie vor anhängig. Die Behörden haben den exakten Rahmen der Untersuchung nicht offengelegt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 13 (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) iVm. Art. 3 EMRK und von Art. 1 6. Prot. EMRK (Abschaffung der Todesstrafe) iVm. Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art. 3 EMRK.

Zur Einrede der Regierung wegen

Nichterschöpfung des Instanzenzugs

(339) Die Regierung brachte vor, dass die Beschwerde verfrüht sei, da die strafrechtliche Untersuchung der Rügen des Bf. wegen Misshandlung und geheimer Inhaftierung in Polen noch anhängig sei. [...]

(343) Die Einrede der Regierung wirft Fragen betreffend die Wirksamkeit der Untersuchung hinsichtlich der Rügen des Bf. [...] auf und ist somit eng mit dessen Beschwerde unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 3 EMRK verknüpft. Die Einrede sollte daher mit der diesbezüglichen Entscheidung in der Sache verbunden werden [...] (einstimmig).

Einhaltung von Art. 38 EMRK durch Polen

(345) [...] Der GH hat die Regierung [...] mehrfach ersucht, Beweisdokumente vorzulegen [...].

(368) Es sind allerdings bislang keine der gewünschten Dokumente vorgelegt worden und hat sich die Regierung bei der Beantwortung der Ersuchen des GH bis dato auch auf keine Argumente im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit gestützt. Die Regierung hat sich lediglich auf das Bedürfnis berufen, die Geheimhaltung der Untersuchung der Rügen des Bf. wegen Folter und geheimer Inhaftierung in Polen sicherzustellen. [...]

(370) [...] Die VerfO des GH würde laut der Regierung zudem keine ausreichenden Schutzmechanismen zur Geheimhaltung von vertraulichem Material bieten. [...]

(371) Der GH kann die Ansicht der Regierung nicht hinnehmen. Die Verpflichtungen, welche die Vertragsstaaten unter der Konvention in ihrer Gesamtheit gesehen auf sich nehmen, umfassen auch ihre Verpflichtung, dem Verfahren zu entsprechen, wie es der GH gemäß der Konvention und der VerfO eingerichtet hat. Die VerfO ist – anders als von der Regierung behauptet – nicht nur ein rein »interner Akt«, sondern geht auf die dem GH durch den Vertrag eingeräumte Befugnis nach Art. 25 lit. d EMRK zurück, seine eigene VerfO zu beschließen.

Das Fehlen besonderer und detaillierter Bestimmungen in der VerfO für die Übermittlung vertraulicher, geheimer oder sonst sensibler Informationen bedeutet nicht, dass der GH diesbezüglich in einem Vakuum agiert. Ganz im Gegenteil [...] haben die Konventionsinstitutionen eine solide Praxis entwickelt, um mit Fällen umzugehen, bei denen es um unterschiedliche hochsensible Materien ging. Beispiele zu verfahrensrechtlichen Entscheidungen auf Basis dieser Praxis zeigen, dass der GH ausreichend gut gerüstet ist, allen Bedenken bei der Übermittlung vertraulicher Informationen angemessen zu begegnen. Er hat eine große Bandbreite praktischer Arrangements getroffen, die auf die besonderen Umstände des jeweiligen Falles abgestimmt waren.

(375) Unter Berücksichtigung, dass ein Teil der Rügen des Bf. die angebliche Unwirksamkeit der strafrechtlichen Untersuchung unter Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK betraf, waren die Dokumente dieser Untersuchung für eine korrekte Prüfung der Beschwerde durch den GH nötig. [...] Angesichts der besonderen Probleme bei der Gewinnung von Beweisen durch den GH aufgrund der hohen Geheimhaltung der amerikanischen Überstellungsoperationen, der Einschränkung des Kontakts des Bf. mit der Außenwelt [...] und der fehlenden Möglichkeit für diesen, direkt von den gerügten Ereignissen zu berichten, waren diese Dokumente auch für die Untersuchung der Beschwerde unter anderen Bestimmungen der Konvention wichtig. Die polnische Regierung hatte Zugang zu Informationen, die geeignet waren, die in der Beschwerde vorgebrachten Fakten zu erhellen. Ihr Versäumnis, in ihrem Besitz befindliche Informationen vorzulegen, behindert daher die Aufgaben des GH unter Art. 38 EMRK. Der GH ist somit berechtigt, Rückschlüsse aus dem Verhalten der Regierung zu ziehen.

(376) Polen hat es folglich durch die Weigerung, die Ersuchen des GH um Vorlage von Beweisen zu erfüllen, verabsäumt, seinen Verpflichtungen nach Art. 38 EMRK nachzukommen (einstimmig).

Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung

(400) [...] Die Sachverhaltsfeststellung des GH stützt sich großteils auf Indizienbeweise, darunter eine Vielzahl an Beweisen, die durch die verschiedenen internationalen Untersuchungen, erheblich zensierte, von der CIA veröffentlichte Dokumente, andere öffentliche Quellen sowie Experten und einen Zeugen erlangt wurden.

(415) [...] Angesichts der vorgelegten Beweise befindet der GH, dass die Behauptungen des Bf., dass er in Polen angehalten wurde, ausreichend überzeugend sind.

(417) Es ist ohne irgendeinen vernünftigen Zweifel erwiesen, dass [...] der Bf. vom 5.12.2002 bis zum 6.6.2003 in der CIA-Hafteinrichtung [...] in Stare Kiejkuty angehalten wurde; dass er während seiner Anhaltung in Polen unter dem HVD-Programm von der CIA verhört und EITs sowie unerlaubten Verhörtechniken unterworfen wurde [...]; und dass er am 6.6.2003 von der CIA [...] aus Polen weggebracht wurde.

(442) [...] Polen wusste von der Natur und den Zwecken der CIA-Aktivitäten auf seinem Gebiet. Es hat bei der Vorbereitung und Durchführung der CIA-Überstellung, der geheimen Haft und der Verhöre auf folgende Weise kooperiert: indem es der CIA ermöglichte, seinen Luftraum und Flughafen zu nützen; durch seine Beteiligung beim Verbergen der Überstellungsflüge; und durch die Zurverfügungstellung von Logistik und Diensten, darunter spezielle Sicherheitsarrangements, ein spezielles Verfahren für Landungen, den Transport von CIA-Teams mit Häftlingen an Land und die Sicherung des Stützpunktes in Stare Kiejkuty für die geheime Anhaltung der CIA. Angesichts der weit verbreiteten öffentlichen Informationen über Misshandlungen und den Missbrauch von inhaftierten Terrorverdächtigen im Gewahrsam der US-Behörden hätte Polen wissen müssen, dass es dadurch, dass es der CIA ermöglichte, solche Personen auf seinem Gebiet anzuhalten, diese der ernsten Gefahr einer der Konvention zuwiderlaufenden Handlung aussetzte.

Verantwortlichkeit nach der Konvention für die Beteiligung am HVD-Programm

(451) Der GH bemerkt, dass die Rügen des Bf. sich sowohl auf Ereignisse beziehen, die sich auf polnischem Gebiet ereigneten, als auch auf die Folgen seiner Verbringung von Polen an andere geheime Haftorte.

(452) Nach der gefestigten Rechtsprechung des GH muss der belangte Staat unter der Konvention als für Handlungen verantwortlich angesehen werden, die ausländische Beamte auf seinem Gebiet mit der Zustimmung oder stillschweigenden Billigung seiner Behörden vorgenommen haben.

(453) Ebenfalls ergibt sich aus gefestigter Rechtsprechung, dass die Verbringung eines Bf. vom Staatsgebiet eines belangten Staates die Verantwortlichkeit dieses Staates nach der Konvention herbeiführen kann, wenn es direkte Folge dieser Handlung ist, dass ein Einzelner im Zielland einer vorhersehbaren Verletzung seiner Konventionsrechte ausgesetzt wird.

(454) [...] Ist erwiesen, dass ein Staat zur betreffenden Zeit wusste oder hätte wissen müssen, dass eine von seinem Gebiet verbrachte Person einer geheimen Überstellung unterworfen wird (also einer »außergerichtlichen Verbringung von Personen von einer Jurisdiktion oder einem Staat in eine andere/einen anderen zum Zweck der Anhaltung und des Verhörs außerhalb des gewöhnlichen Rechtssystems, wo eine wirkliche Gefahr von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bestand«), ist die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 3 EMRK besonders groß und der Verbringung immanent.

(455) Ein Staat würde zudem eine Verletzung von Art. 5 EMRK begehen, wenn er einen Bf. in einen Staat verbringt oder dies ermöglicht, wo dieser der echten Gefahr eines offenkundigen Verstoßes gegen diese Bestimmung ausgesetzt wäre. Eine solche Gefahr ist einer »extraordinary rendition« wiederum immanent [...].

(456) Ähnliche Grundsätze gelten auch in Fällen, wo es bedeutende Gründe für die Annahme gibt, dass ein Bf. bei Verbringung aus einem Vertragsstaat dem wahren Risiko ausgesetzt wäre, einer offenkundigen Rechtsverweigerung unterworfen zu werden.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(460) Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 3 EMRK unter dem materiellrechtlichen Aspekt, da Polen auf eigenem Staatsgebiet seine Folter und Misshandlung ermöglicht hätte, [...] ebenso wie seine Verbringung aus Polen – dies trotz der Gefahr, dass er in CIA-Gewahrsam einer weiteren, Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt würde. Er rügt auch eine Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts von Art. 3 EMRK, weil Polen seine mutmaßliche Misshandlung während seiner Anhaltung in einer von der CIA betriebenen Hafteinrichtung in Kiejkuty nicht wirksam und gründlich untersucht hätte.

Verfahrensrechtlicher Aspekt von Art. 3 EMRK

(484) [...] Dieser Teil der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(487) Der GH hat bereits festgestellt, dass er angesichts des ungerechtfertigten Versäumnisses der Regierung, die nötigen Informationen betreffend die Untersuchung im vorliegenden Fall vorzulegen, berechtigt ist, Schlüsse aus ihrem Verhalten im Hinblick auf die Wohlbegründetheit der Behauptungen des Bf. zu ziehen.

(488) [...] Die polnischen Behörden eröffneten am 11.2.2008 eine Untersuchung wegen der angeblichen Existenz einer geheimen Hafteinrichtung der CIA in Polen. Seither – und damit für sechs Jahre und vier Monate bis zum Erlass dieses Urteils – ist diese Untersuchung immer noch anhängig, scheinbar immer noch gegen unbekannte Personen. Jedenfalls erfolgte keine Bestätigung aus offizieller Quelle, dass gegen irgendjemanden strafrechtliche Anklage erhoben worden wäre.

(489) Das Verfahren begann erst sechs Jahre nach der Haft und Misshandlung des Bf., unabhängig von dem Umstand, dass die Behörden notwendigerweise bereits in einem früheren, vorbereitenden Stadium der Umsetzung des HVD-Programms in Polen beteiligt gewesen sein müssen und dass sie von der Natur und dem Zweck der Handlungen der CIA auf ihrem Staatsgebiet zwischen Dezember 2002 und September 2003 wussten. Sie unternahmen zu dieser Zeit jedoch nichts, um diese Aktivitäten zu verhindern, geschweige denn zu untersuchen, ob diese mit dem nationalen Recht und Polens internationalen Verpflichtungen vereinbar waren.

(490) Nach Ansicht des GH kann dieses Versäumnis einer Untersuchung von Seiten der polnischen Behörden – dies ungeachtet der Fülle an öffentlich zugänglichen Informationen über weit verbreitete Misshandlungen von Al Kaida-Häftlingen in US-Gewahrsam, die bereits 2002/2003 auftauchten – nur auf eine nachvollziehbare Weise erklärt werden. Wie von der Serie an folgenden Ereignissen gezeigt wird, sollten die Natur der CIA-Aktivitäten auf polnischem Staatsgebiet und Polens Beteiligung an diesen Aktivitäten ein Geheimnis bleiben, das ausschließlich von den Geheimdiensten der beiden kooperierenden Länder geteilt wurde. [...]

(491) [...] Die polnischen Strafverfolgungsbehörden hätten angesichts der Behauptung von in Polen begangenen, ernstzunehmenden strafrechtlichen Aktivitäten – Behauptungen, die aufgrund des weltweiten Aufsehens nicht unbemerkt geblieben sein konnten – in jedem Fall und spätestens im November/Dezember 2005 unverzüglich eine angemessene Untersuchung in dieser Sache veranlassen müssen. [...]

(492) [...] Polens Leugnung jeder Beteiligung an den CIA-Operationen und das Versäumnis, auf einer internationalen Ebene zu kooperieren, können nicht getrennt von einem offiziell nicht deklarierten, aber tatsächlich wahrnehmbaren fehlenden Willen zur Untersuchung der von ihm geleugneten Behauptungen auf nationaler Ebene gesehen werden. Die Behörden beschlossen, von November/Dezember 2005 bis März 2008 keine weiteren nationalen Ermittlungen durchzuführen. Dies resultierte darin, dass jegliche geeignete Untersuchung für beinahe zweieinhalb Jahre verzögert wurde. Unter Berücksichtigung der außergewöhnlichen Schwere und Plausibilität der Behauptungen, die Verbrechen der Folter und geheimen Haft umfassten, muss eine solche Verzögerung als maßlos angesehen werden. Wie vom Bf. angezeigt, untergrub dies unvermeidlich die Fähigkeit der polnischen Strafverfolgungsbehörden, Beweise sicherzustellen, und damit letztlich auch jene, den relevanten Sachverhalt festzustellen.

(494) [...] Dass die Untersuchung Fragen der nationalen Sicherheit umfassen kann, bedeutet nicht, dass ein Berufen auf Vertraulichkeit oder Geheimhaltung den Ermittlungsbehörden ein völliges Ermessen bei der Verweigerung der Offenlegung von Material gegenüber dem Opfer oder der Öffentlichkeit einräumt. Auch wenn ein starkes öffentliches Interesse besteht, die Vertraulichkeit von Informationsquellen oder Material zu bewahren [...] ist es wesentlich, dass den Parteien im Verfahren so viel Information wie möglich im Hinblick auf Behauptungen und Beweise offengelegt werden muss, ohne der nationalen Sicherheit zu schaden. Wo eine komplette Offenlegung nicht möglich ist, sollten die dadurch entstehenden Probleme derart ausgeglichen werden, dass eine Partei sich wirksam verteidigen kann.

(495) Wo es bei der Untersuchung zudem um Behauptungen von schweren Menschenrechtsverletzungen geht, kommt das Recht auf Wahrheit im Hinblick auf die relevanten Umstände des Falles nicht nur dem Opfer des Verbrechens und dessen Familie zu, sondern auch anderen Opfern ähnlicher Verletzungen und der allgemeinen Öffentlichkeit, die das Recht haben zu erfahren, was passiert ist. [...]

(496) Im vorliegenden Fall wurden gegenüber den Vertretern des Bf. und der allgemeinen Öffentlichkeit nur spärliche und vage Informationen zum [...] Verfahren [...] offengelegt. [...]

(497) Die Wichtigkeit und Schwere der betroffenen Fragen erfordern im vorliegenden Fall eine besonders intensive öffentliche Kontrolle der Untersuchung. [...]

(498) Der gegenständliche Fall weist abgesehen von der Frage einer wirksamen Untersuchung einer behaupteten, Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Misshandlung in diesem Zusammenhang auf das allgemeinere Problem der demokratischen Aufsicht von Geheimdiensten hin. Der Schutz von Menschenrechten, wie sie von der Konvention und vor allem in deren Art. 2 und 3 garantiert werden, verlangt nicht nur eine wirksame Untersuchung von behaupteten Menschenrechtsverstößen, sondern sowohl im Gesetz wie auch in der Praxis ebenso angemessene Schutzvorrichtungen gegen Geheimdienste, welche die Konventionsrechte verletzen, vor allem bei ihren verdeckten Operationen. Die Umstände des vorliegenden Falls mögen Bedenken aufwerfen, ob das polnische Rechtssystem diese Erfordernisse erfüllt.

(499) Unter Berücksichtigung aller obigen Elemente verabsäumte es das gerügte Verfahren, den Erfordernissen nach Art. 3 EMRK im Hinblick auf eine rasche, gründliche und wirksame Untersuchung zu genügen. Der GH weist daher die Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des Instanzenzugs [...] zurück und stellt eine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem verfahrensrechtlichen Aspekt fest (einstimmig).

Materiellrechtlicher Aspekt von Art. 3 EMRK

(506) Dieser Teil der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Behandlung, welcher der Bf. unterworfen wurde

(511) Im Lichte der von der CIA freigegebenen Dokumente und dem eigenen Bericht des Bf. gegenüber dem IKRK hat der GH bereits festgestellt, dass der Bf. im Dezember 2002 und Januar 2003 [...] von der CIA verhört und so genannten EITs und unerlaubten Verhörmethoden unterworfen wurde. [...]

(514) Der GH kann nicht spekulieren, wann, wie und in welcher Kombination die einzelnen »autorisierten« oder »erlaubten« Verhörmethoden zwischen 5.12.2002 und 6.6.2003 auf den Bf. angewendet wurden. Die Vorhersagbarkeit der CIA-Standardverfahren und -behandlungen, die auf ihre Häftlinge angewendet wurden, gibt jedoch ausreichend Grund zur Annahme, dass diese Maßnahmen gegenüber dem Bf. während seiner Haft in Polen und nach seiner Verbringung aus Polen desgleichen anderswo als integraler Bestandteil des HVD-Programms verwendet worden sein könnten.

(515) [...] Die Behandlung des Bf. ist [...] als »vorsätzliche unmenschliche Behandlung, die sehr schweres und grausames Leid verursacht« zu charakterisieren. Alle Maßnahmen wurden geplant und organisiert und auf der Basis eines formalisierten Verfahrens angewendet, das eine »große Bandbreite von rechtlich sanktionierten Techniken« bot und speziell ausgestaltet war, um von gefangenen Terrorverdächtigen Informationen oder Geständnisse zu entlocken oder Geheiminformationen von ihnen zu erhalten. Die – explizit deklarierten – Ziele waren vor allem, »den Häftling psychisch zu beeinträchtigen, sein Gefühl von Verwundbarkeit und Hilflosigkeit zu maximieren und seinen Widerstandsgeist ... gegenüber Bemühungen, entscheidende geheime Informationen zu erhalten, zu reduzieren oder zu eliminieren«; »HVDs zu überzeugen, Informationen über Bedrohungen und geheime terroristische Informationen rasch zu liefern«; [...] und »auf umfassende, systematische und kumulative Weise sowohl physischen als auch psychischen Druck zu verwenden, um das Verhalten zu beeinflussen und den Widerstand zu überwinden.«

(516) Die Behandlung, welcher der Bf. von der CIA zur betreffenden Zeit während seiner Anhaltung in Polen unterworfen wurde, stellte Folter iSd. Art. 3 EMRK dar.

(517) [...] Es trifft zu, dass [...] die Verhöre und die dem Bf. in dem Geheimgefängnis von Stare Kiejkuty zugefügte Folter in der alleinigen Verantwortung der CIA lagen und dass es unwahrscheinlich ist, dass die polnischen Offiziellen genau wussten, was in der Einrichtung geschah oder Zeugen davon wurden. Polen war jedoch nach Art. 1 iVm. Art. 3 EMRK verpflichtet, Maßnahmen zu setzen um sicherzustellen, dass Personen innerhalb seiner Jurisdiktion nicht Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen wurden, worunter auch die Misshandlung durch Private fällt. Trotz dieser Verpflichtung erleichterte Polen de facto den gesamten Vorgang, schuf die Bedingungen, damit es geschehen konnte und machte keinen Versuch, es zu verhindern. Wie der GH bereits oben festgestellt hat, mussten die Behörden sich aufgrund ihres eigenen Wissens von den Aktivitäten der CIA wegen der Beteiligung Polens am HVD-Programm und der öffentlich zugänglichen Informationen im Hinblick auf die Behandlung von Terrorverdächtigen im US-Gewahrsam im Rahmen des »war on terror« [...] bewusst sein, dass die ernste Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung auf polnischem Staatsgebiet bestand. Daher muss Polen angesichts seiner »Zustimmung« zum oder »stillschweigenden Billigung« des HVD-Programms als für die Verletzung der Rechte des Bf. auf seinem Territorium unter Art. 3 EMRK verantwortlich angesehen werden.

(518) Weiters war sich Polen bewusst, dass die Verbringung des Bf. auf sein Territorium und zurück im Rahmen einer geheimen Überstellung [...] erfolgte. Unter diesen Umständen war die Möglichkeit einer Verletzung von Art. 3 EMRK besonders groß und hätte als der Verbringung immanent angesehen werden müssen. Daher setzten die polnischen Behörden den Bf., indem sie es der CIA ermöglichten, ihn an ihre anderen geheimen Hafteinrichtungen zu überstellen, einer vorhersehbaren und ernsten Gefahr weiterer Misshandlungen und Haftbedingungen in Verletzung von Art. 3 EMRK aus.

(519) Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem materiellrechtlichen Aspekt (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

(520) Der Bf. rügt, dass Polen es der CIA vom 5.12.2002 bis zum 6.6.2003 ermöglicht hätte, ihn auf eigenem Staatsgebiet in geheimer Haft anzuhalten, die außerhalb jeden rechtlichen Verfahrens verhängt und durchgeführt worden sei. Zudem hätte es Polen der CIA ermöglicht, ihn an andere geheime CIA-Hafteinrichtungen woanders zu überstellen und ihn dadurch der echten und ernsten Gefahr weiterer geheimer Haft ausgesetzt.

(526) Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(530) Die geheime Anhaltung von Terrorverdächtigen war ein grundlegendes Merkmal des CIA-Überstellungsprogramms. Wie aus den offengelegten CIA-Dokumenten hervorgeht, war die Ratio hinter dem Programm vor allem, diesen Personen jeden rechtlichen Schutz gegen Folter und Verschwindenlassen zu nehmen und ihnen die von der US-Verfassung und dem Völkerrecht gewährten Schutzmechanismen gegen willkürliche Anhaltung zu nehmen – wie das Recht, einem Richter vorgeführt zu werden und binnen einer angemessenen Zeit eine Verhandlung zu bekommen, oder die Garantien des habeas corpus. Daher musste das ganze Programm außerhalb der Jurisdiktion von US-Gerichten und unter Bedingungen ablaufen, die seine absolute Geheimhaltung sicherstellten, was die Einrichtung von Hafteinrichtungen in Übersee in Kooperation mit den Gaststaaten erforderte. Die Überstellungsoperationen hingen daher stark von einer Kooperation und aktiven Beteiligung der betreffenden Länder ab, die den USA ihren Luftraum, ihre Flughäfen für das Einfliegen von CIA-Häftlingen, und zudem auch Örtlichkeiten zur Verfügung stellten, wo die Häftlinge sicher angehalten und verhört werden konnten. [...] Die verschiedenen Formen der Unterstützung durch die lokalen Behörden wie etwa die Anpassung der Örtlichkeiten an die Bedürfnisse der CIA, die Gewährleistung von Sicherheit und die Verfügbarmachung der Logistik waren notwendige Bedingung für den wirksamen Betrieb der geheimen CIA-Hafteinrichtungen.

(531) Der GH hat in Bezug auf die Rüge des Bf. unter dem materiellen Aspekt von Art. 3 EMRK bereits festgetellt, dass Polen sich bewusst war, dass der Bf. durch eine geheime Überstellung von seinem Staatsgebiet verbracht wurde und dass die polnischen Behörden dadurch, dass sie der CIA ermöglichten, den Bf. an deren anderen geheimen Hafteinrichtungen zu verbringen, diesen einer vorhersehbaren und ernsten Gefahr weiterer Misshandlungen und Hafbedingungen in Verletzung von Art. 3 EMRK aussetzten. Diese Schlussfolgerung ist im Rahmen der Rüge des Bf. unter Art. 5 EMRK gleichermaßen gültig. Polens Verantwortlichkeit ist sowohl hinsichtlich der Haft des Bf. auf seinem Staatsgebiet als auch hinsichtlich dessen Transfer aus Polen gegeben.

(532) Verletzung von Art. 5 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(533) Der Bf. rügt zudem, dass Polen Art. 8 EMRK verletzt hätte, indem es der CIA ermöglichte, ihn auf seinem Gebiet zu misshandeln und isoliert anzuhalten sowie ihn jeden Kontakts mit seiner Familie zu berauben.

(537) Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(539) Unter Berücksichtigung seiner Schlüsse bezüglich der Verantwortlichkeit des belangten Staates unter den Art. 3 und 5 EMRK befindet der GH, dass die Handlungen und Unterlassungen Polens im Hinblick auf die Haft und Verbringung des Bf. auch einen Eingriff in dessen Rechte nach Art. 8 EMRK darstellten und die Verantwortlichkeit Polens gemäß dieser Bestimmung schlagend werden ließ. Angesichts der Umstände, unter denen dieser Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privat- und Familienlebens erfolgte, war selbiger nicht »gesetzlich vorgesehen« und fehlte es ihm immanent an einer nachvollziehbaren Rechtfertigung gemäß Abs. 2 der genannten Bestimmung.

(540) Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK

(541) Der Bf. rügt, Polen hätte Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK verletzt, da es verabsäumt hätte, eine wirksame, rasche und gründliche Untersuchung seiner Behauptungen ernsthafter Konventionsverletzungen durchzuführen.

(545) Dieser Teil der Beschwerde ist mit jener unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 3 EMRK verbunden, die für zulässig befunden wurde. Er muss daher ebenfalls für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(550) Wie oben festgestellt, ist der belangte Staat für Verletzungen der Rechte des Bf. unter Art. 3, Art. 5 und Art. 8 EMRK verantwortlich. Es gibt daher keinen Zweifel, dass dessen Beschwerden »vertretbar« iSv. Art. 13 EMRK sind und ihm somit wirksame praktikable Rechtsbehelfe zur Verfügung hätten stehen müssen, die geeignet waren, zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen und zur Zuerkennung einer Entschädigung zu führen [...]. Aus den oben im Detail dargelegten Gründen hat der GH festgestellt, dass die strafrechtliche Untersuchung in Polen nicht den Standards einer von Art. 13 EMRK geforderten »wirksamen Untersuchung« genügte.

(551) Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(552) Der Bf. rügt, dass Polen – indem es der CIA ermöglichte, den Bf. von seinem Staatsgebiet zu verbringen – diesen einer echten und ernsten Gefahr ausgesetzt hätte, unter eine Jurisdiktion verbracht zu werden, wo er einem offenkundig unfairen Verfahren unterworfen würde.

(561) Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(565) [...] Angesichts der obigen Feststellungen – insbesondere zu Art. 3 EMRK – bleiben wenig Zweifel, dass ein großer Teil der wichtigen oder gar entscheidenden Beweise gegen den Bf. notwendigerweise auf seinen selbstbelastenden Aussagen bzw. auf den Zeugenaussagen anderer Terrorverdächtiger basierten, die durch Folter oder Misshandlungen erlangt worden waren.

(566) [...] Die Militärkommissionen, vor denen Terrorverdächtige wie der Bf. angeklagt wurden, waren speziell eingerichtet, um »bestimmte Nichtstaatsbürger im Kampf gegen den Terrorismus« außerhalb des amerikanischen Justizsystems vor Gericht zu stellen. Sie setzten sich ausschließlich aus Offizieren der US-Streitkräfte zusammen. Das Berufungsverfahren wurde von einem Ausschuss geführt, der auf gleiche Weise besetzt war. Die VerfO schloss keine Beweise aus, auch nicht solche, die durch Folter erlangt worden waren, solange sie »für eine vernünftige Person Beweiswert haben würden«. [...]

(567) In Anbetracht der Umstände, (1) dass die Militärkommission die Garantien der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit von der Exekutive nicht erfüllte, so wie es von einem »Tribunal« nach der Rechtsprechung des GH verlangt wird; (2) dass sie nach US-Recht und internationalem Recht nicht legitimiert war [...] und daher nicht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK »auf Gesetz beruhte«; und (3) dass es in Verfahren gegen Terrorverdächtige eine ausreichend hohe Wahrscheinlichkeit der Zulassung von durch Folter erlangten Beweisen gab, kommt der GH zum Schluss, dass zur Zeit der Verbringung des Bf. aus Polen ein echtes Risiko bestand, dass sein Verfahren vor der Militärkommission zu einer offenkundigen Rechtsverweigerung führen würde.

(568) Zu dieser Zeit war es vor dem Hintergrund öffentlich verfügbarer Informationen offensichtlich, dass jeder Terrorverdächtige vor eine Militärkommission gestellt würde. [...] Das Verfahren vor der Kommission warf unter Menschenrechtsorganisationen sowie in den Medien ernste und weltweite Bedenken auf. [...] Die polnischen Behörden mussten ebenso wie jene aller anderen Mitgliedstaaten des Europarats notwendigerweise von den Umständen wissen, die Anlass für diese ernste Besorgnis [...] waren. Daher wurde durch Polens Kooperation und Unterstützung bei der Verbringung des Bf. von seinem Gebiet – trotz eines echten und vorhersehbaren Risikos, dass er einer offenkundigen Rechtsverweigerung ausgesetzt wäre – die Veranwortlichkeit Polens unter Art. 6 Abs. 1 EMRK schlagend.

(569) Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK iVm. Art. 1 6. Prot. EMRK

(570) Der Bf. rügt unter diesen Bestimmungen, dass Polen der CIA wissentlich und absichtlich ermöglicht hätte, ihn von seinem Staatsgebiet zu verbringen, obwohl es bedeutende Gründe dafür gegeben hätte anzunehmen, dass ein echtes und ernstes Risiko bestehe, dass er der Todesstrafe unterworfen würde.

(575) Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

(578) Zur Zeit der Verbringung des Bf. aus Polen bestand eine bedeutende und vorhersehbare Gefahr, dass gegen ihn nach seinem Verfahren vor der Militärkommission die Todesstrafe verhängt werden könnte. Angesichts des Umstands, dass der Bf. am 20.4.2011 wegen Kapitalverbrechen angeklagt wurde, hat sich diese Gefahr nicht verringert. Angesichts seiner Schlussfolgerungen [...] unter Art. 6 Abs. 1 EMRK befindet der GH, dass die Handlungen und Unterlassungen Polens desgleichen dessen Verantwortlichkeit unter Art. 2 iVm. Art. 1 6. Prot. EMRK und unter Art. 3 EMRK schlagend werden ließen.

(579) Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK iVm. Art. 1 6. Prot. EMRK (einstimmig).

Sonstige behauptete Verletzungen der Konvention

(580) Der Bf. rügte auch eine Verletzung von Art. 10 EMRK, da Polen durch die Weigerung, seine geheime Anhaltung, Misshandlung und Überstellung anzuerkennen, offenzulegen sowie rasch und wirksam zu untersuchen, sein und das Recht der Öffentlichkeit auf Wahrheit gemäß Art. 2, 3, 5 und 10 EMRK verletzt hätte. [...]

(582) [...] Diese Beschwerde ist offensichtlich unbegründet und daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Anwendung von Art. 46 EMRK

(589) [...] Auch wenn das Verfahren gegen den Bf. vor der Militärkommission noch anhängig und dessen Ausgang ungewiss ist, bleibt das Risiko bestehen, dass gegen ihn die Todesstrafe verhängt wird. Nach Ansicht des GH verlangt die Erfüllung der Verpflichtungen aus Art. 2 und Art. 3 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK von der Regierung, dass sie anstrebt, diese Gefahr so bald wie möglich zu beseitigen, indem sie sich um Zusicherungen von Seiten der US-Behörden bemüht, dass er nicht der Todesstrafe unterworfen wird.

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 100.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Anmerkung

Siehe auch das Urteil Husayn (Abu Zubaydah)/PL (7.511/13), wo der GH in einem Parallelfall die gleichen Verletzungen feststellte, mit Ausnahme von jener unter Art. 2 und Art. 3 EMRK iVm. Art. 1 6. Prot. EMRK.

Vom GH zitierte Judikatur:

Shamayev u.a./GE und RUS v. 12.4.2005

A. u.a./GB v. 12.2.2009 (GK)

Al-Saadoon und Mufdhi/GB v. 2.3.2010 = NL 2010, 84

Othman (Abu Qatada)/GB v. 17.1.2010 = NL 2012, 15

El-Masri/MK v. 13.12.2012 (GK) = NL 2012, 405

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.7.2014, Bsw. 28761/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 288) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_4/Al Nashiri.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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