JudikaturJustizBsw23887/16

Bsw23887/16 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
09. April 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache I. M. gg. die Schweiz, Urteil vom 9.4.2019, Bsw. 23887/16.

Spruch

Art. 8 EMRK - Ausweisung eines Kosovaren in seine Heimat ohne sorgfältige Interessenabwägung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den GH stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar; € 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Der Bf. ist Kosovare und lebt seit 1993 in der Schweiz. Der von ihm 1993 gestellte Asylantrag wurde abgewiesen, eine vorläufige Aufnahme allerdings genehmigt. 1998 zogen die Ex-Frau des Bf. sowie die drei gemeinsamen Kinder aus dem Kosovo in die Schweiz nach, wo ihnen Asyl gewährt wurde. 1999 heiratete der Bf. eine Schweizer Staatsbürgerin und erhielt infolgedessen eine Aufenthaltsbewilligung. Das Paar wurde 2006 geschieden.

Am 3.12.2003 verurteilte das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt den Bf. wegen sexueller Nötigung, Vergewaltigung und sexueller Belästigung zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Diese Strafe wurde vom Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, das lediglich den Tatvorwurf der Vergewaltigung bejahte, auf zwei Jahre und drei Monate reduziert. Das Bundesgericht wies die vom Bf. dagegen erhobene Beschwerde am 18.4.2006 ab.

Am 24.8.2006 lehnte das Amt für Migration des Kantons Basel-Landschaft den Antrag des Bf. auf Verlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung ab. Das Staatssekretariat für Migration ordnete am 22.1.2010 die Wegweisung des Bf aus dem gesamten Schweizer Staatsgebiet an. Am 28.10.2015 wies das Bundesverwaltungsgericht die Berufung des Bf. betreffend die Erweiterung der Wegweisungsmaßnahme auf das gesamte St

aatsgebiet der Schweiz ab.

Am 1.7.2013 wurde beim Bf. rückwirkend zum 1.10.2012 eine Invalidität von 80?% festgestellt. Seine Invaliditätspension wurde im Februar 2016 sistiert, seither wird er von seinen Kindern, bei denen er auch lebt, finanziell unterstützt. Die Ex-Frau des Bf. wohnt ebenfalls in derselben Wohnanlage.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte insbesondere eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) aufgrund der Entscheidung der Schweizer Behörden, ihn in den Kosovo auszuweisen.

?

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Zulässigkeit

(50) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde […] nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(59) Der GH weist darauf hin, dass die Erweiterung der Wegweisungsmaßnahme auf das ganze Gebiet der Schweiz den im vorliegenden Fall in Frage stehenden Eingriff begründet.

(60) Der GH geht davon aus, dass aufgrund des langfristigen Aufenthalts des Bf. in der Schweiz der Wegweisungsentscheid einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens darstellt.

(61) Es stellt sich darüber hinaus die Frage […], ob das Familienleben des Bf. im vorliegenden Fall ebenfalls betroffen ist. Der GH erinnert daran, dass er, um die Einhaltung des Art. 8 EMRK beurteilen zu können, die seit dem […] Wegweisungsentscheid […] erfolgten Entwicklungen berücksichtigen muss. […]

(62) […] Die volljährigen Kinder des Bf. sind 23, 26, bzw. 28 Jahre alt. Der GH erinnert daran, dass für das Bestehen eines Familienlebens iSd. Art. 8 EMRK zwischen Eltern und deren erwachsenen Kindern oder zwischen erwachsenen Geschwistern zusätzliche Elemente einer Abhängigkeit ersichtlich sein müssen. Der GH geht allerdings davon aus, dass sich der Bf. auf die zusätzlichen, seine volljährigen Kinder betreffenden Umstände insofern berufen kann, als er auf fremde Hilfe angewiesen ist, um sein tägliches Leben bewältigen zu können. [...] Der Bf. bringt vor, dass seine drei volljährigen Kinder seit der Sistierung seiner Invaliditätspension im Februar 2016 die finanzielle Verantwortung für ihn tragen würden. Darüber hinaus wohne er bei zwei seiner volljährigen Kinder, die sich um den Haushalt und die Einkäufe kümmern, ihn pflegen, waschen und anziehen würden und daher seine nächsten Bezugspersonen seien. Für den GH besteht kein stichhaltiger Grund, die Richtigkeit dieser Angaben zu bezweifeln […]. Weiters haben die Schweizer Gerichte im Rahmen ihrer Beurteilung betreffend die Möglichkeit einer Wegweisung die Tatsache berücksichtigt, dass sich seine Familienmitglieder an der Tragung der medizinischen Kosten beteiligen könnten. Der Umstand, dass ihm diese […] finanzielle Unterstützung von seiner in der Schweiz und in Deutschland lebenden Familie in den Kosovo überwiesen werden könnte, stellt das Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses, das für die Eröffnung des Familienlebens iSd. Art. 8 EMRK relevant ist, nicht in Frage. Der GH geht aus diesem Grund davon aus, dass die Beziehungen des Bf. zu seinen Kindern ebenfalls unter das Recht auf Achtung des Familienlebens fallen.

(63) In Anbetracht der voranstehenden Ausführungen kann sich der Bf. darauf berufen, dass in seinem Fall ein Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens iSd. Art 8 Abs. 1 EMRK erfolgt ist.

(64) Dieser Eingriff verstößt gegen die EMRK, wenn er nicht die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfüllt. Es bleibt daher zu prüfen, ob er »gesetzlich vorgesehen«, durch die Verfolgung eines oder mehrerer legitimer Ziele […] gerechtfertigt und »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

(65) Es wird nicht bestritten, dass die Verweigerung der Erneuerung der Aufenthaltsbewilligung des Bf. und die Ausreiseverpflichtung aus der Schweiz auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmungen des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) ergingen.

(66) Es ist ebenfalls nicht umstritten, dass der vorliegende Eingriff mit der EMRK völlig im Einklang stehende Ziele verfolgte, und zwar insbesondere »die Aufrechterhaltung der Ordnung« und »die Verhütung von Straftaten«.

(67) Es bleibt festzustellen, ob die Maßnahme »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

[Der GH legt der Prüfung die im Fall Üner/NL herausgearbeiteten Kriterien zugrunde.]

(74) Im vorliegenden Fall erging der Ausweisungsentscheid des Bf. in der Folge der Verurteilung wegen einer im Jahr 2003 begangenen Vergewaltigung.

(75) In seiner Entscheidung vom 28.10.2015 hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass, obwohl sich der Vorfall vor mehr als zehn Jahren ereignet hatte, die Vergewaltigung ein schweres Verbrechen darstelle, im Hinblick auf das ein auch nur geringes Wiederholungsrisiko im Rahmen der ausländerrechtlichen Regelungen nicht akzeptiert werden dürfe. Es wies darauf hin, dass im Rahmen der Interessenabwägung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK unter mehreren möglichen Auslegungen auf jene abzustellen sei, die der Schweizer Verfassung am ehesten entspricht, sofern sie übergeordnetem Recht nicht widerspreche und auch nicht in Konflikt mit dem den Vertragsstaaten vom GH eingeräumten Spielraum hinsichtlich der Durchsetzung der Migrationspolitik stehe. Das Bundesverwaltungsgericht hat hinzugefügt, dass die Ausschlussklausel des Art. 14a Abs. 6 ANAG anzuwenden wäre und sich dessen Anwendung selbst unter Berücksichtigung der nicht unwesentlichen Schwierigkeiten, die der Bf. im Zuge seiner Rückkehr in sein Herkunftsland zu bewältigen hätte, als verhältnismäßig erweisen würde.

(76) Der GH stellt fest, dass das Bundesverwaltungsgericht zur Schwere des Verbrechens Stellung genommen hat, kurz auf die Frage der Wiederholungsgefahr eingegangen ist und auch auf die Schwierigkeiten verwiesen hat, denen der Bf. im Rahmen seiner Rückkehr in den Kosovo ausgesetzt wäre. Der GH hebt allerdings hervor, dass das Gericht seine Prüfung im Rahmen des Art. 8 EMRK ausschließlich auf diese Elemente beschränkte. Obwohl es mehr als zwölf Jahre nach dem Delikt entschied, nahm es keinerlei Rücksicht auf die Entwicklung des Verhaltens des Bf. seit der Begehung der Tat. Es hat darüber hinaus auch nicht die Auswirkungen der Verschlechterung des Gesundheitszustandes (Invaliditätsgrad von 80?% seit 1.10.2012) auf die Wiederholungsgefahr abgewogen und nicht auf die verschiedenen sich aus der Rechtsprechung ergebenden Beurteilungskriterien Bezug genommen, um die Notwendigkeit der Ausweisungsmaßnahme abzuschätzen. Somit hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen des Bf. zur […] Schweiz und zum […] Kosovo sowie die Umstände des konkreten Falles, wie zum Beispiel die medizinischen Gegebenheiten, nicht berücksichtigt. Speziell im Hinblick auf die Achtung des Familienlebens haben die Gerichte, obwohl sie die zumindest finanzielle Abhängigkeit des Bf. von seinen volljährigen Kindern anerkannt haben, keine sorgfältigere Prüfung der Implikationen dieser Abhängigkeit für die Wahrnehmung seiner Rechte gemäß Art. 8 EMRK vorgenommen.

(77) Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen geht der GH davon aus, dass unter Anwendung der im Rahmen seiner Rechtsprechung erstellten Kriterien keine klare Schlussfolgerung darüber möglich ist, ob die privaten und familiären Interessen des Bf., weiterhin im Hoheitsgebiet des belangten Staates wohnen zu können, das öffentliche Interesse des Letzteren daran, den Bf. auszuweisen, um seiner Aufgabe zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nachzukommen, überwiegen. Wenn die innerstaatlichen Behörden eine den Umständen entsprechende Abwägung der vorliegenden Interessen vorgenommen, die verschiedenen, sich aus der Rechtsprechung des GH ergebenden Kriterien berücksichtigt und für ihre Entscheidung stichhaltige und hinreichende Beweggründe angegeben hätten, hätte der GH im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip gegebenenfalls dazu veranlasst werden können, in Betracht zu ziehen, dass es die innerstaatlichen Behörden nicht verabsäumten, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Bf. und jenen des betreffenden Staates herzustellen und den ihnen im Bereich der Immigration eingeräumten Ermessensspielraum einzuhalten.

(78) Der GH führt allerdings aus, dass das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall eine oberflächliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Wegweisungsmaßnahme durchgeführt hat. In Anbetracht einer fehlenden tatsächlichen Interessenabwägung […] geht der GH davon aus, dass es den innerstaatlichen Behörden nicht gelungen ist, in überzeugender Weise darzulegen, dass die getroffene Abschiebemaßnahme verhältnismäßig zu den verfolgten legitimen Zielen und daher in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

(79) Somit würde es im Fall einer Ausweisung des Bf. zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK kommen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Keller).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(81) Im Hinblick auf die Schlussfolgerungen in Rn. 79 und weil die Beschwerde im Wesentlichen die gleichen Fragen wie unter Art. 8 EMRK aufwirft, erachtet der GH eine gesonderte Prüfung für nicht erforderlich (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den GH stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar; € 4.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Slivenko/LV v. 9.10.2003 (GK) = NL 2003, 263 = EuGRZ 2006, 560

Üner/NL v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 251

Maslov/A v. 23.6.2008 (GK) = NL 2008, 157 = ÖJZ 2008, 779

Shala/CH v. 15.11.2012 = NLMR 2012, 379

K. M./CH v. 2.6.2015 = NLMR 2015, 225

El Ghatet/CH v. 8.11.2016 = NLMR 2016, 528

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 09.4.2019, Bsw. 23887/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 151) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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