JudikaturJustizBsw47708/08

Bsw47708/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. November 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Jaloud gg. die Niederlande, Urteil vom 20.11.2014, Bsw. 47708/08.

Spruch

Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK - Hoheitsgewalt niederländischer Soldaten im Irak.

Feststellung, dass der Bf. unter die Hoheitsgewalt des belangten Staates fällt (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich seines prozeduralen Aspekts (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 25.000,– für immateriellen Schaden, € 1.372,06– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist der Vater von Azhar Sabah Jaloud, der am 21.4.2004 im Irak ums Leben kam.

Allgemeiner Hintergrund

Niederländische Truppen beteiligten sich von Juli 2003 bis März 2005 an der Internationalen Stabilisierungstruppe im Irak (International Stabilization Force in Iraq – SFIR). Sie waren Teil der Multinationalen Division Süd-Ost, die unter dem Kommando eines Offiziers der britischen Armee stand. Die Niederlande behielten jedoch die volle Befehlsgewalt über ihre Soldaten. Der niederländische Einsatz war in einem Memorandum of Understanding zwischen den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich geregelt, dem auch Einsatzregeln (Rules of Engagement) für die Soldaten angefügt waren.

Auch eine Einheit der niederländischen Militärpolizei (Koninklijke Marechaussee) war im Irak im Einsatz. Sie hatte ihre eigene Befehlskette und unterstand der Militärstaatsanwaltschaft des Bezirksgerichts Arnheim. Ihre Mitglieder teilten sich die Quartiere mit den Soldaten der anderen Einheiten.

Die Umstände des vorliegenden Falls

Am 21.4.2004 näherte sich um 2:12 Uhr ein unbekanntes Fahrzeug dem Checkpoint »B-13« nördlich der Stadt Ar Rumaytah im Südosten des Irak. Aus dem Inneren des PKW wurden Schüsse auf die Wachmannschaft des Kontrollpunkts abgefeuert, die aus Mitgliedern der ICDC bestand. Danach kehrte das Auto um und verschwand. Niemand war getroffen worden. Gegen 2:30 Uhr erreichte eine vom ICDC alarmierte niederländische Patrouille, die von Leutnant A. angeführt wurde, den Ort des Geschehens. Circa 15 Minuten später fuhr ein Mercedes mit hoher Geschwindigkeit auf den Kontrollpunkt zu. Nachdem es einige der auf der Fahrbahn platzierten Fässer gerammt hatte, aber trotzdem weiterfuhr, wurden Schüsse auf das Auto abgefeuert. Leutnant A. feuerte 28 Schüsse aus seinem Diemaco-Sturmgewehr ab, weitere Schüsse wurden wahrscheinlich von den mit Kalaschnikov-Gewehren ausgestatteten Mitgliedern der ICDC abgegeben. Der Sohn des Bf. befand sich am Beifahrersitz des PKW. Er wurde von mehreren Schüssen getroffen. Niederländische Soldaten hoben ihn aus dem Auto und leisteten erste Hilfe, doch Azhar Sahab Jaloud verstarb kurz darauf.

Gegen 4:50 Uhr traf ein Team der niederländischen Militärpolizei am Schauplatz ein und begann, Beweise zu sichern. Der Mercedes sowie die Waffen von Leutnant A. und dem irakischen Kommandanten des Kontrollpunkts wurden sichergestellt. Der Leichnam wurde in das Allgemeine Krankenhaus in As-Samawah gebracht, wo von einem irakischen Arzt eine Autopsie vorgenommen wurde. Röntgenaufnahmen zeigten mehrere Metallfragmente in seinem Körper.

Noch am selben Tag wurden die Beteiligten von der Militärpolizei einvernommen. Der Fahrer des Mercedes sagte aus, den Checkpoint nicht als solchen erkannt zu haben. Leutnant A. gab an, gerade die Straße vor dem Kontrollpunkt nach Patronenhülsen abgesucht zu haben, als sich der PKW näherte. Es wären Schüsse aus der Richtung des Autos abgegeben worden, weshalb er neben der Straße in Deckung gegangen sei. Er sei überzeugt gewesen, dass aus dem Auto geschossen wurde. Als das Fahrzeug an ihm vorbeifuhr, habe er 28 gezielte Schüsse auf das Heck abgegeben. Die irakische Wachmannschaft wurde ebenfalls einvernommen. Die Aufzeichnungen dieser Einvernahmen wurden dem GH erst nach der Abgabe des Falls an die GK vorgelegt. Die Untersuchung des Mercedes ergab, dass mit zumindest zwei Waffen unterschiedlichen Kalibers von rechts und von links auf das Auto geschossen worden war.

Die Anwältin des Bf. ersuchte im Jänner 2007 die Militärstaatsanwaltschaft am BG Arnheim um Auskunft über den Stand des Verfahrens betreffend den Tod des Sohnes des Bf. Der Staatsanwalt teilte ihr mit, dass das Verfahren im Juni 2004 eingestellt worden war. Herr Jaloud sei vermutlich von einer irakischen Kugel getroffen worden. Leutnant A., der ebenfalls auf das Auto geschossen hatte, könne sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung berufen. Daher wären keine niederländischen Soldaten als Verdächtige bestimmt worden.

Daraufhin beantragte der Bf. die Strafverfolgung von Leutnant A. Die Militärkammer des Berufungsgerichts Arnheim lehnte es jedoch ab, eine solche Anordnung zu erlassen. Nach den Instruktionen der SFIR wäre der Schusswaffengebrauch zulässig, wenn er in Selbstverteidigung oder zur Verteidigung der Kameraden notwendig ist. Leutnant A. habe angenommen, dass aus dem Auto Schüsse abgefeuert worden seien. Da diese Annahme nachvollziehbar gewesen wäre, habe er innerhalb der Grenzen des zulässigen Waffengebrauchs gehandelt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung des prozeduralen Aspekts von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben). Er bringt vor, die Untersuchung sei nicht ausreichend unabhängig und die Ermittlungen seien nicht effektiv gewesen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK

Zulässigkeit

(109) Die Regierung bestreitet die Zulässigkeit der Beschwerde, weil Herr Azhar Sabah Jaloud nicht in die »Hoheitsgewalt« des belangten Staates iSv. Art. 1 EMRK gefallen sei.

(110) Der GH verbindet die Behandlung dieser Einrede mit der Prüfung der Beschwerde in der Sache.

(111) [...] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet. Kein anderer Unzulässigkeitsgrund wurde festgestellt. Ohne seiner Entscheidung über die Einrede der Regierung vorzugreifen [...] erklärt der GH die Beschwerde für zulässig (einstimmig).

Hoheitsgewalt

Anwendbare Grundsätze

(139) Während die Hoheitsgewalt eines Staates in erster Linie territorial bestimmt ist, kann sie manchmal außerhalb des Territoriums ausgeübt werden. Der GH erinnert daran, dass er in Al-Skeini/GB die Grundsätze der Ausübung von Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK außerhalb des Territoriums einer Vertragspartei folgendermaßen zusammengefasst hat: [...]

Ein Staat kann extraterritoriale Hoheitsgewalt ausüben, indem er nach Zustimmung, Aufforderung oder Einwilligung der Regierung eines Gebiets alle oder einige der öffentlichen Gewalten ausübt, die normalerweise von der Regierung ausgeübt werden. [...] Daneben kann unter bestimmten Umständen die Anwendung von Gewalt durch staatliche Organe, die außerhalb seines Territoriums operieren, ein Individuum, das dadurch unter deren Kontrolle gebracht wird, der Hoheitsgewalt des Staates unterwerfen. [...] Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der territorialen Beschränkung der Hoheitsgewalt liegt vor, wenn ein Staat in Folge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger militärischer Handlungen effektive Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Territoriums ausübt. [...]

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

(140) Der belangte Staat stützt sich hauptsächlich auf das Argument, den Niederlanden könnten die Ereignisse nicht vorgeworfen werden, weil die Autorität nicht bei ihnen gelegen sei, sondern entweder bei den USA und dem Vereinigten Königreich gemeinsam, die durch die Resolution des Sicherheitsrats 1483 (2003) als Besatzungsmächte bestimmt waren, oder beim Vereinigten Königreich alleine, das die führende Nation im Südosten des Irak war und das Kommando auch über das niederländische Truppenkontingent hatte.

(142) Der GH wendet sich zunächst dem völkerrechtlichen Hintergrund zu und verweist darauf, dass der Status als Besatzungsmacht iSv. Art. 42 Haager Landkriegsordnung – oder sein Fehlen – für sich alleine nicht entscheidend ist. [...]

(143) Die Tatsache, dass eine Entscheidung oder ein Befehl einer Autorität eines fremden Staates vollstreckt wird, reicht für sich nicht aus, um einen Vertragsstaat von seinen Verpflichtungen zu befreien, die er nach der Konvention eingegangen ist. Der belangte Staat hat sich daher seiner »Hoheitsgewalt« iSv. Art. 1 EMRK nicht einfach dadurch entledigt, dass er die Befehlsgewalt des Kommandanten der Multinationalen Division Süd-Ost, eines Offiziers des Vereinigten Königreichs, anerkannte. Die Niederlande behielten das »volle Kommando« über ihr militärisches Personal, wie der Verteidigungsminister gegenüber dem Parlament betonte.

(144) Die Resolution 1483 (2003) des Sicherheitsrats spiegelte die Präsenz von Truppen mehrerer Mitgliedstaaten der UN wider, die unter einer von den USA und dem Vereinigten Königreich gebildeten »Behörde« (der CPA) arbeiteten. Während sie die Souveränität und territoriale Integrität des Irak betonte, forderte die Resolution alle Beteiligten ungeachtet des Status als Besatzungsmacht auf, »ihre Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, insbesondere auch nach den Genfer Abkommen von 1949 und der Haager Landkriegsordnung von 1907, voll einzuhalten.«

(146) Die praktische Ausführung der multinationalen Streitkräfte wurde durch ein Netzwerk von Memoranda of Understanding gestaltet, mit denen die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Truppenkontingenten im Irak bestimmt wurden. Ein Schreiben des Außenministers an das Parlament vom 6.6.2003 betonte, dass die niederländische Regierung das volle Kommando über ihr Kontingent im Irak behielt. Angesichts der Formulierung des Memorandum of Understanding für den zentralen Südirak geht der GH davon aus, dass diese Information auf dem Memorandum of Understanding betreffend die Multinationale Division Süd-Ost beruhte.

(147) Aus dem Memorandum of Understanding für den zentralen Südirak und dem Exzerpt aus dem Memorandum für die Division Süd-Ost, das dem GH vorgelegt wurde, geht hervor, dass die Truppen jener Nationen, die keine »Führungsnationen« waren, ihre täglichen Befehle von ausländischen Kommandanten erhielten, die Formulierung der maßgeblichen Grundsätze – einschließlich der genauen Regelung der Anwendung von Gewalt in Präzisierung der den Memoranda of Understanding angefügten Rules of Engagement – aber dem individuellen entsendenden Staat vorbehalten blieb.

(148) Auf dieser Grundlage wurde von der niederländischen Regierung ein Aide-Mémoire für Kommandanten der SFIR und ein Merkblatt für Soldaten ausgegeben.

(149) Obwohl die niederländischen Truppen in einem Gebiet im Südosten des Irak stationiert waren, wo die SFIR-Truppen unter dem Kommando eines Offiziers aus dem Vereinigten Königreich standen, übernahmen die Niederlande die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Sicherheit in diesem Gebiet unter Ausschluss der anderen beteiligten Staaten und behielten das volle Kommando über ihr dortiges Truppenkontingent.

(150) Es ist auch nicht entscheidend, dass der Checkpoint nominell mit irakischen Mitgliedern der ICDC bemannt war. Nach dem Befehl Nr. 28 der CPA umfassten die Pflichten der ICDC nicht die Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts in Unterordnung unter die irakischen Behörden. Sie war vielmehr Offizieren der Koalitionsarmee unterstellt und wurde von diesen überwacht.

(151) Angesichts dessen kann der GH nicht feststellen, dass die niederländischen Truppen einem anderen Staat – sei es dem Irak, dem Vereinigten Königreich oder einem anderen Staat – zur Verfügung gestellt wurden oder dass sie unter der ausschließlichen Leitung und Kontrolle eines anderen Staates gestanden wären.

(152) Der GH wendet sich nun den Umständen zu, unter denen Azhar Sabah Jaloud zu Tode kam. Er starb, als auf das Fahrzeug, in dem er sich befand, geschossen wurde, während es einen Kontrollpunkt passierte, der mit Personal bemannt war, das unter dem Kommando und der direkten Überwachung eines Offiziers der niederländischen Armee stand. Der Kontrollpunkt war in Umsetzung der Mission der SFIR nach der Sicherheitsratsresolution 1483 (2003) errichtet worden, Bedingungen der Stabilität und Sicherheit wiederherzustellen [...]. Der GH ist der Ansicht, dass die belangte Partei ihre Hoheitsgewalt in den durch ihre SFIR-Mission gezogenen Grenzen und zu dem Zweck ausübte, ihre Autorität und Kontrolle über Personen geltend zu machen, die den Kontrollpunkt passierten. Der Tod von Herrn Azhar Sabah Jaloud ereignete sich demnach innerhalb der »Hoheitsgewalt« der Niederlande, wie dieser Begriff im Sinne von Art. 1 EMRK zu verstehen ist (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richterin Motoc und von Richter Spielmann, gefolgt von Richter Raimondi).

(153) Der GH hat Hoheitsgewalt hinsichtlich der Niederlande festgestellt. Er ist nicht dazu aufgerufen festzustellen, ob das Vereinigte Königreich [...] daneben Hoheitsgewalt ausgeübt haben kann.

Zurechnung

(154) Der GH erinnert daran, dass der Test für die Feststellung des Bestehens von »Hoheitsgewalt« iSv. Art. 1 EMRK nie mit dem Test für die Feststellung der Staatenverantwortlichkeit für einen völkerrechtswidrigen Akt nach dem allgemeinen Völkerrecht gleichgesetzt wurde. Außerdem betonte der GH in Al-Skeini/GB, dass ein Staat, wann immer er durch seine Organe Kontrolle und Autorität und damit Hoheitsgewalt über ein Individuum ausübt, nach Art. 1 EMRK verpflichtet ist, die in der Konvention enthaltenen Rechte und Freiheiten dieses Individuums zu garantieren, die für dessen Situation relevant sind. In diesem Sinn sind daher die Konventionsrechte teilbar.

(155) Die Tatsachen, die Anlass für die Beschwerde gaben, beruhen auf behaupteten Handlungen und Unterlassungen des militärischen Personals sowie der Ermittlungsbehörden und Gerichte der Niederlande. Sie sind daher geeignet, die Verantwortlichkeit der Niederlande unter der Konvention zu begründen.

Zur Verfahrenseinrede der Regierung

(156) Der GH weist die Einrede der Regierung zurück, die er mit der Prüfung in der Sache verbunden hat. [...]

Zur behaupteten Verletzung der Ermittlungspflicht

(157) Der Bf. behauptet, der belangte Staat wäre seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen, den Tod seines Sohnes angemessen zu untersuchen, um die verantwortlichen Personen zur Rechenschaft zu ziehen.

Zur Frage, wer auf das Fahrzeug geschossen hat

(183) Der GH muss sich zunächst mit der Behauptung des Bf. befassen, die verfügbaren Beweise [...] würden zeigen, dass nur Leutnant A. geschossen hätte.

(184) [...] Den Ermittlungen der Militärpolizei zufolge wurde das Auto, in dem Herr Azhar Sabar Jaloud saß, von Kugeln unterschiedlicher Kaliber getroffen. Dies scheint der Verwendung von zumindest zwei verschiedenen Waffen zu entsprechen [...]. Unter diesen Umständen kann die Behauptung des Bf., nur Leutnant A. hätte geschossen, nicht bestätigt werden.

(185) In jedem Fall ist der GH nur dazu aufgerufen zu prüfen, ob die aus Art. 2 EMRK resultierenden Ermittlungspflichten erfüllt wurden. Daher müssen zu diesem Punkt keine Tatsachenfeststellungen getroffen werden.

Unabhängigkeit der Untersuchung

(189) Die Regierung stellte nicht in Abrede, dass die Militärpolizei ihre Unterkünfte mit dem Armeepersonal teilte. Es sind jedoch keine Umstände hervorgekommen, die den GH zu dem Schluss bringen könnten, dass dies für sich die Unabhängigkeit der Militärpolizei in einem Maß beeinflusste, das die Qualität der Ermittlungen beeinträchtigt hätte.

(191) Der Bf. brachte vor, die Staatsanwaltschaft hätte sich übermäßig auf die Berichte der Militärpolizei verlassen. [...]

(192) Staatsanwälte verlassen sich zwangsläufig auf Informationen und die Unterstützung der Polizei. Dies alleine reicht nicht aus um anzunehmen, dass sie nicht ausreichend unabhängig gegenüber der Polizei sind.

(195) Der Bf. brachte vor, die Militärkammer des Berufungsgerichts wäre wegen der Mitgliedschaft eines aktiven Armeeoffiziers nicht unabhängig. [...]

(196) [...] Das militärische Mitglied der Kammer [...] ist in seinem richterlichen Amt keiner militärischen Befehls- oder Disziplinargewalt unterworfen. Seine funktionelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entspricht jener der zivilen Richter. Angesichts dessen ist der GH bereit zu akzeptieren, dass die Militärkammer ausreichende Garantien in Hinblick auf Art. 2 EMRK bietet.

Effektivität der Untersuchung

(201) Die Militärkammer des Berufungsgerichts Arnheim war aufgerufen zu entscheiden, ob Leutnant A. entsprechend den Anweisungen der zuständigen Autorität gehandelt hatte. Seine Instruktionen über die Anwendung von Gewalt, wie sie auf dem Merkblatt für Soldaten dargelegt wurden, beinhalteten folgende Regeln: »Wenn Sie das Feuer eröffnen, dürfen Sie nur gezielte Schüsse abgeben, dürfen nicht mehr Schüsse abfeuern als notwendig und müssen das Feuer einstellen, sobald es die Situation erlaubt.«

(202) Die Militärkammer des Berufungsgerichts beschränkte sich darauf, die Tatsache festzustellen, dass Leutnant A. irrtümlich auf »friendly fire« von der anderen Straßenseite reagierte und festzuhalten, dass er aus diesem Grund berechtigt war, sich auf putative Selbstverteidigung zu berufen. Es befasste sich aber nicht mit Aspekten, die die Frage betrafen, ob Leutnant A. innerhalb der Grenzen seiner Instruktionen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der angewendeten Gewalt handelte. Insbesondere wurden keine Feststellungen dazu getroffen, ob mehr Schüsse abgegeben wurden als notwendig war und ob das Feuer eingestellt wurde, sobald es die Situation zuließ.

(203) Eine angemessene Beurteilung [...] hätte nach Ansicht des GH von der Militärkammer verlangt, Zugang zu den offiziellen Aufzeichnungen der Befragung der Mitglieder der ICDC durch die Militärpolizei zu haben. Das Fehlen dieses Dokuments im Akt des Berufungsgerichts beeinträchtigte die Effektivität der Untersuchung des Falls erheblich.

(206) Der Bf. wies auf die Verspätung bei der Befragung von Leutnant A. nach dem Vorfall hin, während der dieser nicht von anderen Zeugen getrennt wurde. [...]

(207) Leutnant A. wurde erst befragt, als Personal der Militärpolizei bereits seit sechs Stunden vor Ort war. Obwohl es keine Hinweise auf ein Fehlverhalten seinerseits (oder seitens eines anderen niederländischen Soldaten) gibt, hätte ihm eine solche Zeitspanne ausreichende Gelegenheit gegeben, sich mit anderen abzusprechen, um die Wahrheit zu verzerren, falls er dies im Sinn gehabt hätte.

(208) [...] Der GH erachtet die bloße Tatsache, dass keine angemessenen Schritte unternommen wurden, um die Gefahr einer solchen Verabredung zu mindern, als Versäumnis hinsichtlich der Effizienz der Untersuchung.

(209) Der Bf. brachte vor, dass Leutnant A. offensichtlich vom stellvertretenden Kommandanten der ICDC eine Liste der Namen jener Mitglieder der ICDC erhielt, die ihre Waffen benutzt hatten, sowie die Zahl der jeweils abgegebenen Schüsse.

(210) Die Tatsache, dass Leutnant A. diese Liste erlangen konnte, wirft für sich kein Problem auf. Bis der Kommandant der Kompanie eintraf, war er der ranghöchste Offizier der Koalitionsarmee vor Ort und zudem nicht nur für die niederländische Patrouille verantwortlich, sondern auch für das anwesende Personal der ICDC. Folglich war es die Pflicht von Leutnant A., Maßnahmen zur Erleichterung der Ermittlungen zu ergreifen.

(211) Diese Liste hätte jedoch, nachdem sie verfügbar war, dem Akt beigegeben werden müssen. Die darin enthaltenen Informationen hätten sich als hilfreich erweisen können, insbesondere im Vergleich zu den Aussagen der Mitglieder der ICDC selbst. Der GH erachtet die Ermittlungen in diesem Punkt als unzureichend.

(212) Der Bf. rügte die Umstände der Autopsie und den daraus resultierenden Bericht [...].

(213) Die Autopsie wurde anscheinend in Abwesenheit eines qualifizierten niederländischen Beamten durchgeführt. Über die Qualifikation des irakischen Pathologen, der sie vornahm, ist nichts bekannt.

(214) Überdies wies der Bericht des Pathologen ernste Mängel auf. Er war extrem kurz, nannte keine Details und enthielt nicht einmal Fotos.

(215) Es scheint nicht, dass alternative Vorkehrungen für die Autopsie in Erwägung gezogen wurden. So scheint es etwa nicht unwahrscheinlich, dass eine der beiden Besatzungsmächte oder vielleicht eine andere der Koalitionsmächte über Einrichtungen und qualifiziertes Personal verfügt hätte.

(216) Der GH stellt daher fest, dass die Ermittlungen auch in dieser Hinsicht mangelhaft waren.

(217) Der Bf. kritisierte das Fehlen eines detaillierten Berichts über eine Untersuchung der Kugelteile. [...]

(218) Wie der GH feststellt, wurden [...] Kugelfragmente im Körper von Herrn Azhar Sabah Jaloud gefunden. Die niederländischen Ermittler scheinen jede Spur dieser Objekte verloren zu haben.

(219) Egal ob die Kugelfragmente geeignet waren, nützliche Informationen zu liefern oder nicht, findet es der GH inakzeptabel, dass sie nicht aufbewahrt und unter angemessenen Bedingungen – wenn nötig in den Niederlanden – untersucht wurden.

(220) Auch aus diesem Grund war die Ermittlung unangemessen.

Beteiligung des Bf. an der Untersuchung

(221) Der Bf. behauptet, dass keine Bemühungen unternommen wurden, die Angehörigen des Verstorbenen zu kontaktieren.

(224) [...] Der GH erachtet es als erwiesen, dass dem Bf. auf Antrag Zugang zu den Ermittlungsakten gewährt wurde. Tatsächlich war er in der Lage, sich an den GH zu wenden. Der Zugang zu den Akten war auch ausreichend, um ihm die Beantragung der Strafverfolgung von Leutnant A. zu ermöglichen [...].

(225) Der GH sieht keinen Hinweis darauf, dass das Verfahren in dieser Hinsicht mangelhaft gewesen wäre.

Schlussfolgerung

(226) Der GH ist bereit, angemessene Zugeständnisse für die relativ schwierigen Bedingungen, unter denen die niederländischen Armeeangehörigen und Ermittler arbeiten mussten, zu machen. Insbesondere muss anerkannt werden, dass sie in einem fremden Land tätig waren, das nach Kampfhandlungen wieder aufgebaut werden musste, dessen Sprache und Kultur ihnen fremd waren und dessen Bevölkerung [...] bewaffnete feindliche Elemente beinhaltete.

(227) Dennoch muss der GH zu dem Schluss kommen, dass die Untersuchung der Umstände des Todes von Herrn Azhar Sabah Jaloud aus den folgenden Gründen nicht den von Art. 2 EMRK geforderten Standards entsprach: Erstens wurden Dokumente mit wichtigen Informationen den Justizbehörden und dem Bf. nicht zugänglich gemacht [...]. Zweitens wurden keine Vorkehrungen getroffen, um Leutnant A. an einer Verabredung mit anderen Zeugen vor seiner Einvernahme zu hindern. Drittens wurde kein Versuch unternommen, die Autopsie unter Bedingungen durchzuführen, die einer Untersuchung der möglichen strafrechtlichen Verantwortung eines staatlichen Organs entsprochen hätte, außerdem war der Bericht unzureichend. Viertens wurde wichtiges Beweismaterial – die aus dem Körper entfernten Kugelfragmente – unter unbekannten Umständen verlegt. Es kann nicht festgestellt werden, dass diese Versäumnisse unvermeidbar gewesen wären, selbst unter den besonderen Umständen, die zur gegenständlichen Zeit im Irak herrschten.

(228) Diese Versäumnisse führen den GH zur Feststellung einer Verletzung von Art. 2 EMRK in seinem prozeduralen Aspekt (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richterin Berro-Lefevre und der Richter Casadevall, Šikuta, Hirvelä, López Guerra, Sajó und Silvis).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 25.000,– für immateriellen Schaden; € 1.372,06 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bankovic u.a./B u.a. v. 12.12.2001 (ZE der GK) = NL 2002, 48 = EuGRZ 2002, 133

Issa u.a./TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 286

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463

Al-Skeini/GB v. 7.7.2011 (GK) = NL 2011, 219

Al-Jedda/GB v. 7.7.2011 (GK) = NL 2011, 223

Catan u.a./MD und RUS v. 19.10.2012 (GK) = NL 2012, 335

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.11.2014, Bsw. 47708/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 467) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_6/Jaloud.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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